Bin Laden schaut CNN und steht auf Whitney Houston
Zum fünften Jahrestag der Anschläge vom 11.9. wird deutlich, wie wenig über den Terrorführer bekannt ist, dafür gedeihen die Spekulationen
Es gibt wohl kaum einen Mann, nach dem stärker gefahndet und der bekannter ist, als Osma bin Laden. Vergeblich wurde er bereits unter US-Präsident Clinton in Afghanistan bombardiert, nachdem sein Satellitentelefon benutzt wurde. Eine Geheimdiensteinheit wurde auf ihn angesetzt, um ihn zu jagen. Dann kam nach dem 11.9. der Krieg der USA gegen das Taliban-Regime, das Bin Laden nicht ausliefern wollte. Der al-Qaida-Chef flüchtete angeblich in die Höhlen von Tora Bora und verschwand dann. Seitdem ist er untergetaucht.
Obgleich 25 Millionen Dollar Preisgeld auf Hinweise von der US-Regierung ausgesetzt wurden, die zur Festnahme des schon mythische Dimensionen angenommenen islamistischen Terrorschefs führen, scheint er noch immer irgendwo zu leben, was hin und wieder Video- und Audio-Botschaften dokumentieren. Der geistige Terrorchef ist mit den aus vielen islamischen Ländern kommenden und so bereits international organisierten Mudschaheddin groß geworden, die von der CIA und dem pakistanischen Geheimdienst im Kampf gegen die russischen Besatzer aus dem damaligen Reich des Bösen unterstützt wurden. Davon redet man allerdings lieber nicht in den Reihen der Bush-Regierung, die so tut, als wären al-Qaida oder allgemein das Phänomen des islamistischen Terrorismus mitsamt dem ihm zugeschriebenen Hass auf die westliche Freiheit vom Himmel oder eher aus der Hölle gefallen. Zeitweise wurde Bin Laden von der US-Regierung und Medien als der persönliche Kontrahent von US-Präsident Bush aufgebaut, der ständig darüber brütet, wie er seine straff geführte Truppe und seine Tausende von Schläfern, die über die ganze Welt verstreut sind, zum nächsten Anschlag auf die USA führen kann.
Der nach dem Afghanistan-Krieg und der vergeblichen Jagd auf Bin Laden dann als nächster Gegenspieler des mächtigsten Manns der Welt aufgebaute Diktator Saddam Hussein wurde nach dem erfolgten Einmarsch in den Irak gedemütigt in einem Erdloch gefangen genommen. Der darauf folgende Böse, der den Feind der guten Macht repräsentierte, war al-Sarkawi, der schließlich auch, verraten und verkauft, in einem durch Präzisionsbomben zerstörten Haus endete. Doch der oberste und erste Böse ist noch immer am Leben, wie es scheint, auch wenn sich die nach dem 11.9. zentral gesteuerte Terrororganisation al-Qaida eher als Projektion staatlicher Macht erwies und sich schließlich in einem Internet-ähnlichen Netzwerk von Netzwerken auflöste, das flach, unverbunden und dezentral ist, also eigentlich nicht als Organisation existiert, sondern eher als Ideologie, die sich durch Anschläge und Propaganda verbreitet, nicht zuletzt aber auch durch die politischen und militärischen Interventionen des Westens.
Zwar wird, wenn es um die Schilderung großer Bedrohungen geht, immer noch gerne von al-Qaida gesprochen oder jeder Gruppierung versucht, Verbindungen zu al-Qaida nachzuweisen, doch als Organisation dürfte al-Qaida, wenn es sie jemals in dem im Westen beschriebenen Sinne gegeben hat, mittlerweile bedeutungslos geworden sein. Al-Qaida ist, ebenso wie Bin Laden oder al-Zawahiri, allerdings zu einem Symbol für den islamistischen Terrorismus geworden. Gelegentlich werden noch Reden oder Videobänder der zwei al-Qaida-Führer verbreitet, die sichtlich versuchen, die nicht nur räumlich, sondern auch logistisch und ideologisch verteilte Terrorbewegung zu beeinflussen und auf sich selbst Aufmerksamkeit zu lenken.
Zum 5. Jahrestag der Anschläge vom 11.9. wird auch Bin Laden wieder interessanter. Dazu kommen auch so exotische Geschichten wie die aus der Autobiographie „Diary of A Lost Girl“ von Kola Boof, die behauptet, lange Zeit für die Sudanesische Befreiungsarmee gearbeitet zu haben und 1996 in Marokko ein paar Monate gegen ihren Willen Bin Ladens Geliebte gewesen zu sein. Harper’s hat einen Auszug mit der Bin Laden-Episode aus der Autobiographie von Boof veröffentlicht, die jetzt in Kalifornien lebt und schon einige Bücher geschrieben hat. In einem Interview erzählt sie, Bin Laden sei damals ein „begnadeter Poet“ gewesen, der gut sprechen konnte und sensibel war, aber auch gewalttätig. Er habe sie geschlagen und sei tyrannisch mit seinen Begleitern umgegangen. Er sei vom Sex verwirrt, aber auch süchtig nach ihm. Weil sie eine Schwarze und damals nicht muslimisch war, habe er sie als Nicht-Frau behandeln können, sagte sie in einem Gespräch. Aus Angst habe sie ihn in Marrakesch, nachdem er sie in ihrem Hotelzimmer aufgespürt hatte, verführt (in Interviews sagt sie hingegen, er habe sie vergewaltigt), später habe er sie von seinen Männern in ein anderes Hotel verschleppen lassen. Sie erzählt auch er habe mitunter Rock-Musik gehört, Marihuana geraucht, sie nackt für sich tanzen lassen und vor allem von Whitney Houston geschwärmt.
Keiner weiß, ob die Geschichten stimmen. Peter Bergen, auch ein Bin Laden-„Experte“, der ein Buch über ihn geschrieben hat, erklärt, Bin Laden habe sich nie in Marokko aufgehalten. Zudem macht er sich über Boof lustig, weil sie auch eine Zusammenkunft im Jahr 1996 mit Bin Laden, Zawahiri, Abdullah Azzam und Sayyid Qutb schildert. Azzam ist 1989 getötet worden, Qutb, der als einer der Begründer des modernen islamischen Fundamentalismus gilt und mit der Muslimischen Bruderschaft in Ägypten verbunden war, starb bereits 1966. Nafisa Goma, Verleger der Autobiographie von Boof, eilte seiner Autorin zur Hilfe, kündigte eine Verfilmung des Buches an und berichtete Erstaunliches:
Concerning Peter Bergen's comments about Kola Boof's autobiography---we explicitly and categorically OBJECT to his "lie" that the people mentioned in Ms. Boof's book are dead.
In fact, we happen to know they're very much alive, and at a later date, will use that information to discredit and humiliate Mr. Bergen in retaliation for his diligent and uncalled for attacks on Ms. Boof.
We're also excited about the motion picture being planned about Ms. Boof's book, and though Kola is not happy with the casting, we are excited that such a major star as Janet Jackson may be taking on the role.
Though we can understand Mr. Bergen's consternation, we are greatly saddened by his lack of research and assuredness when it comes to the experiences of Kola Boof and Osama Bin Laden.
Auch Bin Laden-Experte Bergen, der für CNN zur Dokumentation In the Footsteps of bin Laden beigetragen hat, weiß angeblich einiges über den untergetauchten Bin Laden. Er führe in Pakistan ein „langweiliges“ Leben: „Ich denke, er lebt in einem Haus und geht nicht sehr viel herum … Er hat zwei Leibwächter und verbringt viel Zeit damit, BBC-Radio zu hören und CNN zu schauen. Vielleicht hat er eine Internetverbindung. Wenn man seine Äußerungen liest, dann ist er gut über die aktuellen Ereignisse informiert.“ Noch mehr weiß man angeblich bei Debkafile. Hier wird nach Informationen der „exklusiven Antiterror-Quellen“ gemunkelt, die irgendwie die Kommunikation über geheime Websiten mitbekommen sollen, Zawahiri versuche Bin Laden zu überreden, Afghanistan zu verlassen und in den Irak zu gehen, um dort den Dschihad zu stärken.
Die US-Geheimdienste gingen davon aus, dass er sich in Pakistan aufhalte, und zwar in Chitral, im Norden Pakistans, an der Grenze zu Afghanistan und China. Das glaube man aus der Analyse von Bäumen schließen zu können, die im Hintergrund auf einem der Videos Bin Ladens zu sehen sind. Al-Zawahiri soll sich in Waziristan aufhalten. Bin Laden soll mit den übrigen al-Qaida-Mitgliedern über ein System von Kurieren kommunizieren. Manche habe man festnehmen können.
Aber offensichtlich ist erstaunlich wenig über Bin Laden, seine Tätigkeit und seinen Aufenthaltsort bekannt. Michael Scheuer, von 1996 bis 1999 Leiter des CIA-Teams, das Jagd auf Bin Laden machte, ist der Überzeugung, dass die USA „außerordentliches Glück“ haben müssten, um ihn fangen zu können. Der von Bergen befragte pakistanische Botschafter in den USA ist hingegen der Überzeugung, der al-Qaida-Führer befinde sich in Afghanistan. In Chitral könne er nicht sein, dort wäre er schon längst aufgefallen. Die US-Geheimdienste glauben allerdings, dass Bin Laden in Pakistan gedeckt werde. Welche Rolle er wirklich spielt, ist auch nicht bekannt (Das Verblassen eines Medienstars). Ein US-Geheimdienstmitarbeiter erklärte, er habe zumindest einen „ikonischen Wert: Stalin und Hitler konnten nicht zu einer Milliarde Menschen sprechen. Bin Laden kann ein Band veröffentlichen, am Tag danach wird es von einer Milliarde Menschen gehört.“
Nach einer von CNN in Auftrag gegebenen Umfrage gehen 74 Prozent der Amerikaner davon aus, dass Bin Laden den nächsten Angriff auf die USA plane, 30 Prozent sind der Überzeugung, dass er damit erfolgreich sein werde. Fast 60 Prozent meinen, die USA könnten den Terrorchef irgendwann doch noch fangen. Aber hier hat sich in den Jahren doch schon Skepsis ausgebreitet. 2001 glaubten daran noch 76 Prozent.