Black Box Amri: Hatte ein zweiter V-Mann Kontakt zu dem Attentäter?

Grafik: TP

Im Untersuchungsausschuss in Berlin treten immer mehr Widersprüche auf - Tabu um unbekannte "V-Person" - Amri doch kein Einzeltäter?

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Puzzlestück für Puzzlestück wird eine zweite Wirklichkeit hinter der offiziellen Darstellung des LKW-Anschlages auf dem Breitscheidplatz von Berlin sichtbar. Am 19. Dezember 2016 starben zwölf Menschen. Alleinverantwortlich, so die Version der Bundesanwaltschaft, der tunesische Islamist und IS-Sympathisant Anis Amri.

Die Zweifel daran werden auch nach der jüngsten Sitzung des Untersuchungsausschusses (UA) in Berlin stärker: Gab es eine zweite V-Person mit Kontakt zu Amri? Welche Rolle spielte Bilel Ben Ammar? War Amri Teil einer Gruppe? Welche Verbindungen hatte er selber zu den Sicherheitsdiensten?

"VP 01"

In den Fokus der Ermittler war Amri durch eine V-Person (VP) des Landeskriminalamtes von Nordrhein-Westfalen (LKA NRW) geraten. Dieser Informant, der unter der Bezeichnung "VP 01" oder "Murat" gehandelt wird, bewegte sich im Umfeld einer islamistischen Gruppe um die Person Abu Walaa. Die Ermittlungen dazu führte die Ermittlungskommission (EK) Ventum des LKA von NRW.

Die Ermittler hatten mehrere V-Personen in der Abu Walaa-Gruppe im Einsatz, wie sich jetzt während der Sitzung des UA vom 16. Februar im Abgeordnetenhaus durch die Befragung des Leiters der EK Ventum, Kriminalhauptkommissar (KHK) M., ergab. Um wen und um wie viele VPs es sich handelte, ist nicht bekannt. Das könnte für die weiteren Aufklärungen aber noch eine Rolle spielen.

Laut einem Dritten soll "VP 01 Murat" Amri zu einem Anschlag angestachelt haben. Dieser Dritte könnte eine solche VP gewesen sein. Die Frage, was die VPs über die Anschlagspläne Amris möglicherweise wussten, ist bisher nicht beantwortet und bleibt auf der Tagesordnung. Zur "VP 01" hat der Generalbundesanwalt ein absolutes Auskunftsverbot erlassen. (Siehe TP v. 28.1.2018: Was wollten die Behörden mit Amri?).

Die VP 01 ist im Prozess gegen die Abu Walaa-Gruppe vor dem Oberlandesgericht Celle ein Zeuge der Anklage.

"Murat" hatte engen Kontakt zu Amri. Mindestens einmal fuhr er ihn im Auto nach Berlin. Viele Fragen knüpfen sich an eine andere Fahrt Amris in die Hauptstadt. Am 18. Februar 2016 setzte er sich in Dortmund in einen Flix-Fernbus und fuhr nach Hannover. Weil sein Mobiltelefon überwacht wurden, registrierten das die Ermittler, so der Zeuge KHK M.

Seine mehrstündige Befragung im Ausschuss erbrachte eine ganze Reihe neuer Erkenntnisse. In Hannover stieg Amri in einen anderen Flixbus Richtung Berlin um - und zwar unter den Augen von benachrichtigten LKA-Beamten aus Niedersachsen. Auch die Kollegen in Berlin wurden informiert.

Was dann nach der Ankunft des Busses mit Amri in der Hauptstadt passierte, ist Gegenstand einer anhaltenden Kontroverse und erfährt immer weitere fragwürdige Details. Der 18. Februar 2016 erscheint wie ein Schlüsseldatum des Falles Amri. Das LKA NRW wollte, dass der "Gefährder" in Berlin weiterhin verdeckt überwacht wird.

"Weißer Fleck" Berlin

Die Stadt sei für die Ermittler ein weißer Fleck gewesen. Amri habe sich sehr konspirativ verhalten. Zunächst sollte sein Kontaktfeld aufgeklärt werden. Man wollte unter anderem wissen, ob er sich mit Auftraggebern trifft, so der Leiter der EK Ventum. Sie hätten einen Anschlag für möglich gehalten - und zwar eher in Deutschland als im Ausland, und auch nicht etwa in Dortmund, sondern wenn, dann in Berlin.

In Berlin wurde Amri nach seiner Ankunft von der Polizei kontrolliert, kurzzeitig in Gewahrsam genommen, erkennungsdienstlich behandelt, seine Personalien festgestellt, sein Handy konfisziert. Das war das Gegenteil dessen, was das LKA NRW wollte. Wer das warum entschieden hat, ist bisher nicht klar. Damals, so M., sei die gesamte Führungsspitze des LKA in Berlin nicht erreichbar gewesen.

Tatsächlich gab es an jenem Tag im LKA eine Fortbildung für Führungskräfte, wie nach M. der Zeuge D. vom LKA Berlin bestätigte. Dass die Verantwortlichen aber nicht erreichbar gewesen sein sollen, schloss er aus. Selbstverständlich seien die Mobiltelefone immer an.

Fussilet-Moschee

Nach seiner Freilassung begab sich Amri zur Fussilet-Moschee, nicht ohne unterwegs seine Überwacher "abgeschüttelt" zu haben, so der Zeuge M. weiter. Ein Stadtfremder soll die örtliche Polizei abgehängt haben? Auch das schwer nachzuvollziehen.

In der Moschee nahm Amri ein neues Handy mit anderer SIM-Karte auf und rief umgehend mehrere Kontaktpersonen in Nordrhein-Westfalen an. Er informierte sie, dass er festgenommen worden war und forderte sie auf, ihre Handys wegzuwerfen. Die von Amri benutzte neue SIM-Karte war eine von mehreren, die das LKA in NRW überwachte. Doch wie und wann war sie nach Berlin und in die Fussilet-Moschee gekommen?

Die offene Kontrolle durch die Berliner Polizei hatte die Taktik des LKA NRW grundlegend zerstört. Amri war gewarnt und warnte seinerseits Kontaktleute. Aus den Akten der EK Ventum ist folgendes Zitat bekanntgeworden: "Entgegen der Absprachen wurde Amri durch Kräfte des LKA Berlin offen kontrolliert. Hierdurch Gefährdung des weiteren Einsatzes der VP." Wer war mit dieser VP gemeint?

Die "VP 01 Murat" nicht, wie der für diese Quelle Zuständige, eben KHK M., nun im Ausschuss erklärte. Ob Amri am 18. Februar 2016 im Fernbus nach Berlin "alleine reiste", wisse er nicht, so M., aber: "Von uns saß keine VP neben ihm im Bus." Und auf Nachfrage sagte er, ob eine V-Person einer anderen Behörde dabei war, darüber habe er "keine Informationen". Zu den Protokollen der Telefonüberwachung Amris durfte er sich nicht äußern, da sie das Verfahren gegen die Abu Walaa-Gruppe in Celle berühren.

Begleiter "Bilel"?

Kam Amri alleine in Berlin an und war er etwa selber die unbekannte VP? Dem widerspricht wie schon in der letzten UA-Sitzung der frühere Chef des Staatschutzes von NRW nun auch der Zeuge M. Sie hätten "nie die Absicht gehabt, Amri zur Quelle zu machen".

Oder hatte Amri doch einen Begleiter? Die Abgeordneten sind in den Akten auf eine Stelle gestoßen, die Rätsel aufgibt. Amri war festgenommen und sein Handy beschlagnahmt worden. Nun liest man: "Den PIN-Code des Handys kannte Herr Bilel nicht genau." War Amri also in Begleitung eines gewissen "Bilel"? Wenn ja, dann könnte es sich um die Person Bilel Ben Ammar gehandelt haben. Sie spielt im Amri-Komplex eine wesentliche Rolle. Und tatsächlich führen immer mehr Spuren zu ihr.

Auf Nachfrage bestätigte M., der LKA-Mann aus NRW, dass Amri auf seiner Fahrt von Dortmund nach Berlin in Hannover eine Person getroffen hat, die "Bilel" gewesen sein könnte. Ob "Bilel" dann mit Amri nach Berlin fuhr, daran könne er sich nicht erinnern.

War Bilel Ben Ammar vielleicht jene "VP" aus Nordrhein-Westfalen, deren Einsatz durch die offene Kontrolle der Polizei in Berlin gefährdet wurde? Sollte sich das bewahrheiten, würde der Fall schlagartig eine neue Dimension bekommen. Denn Bilel Ben Ammar war an der Seite Amris quasi vom ersten bis zum letzten Tag seines Aufenthaltes in Deutschland.

Wie aus dem Behördenzeugnis des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) vom Januar 2016 hervorgeht, reiste Amri zusammen mit Ben Ammar und Habib S. im Juli 2015 nach Deutschland ein.

Die Form des BfV-Behördenzeugnisses wurde gewählt, um zu kaschieren, von welcher Behörde die Information kam. Es war das LKA in Düsseldorf.

"Eisbär"-Verfahren

Ben Ammar gehörte zu einer Gruppe verdächtiger Tunesier, gegen die das Bundeskriminalamt (BKA) wegen Vorbereitung von Anschlägen ermittelte (EG "Eisbär"). Laut KHK M., dem Chef der EK Ventum, war Ben Ammar "die Schnittstelle" zwischen dem "Eisbär"-Verfahren und ihrer Beschäftigung mit Amri. Ben Ammar habe sich auch in Nordrhein-Westfalen aufgehalten.

Am Tag vor dem Anschlag traf sich Amri mit ihm in Berlin. Und Ben Ammar hatte bereits im Februar 2016 vom Breitscheidplatz in Berlin, dem späteren Tatort, Fotos gemacht. Nach dem Anschlag liefen gegen ihn, wie man erst Ende 2017 erfuhr, Mordermittlungen. Er wurde vorläufig festgenommen, doch dann am 1. Februar 2017 unverhofft nach Tunesien abgeschoben.

Obleute aller Fraktionen schweigen

Auffällig ist an diesem Sitzungstag im Abgeordnetenhaus, wie zurückhaltend sich die Ausschussmitglieder gegenüber der Frage nach der unbekannten "VP" aus NRW, deren Einsatz durch die Aktion in Berlin am 18. Februar 2016 "gefährdet" gewesen sei, verhalten. Im öffentlichen Teil der Sitzung halten sie dem Zeugen M. die entsprechende Stelle in den Akten nicht vor und wollen nicht wissen, was es mit dieser VP auf sich hatte. Auf die Nachfrage in der Pressekonferenz, ob sie den Zeugen in nicht-öffentlicher Sitzung damit konfrontiert hätten, schweigen alle Obleute aller Fraktionen.

Um die "VP 02", wie man sie nennen könnte, wird ein regelrechtes Tabu errichtet. Das ist weder vom parlamentarischen Auftrag des UA gedeckt, noch vom überragenden öffentlichen Interesse an der Aufklärung des Anschlages vom 19. Dezember 2016.

Mit der Personalie Bilel Ben Ammar stellt sich aber auch die Frage neu, ob Amri tatsächlich nur ein Einzeltäter war, wie es die Bundesanwaltschaft darstellt, oder doch Teil einer Täter- oder Unterstützergruppe in Deutschland. Kontakte zur Abu Walaa-Gruppe , zur "Eisbär"-Gruppe um Ben Ammar oder zur Fussilet-Moschee, die nach dem Anschlag behördlich geschlossen wurde.

Am 15. Februar 2018 begann vor dem Kammergericht Berlin ein Prozess gegen vier Angeklagte wegen Unterstützung der Terrororganisation IS ("Islamischer Staat"), die sich in der Fussilet-Moschee kennengelernt und radikalisiert haben sollen. Hinzu kamen Komplizen bei seinen Drogengeschäften - Anis Amri war alles andere als ein Einzelkämpfer. Und Bilel Ben Ammar könnte einer der Mittäter gewesen sein. Wenn er dann noch die "VP 02" war, wäre eine Sicherheitsbehörde unmittelbar in den Anschlag verstrickt.

"War Amri Einzeltäter oder Teil eines Netzwerkes?", wollte der Ausschuss auch vom Leiter EK Ventum wissen. Das sei schwer zu beantworten, antwortete der und ergänzte: "Dazu müsste ich Verfahrenserkenntnisse preisgeben." Sprich: Erkenntnisse aus den Ermittlungen gegen die Abu Walaa-Gruppe, gewonnen auch durch die V-Personen des NRW-LKA. Diese Einschränkung machte er ebenso für die Fragen geltend, welche Wohnungen Amri in Berlin und mehreren Städten in Deutschland benutzt habe, was seine Handydaten ergaben - und für alles, was mit "Bilel" zu tun hat.

Dann sagte Kriminalhauptkommissar M. aber noch: "Wir haben vermutet, dass Amri kein Lonely Wolf war, sondern Leute um sich scharte." Und zwar in einer derart zielstrebigen Weise, dass die Ermittler anfangs selber einen Verdacht hegten: "Das ist eine Quelle." Dass da jemand kommt und schon überall Kontakte hat, das sei ihnen "spanisch" vorgekommen. Sie hätten daraufhin bei allen Dienststellen Informationen eingezogen, doch alle hätten abschlägig beschieden: "Das ist keine Quelle."

Quelle eine ausländischen Nachrichtendienstes?

War Amri vielleicht Quelle eine ausländischen Nachrichtendienstes? Ein Abgeordneter zitierte einen Bericht des Magazin Focus, nach dem Anschlag seien auf Amris Handy Nachrichten einer Person angekommen, die Informant des spanischen Inlandsgeheimdienstes gewesen sein soll.

Dazu musste der Zeuge passen.

Dafür erwähnte er eine weitere Einzelheit, die, sollte sie zutreffen, der Aufklärung bedürfte. Anis Amri wurde von der EK Ventum zunächst als "Nachrichtenmittler" geführt, um durch ihn Informationen über die Beschuldigtengruppe von Abu Walaa abzuschöpfen. Doch wegen des "intensiven und hohen Personalbedarfs" sei Amri am 1. Juni 2016 aus der EK Ventum herausgenommen und in eine "weitere Kommission verlagert" worden. Deren Leiter habe dann die Absprachen mit den Kollegen in Berlin geführt. Eine eigene "EK Amri" sozusagen? Das wäre neu.

"Hohe Schlagzahl"

Je widersprüchlicher der Fall Amri wird, je mehr sich "verdichtet, dass das kein normaler Fall war", (Stephan Lenz, CDU) umso gewichtiger wird die Frage: Was wurde im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) über die Person gesprochen und vereinbart? Kein zweiter "islamistischer Gefährder" war so oft Thema in dem Gremium, wie Amri. Allein im Februar 2016 viermal.

So eine "hohe Schlagzahl" sei selten und die "Ausnahme" gewesen, so der Zeuge D., der als Verbindungsbeamter des LKA Berlin im GTAZ fungiert. Warum Amri ab Herbst 2016 aber im GTAZ keine Rolle mehr gespielt hat, kann er nicht erklären.

Die Antworten sowohl von D. als auch vom Zeugen M., der ein paar Mal mittels Video-Zuschaltung an GTAZ-Sitzungen teilnahm, waren eher oberflächlich und allgemeiner Art. Die Einschätzung von Amris Gefährlichkeit soll einvernehmlich, die mögliche Übernahme des Verfahrens durch das BKA keine tiefere Debatte Wert gewesen sein. Wo es hätte konkret werden müssen, verwies der GTAZ-Verbindungsmann auf Geheimhaltungsvorschriften: "Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch". Nachlesbare substanzvolle Protokolle gibt es im GTAZ nicht oder sind ebenfalls eingestuft.

"Eine hinreichende, zufriedenstellende Befassung im GTAZ war nicht optimal gewährleistet", so der Abgeordnete Frank Zimmermann (SPD) in der Presserunde. Sollte das zutreffen, muss man sich fragen, was diese Institution soll. Allerdings wird man als Beobachter den Eindruck nicht los, dass um das GTAZ eine Sichtschutzmauer gezogen wird. Wie die Hierarchien genau verlaufen und mit welcher Konsequenz Sachverhalte verhandelt werden, soll offensichtlich nicht bekannt werden. Für Benedikt Lux (Bündnis 90/Die Grünen) steht fest: "Die Rolle des BKA und des GTAZ sind in den Vordergrund gerückt."