Blick in den Abgrund

Seite 2: Hausmusik

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Ich klage an beginnt mit dem häuslichen Glück von Heidemarie Hatheyer, deren energiegeladener Auftritt in Hans Steinhoffs Die Geierwally damaligen Zuschauern noch in bester Erinnerung gewesen sein dürfte. Diesmal liebt sie nicht den Jäger Josef, sondern sie ist mit dem Forscher und Pathologieprofessor Thomas Heyt verheiratet. Er wird von Paul Hartmann verkörpert, den man vorher in der Titelrolle von Liebeneiners Propagandaopus Bismarck gesehen hatte (das ist der Film, mit dem Liebeneiner Goebbels bewies, dass auf ihn Verlass war). Damit ist gleich klar, dass im Hause Heyt die heldenhaften deutschen Menschen wohnen. Heyt ist als Direktor an das Pettenkofer-Institut in München berufen worden. Das soll am Abend groß gefeiert werden. Hanna Heyt fließt schier über vor Glück, das blühende Leben ist sie auch, und Liebeneiner trägt so dick auf, dass man bald ahnt: das kann nicht lange gutgehen.

Hanna hat einen Bruder, den Bankdirektor Eduard Stretter, der sich einst mit dem mittellosen Heyt überworfen hat, weil er der Überzeugung war, dieser heirate Hanna nur wegen ihres Vermögens. Der Karrieresprung des Wissenschaftlers bietet den Anlass zur Versöhnung (noch mehr Glück). Mit Verspätung erscheint der praktische Arzt Bernhard Lang zum Fest. Auch er liebt Hanna, ist seinem Rivalen Thomas unterlegen und trotzdem der Freund des Paares geblieben. Den Hausarzt spielt Mathias Wieman. Ihn kennen die Leser dieser Reihe schon aus Unternehmen Michael, wo er als Major zur Linden den Heldentod stirbt. In Ich klage an erleben wir vor der Feier, wie er dabei hilft, einen gesunden Säugling zur Welt zu bringen und wie er dem Ehepaar Günther sagen muss, dass ihr Kleinkind an Hirnhautentzündung erkrankt ist. Damit wird die Nebenhandlung eingeführt.

Ich klage an

Hanna ist weiter quicklebendig und voller Glück. Aber Liebeneiner sorgt dafür, dass langsam die Schatten überhand nehmen. Fast könnte man meinen, dass draußen vor der Tür ein Krieg tobt und alliierte Bomber im Anflug sind, doch in einem Film wie diesem kommt so etwas natürlich nicht vor. Vielmehr machen sich die versammelten Honoratioren bereit, der vom Freundestrio Hanna, Thomas und Bernhard dargebrachten Hausmusik zu lauschen. Die findet ein jähes Ende, als Hanna wegen Lähmungserscheinungen in der linken Hand nicht mehr Klavier spielen kann. Ein Fußgelenk fühlt sich taub an. Hanna macht sich deshalb keine Sorgen. "Ist das Leben nicht schön?" fragt sie ihren liebenden Gatten nach dem Fest. Nachdem Liebeneiner dergestalt die Fallhöhe etabliert hat, die man für eine Tragödie braucht, kann der Unglücksteil beginnen.

Ich klage an

Auf Thomas’ Drängen lässt Hanna sich von Bernhard untersuchen. Sie betritt die Praxis in dem Glauben, dass sie sich so komisch fühlt, weil sie schwanger ist. Nicht jede Frau würde bei Lähmungserscheinungen an eine Schwangerschaft denken, aber es geht hier weniger um Hannas Befindlichkeiten als darum, die gedankliche Verbindung zu den Günthers und ihrer an Meningitis erkrankten Tochter Trudchen nicht abreißen zu lassen. Liebeneiner wusste viel besser als die meisten anderen NS-Regisseure, wie man das macht, wie man das Politische ganz unmerklich in das Private eindringen lässt, und deshalb wurde er von Goebbels hoch geschätzt.

Ich klage an

Dr. Lang spiegelt Hannas Augenhintergrund. "Blick in den Abgrund", scherzt sie. Doch Lang bleibt ernst, sehr ernst. Er weiß, dass Hanna multiple Sklerose hat. Das sagt er nur Thomas Heyt, der versucht, die Diagnose als "unterbewussten Affekt" des im Werben um Hanna unterlegenen Bernhard ihm und seiner Frau gegenüber wegzuerklären. Das stellt sich zwar als Irrtum heraus, hat aber eine genau berechnete Funktion. Bernhard wird sich bald als entschiedener Gegner der Euthanasie erweisen. Liebeneiner beginnt hier, am Lack des edlen Arztes zu kratzen. Hinter seinem Berufsethos, wird suggeriert, könnten sich persönliche Motive verbergen. Dem ist nicht so, aber etwas bleibt immer hängen. Und mehr wird gar nicht gebraucht. Dr. Bernhard Lang ist die wichtigste Identifikationsfigur des Films. Er wird am Schluss sein Damaskus-Erlebnis haben und ins Lager der Euthanasie-Befürworter überlaufen. Damit der Zuschauer diesen Schwenk mitmachen kann, muss er schon vorher ein paar Zweifel an Langs Position haben. So manipuliert man auf subtile Weise das Publikum.

Fleischklumpen, idiotischer

Lang und Heyt ziehen den Neurologen Prof. Werther zu Rate (Erich Ponto, der Professor "Schnauz" in Die Feuerzangenbowle). Ausgerechnet Werther muss der Mann heißen. So wie der Held von Goethes Briefroman, der sich aus Liebeskummer umbringt. Die Anspielung wird nicht jeder mitkriegen, aber viele eben doch. Ein Film, der so sehr mit Suggestionen arbeitet wie dieser, muss sie streuen, wo er kann. Zwischen Tod und Liebe, wird suggeriert, besteht ein Zusammenhang. Welcher, das wird uns Dr. Heyt noch sagen - in einem Dialog, der so wirkungsvoll ist, weil er von langer Hand vorbereitet wurde.

Ich klage an

Einstweilen jedoch hat Professor Werther das Wort. Seine Diagnose ist noch schlimmer als die von Dr. Lang: "Unheilbare Form … leider!" Heyt teilt uns mit, was das für seine Hanna zu bedeuten hat:

Erst werden die Beine gelähmt sein, nicht wahr, so dass sie nicht mehr gehen kann. Dann werden die Arme gelähmt sein, dass sie gefüttert werden muss wie ein kleines Kind, dann wird die Zunge gelähmt sein, dass sie nur noch lallen kann, dann wird das Atemzentrum versagen … so dass sie monatelang mit Erstickungsanfällen ringt mit ihrer zunehmenden Todesangst, bis sie eines Tages wirklich erstickt, wobei wir nicht sicher sind, ob ihr Scheußlichkeiten, wie Darmlähmungen und so weiter erspart bleiben. - Was kann man tun?

Nicht viel. Professor Werther fällt nur eine Arsenkur ein, mit der der Krankheitsverlauf zu verlangsamen ist. Das verschafft Dr. Heyt etwas mehr Zeit, um in seinem auf die Erforschung des Stoffwechsels spezialisierten Labor den Erreger und eine Kur zu finden. Ein Durchbruch scheint gelungen, als eine mit irgendeiner Substanz geimpfte Labormaus die Beine etwas nachzieht, aber das erweist sich als Irrtum (die Maus wurde durch die Injektion verletzt).

Ich klage an

Im Hause Heyt müssen wir unterdessen Hannas körperlichen Verfall miterleben. Erst sind ein Arm und ein Bein gelähmt, dann das zweite Bein und so fort. Hanna bittet Dr. Lang, ihr das Arsenfläschchen dazulassen, damit sie sich selbst töten kann, wenn ihre Lage unerträglich wird:

Du, ich fürcht’ mich nicht vor dem Tod. Aber ich will nicht so liegen. Jahrelang. Überhaupt kein Mensch mehr. Nur noch ein Fleischklumpen und Thomas eine Qual, wenn ich so verfalle.

Und Thomas eine Qual. Das würden die Ärzte im Film nie sagen, ja nicht mal denken. Also muss Hanna aussprechen, worauf die Argumentation der Euthanasie-Befürworter im Dritten Reich letztlich hinauslief: es geht primär um das (vermeintliche) Wohl der Gesunden, nicht der Kranken. Wenn man sich als Zuschauer vorher, bei den "Scheußlichkeiten, wie Darmlähmungen und so weiter" unwillkürlich fragte, wie man sich in einer solchen Situation als pflegender Angehöriger fühlen würde, wird man da ganz schnell zum Komplizen. Dr. Lang sind solche Überlegungen natürlich fremd. Er weist Hannas Ansinnen empört zurück. "Ein Arzt", sagt er pathetisch, "ist ein Diener des Lebens. Das muss er erhalten um jeden Preis." Sterbehilfe lehnt er ab:

Weil wir nicht wissen, was der Tod ist. Wir wissen auch nicht, was das Leben ist. Das Leben schafft sich den Körper, und der Körper schafft sich den Geist, und die Seele. Solange der Körper lebt, kann noch alles gut werden.

Das ist ein dramaturgisch bedeutsamer Moment. Das Verhältnis zwischen Hanna und Bernhard wird distanzierter, als dieser ihr den Gnadentod verweigert. Gleichzeitig nähert sie sich an Thomas, von dem sie sich entfremdet hatte, weil er so selten zuhause war, wieder an. Sie weiß jetzt nämlich, dass er Tag und Nacht forscht, um sie zu retten. Und Thomas wird sie von ihrem Leid erlösen - mit Gift, weil eine Heilung nicht möglich ist.

An dieser Stelle lässt sich fragen, was das Recht auf einen selbstbestimmten Tod mit der von den Nazis betriebenen Euthanasie zu tun hat? Wo ist der Zusammenhang zwischen Sterbehilfe und der Vernichtung von "lebensunwertem" Leben? Wie lässt sich eine Verbindung herstellen, wo keine ist? Durch Suggestion. Dafür sind die Günthers zuständig. Hanna fällt auf, wie müde Bernhard aussieht. Das liegt daran, sagt er, dass er zwei Nächte am Bett eines an Hirnhautentzündung erkrankten Kindes wachen und um das Leben des kleinen Mädchens kämpfen musste. Hanna meint darauf: "Man kann sich gar nicht vorstellen, dass es auch noch andere Kranke gibt. Komisch - so schlimm geht’s mir ja noch lange nicht." Da wäre schon mal der Vergleich zwischen Hannas Krankheit und der des Kindes. Das ist die Vorbereitung. Später wird Bernhard sagen, dass er Trudchens "Herz mit Injektionen gezwungen" hat, weiter zu schlagen, als wäre es ein Akt wider die Natur gewesen, das Kind zu retten. Bevor der Moment kommen kann, auf den das alles abzielt, muss Hanna jedoch sterben.

Ich klage an

Thomas sieht schließlich ein, dass er das Mittel gegen die multiple Sklerose nicht mehr rechtzeitig entdecken wird. Hanna weiß noch immer nicht genau, was sie für eine Krankheit hat, aber ihr ist klar, dass sie sterben wird. Nachdem sie bei Bernhard keinen Erfolg hatte, bittet sie nun Thomas, ihren Gatten, dass er ihr einen qualvollen Tod ersparen möge:

Wenn ich sehr in Not gerate, dann musst du mir helfen. Du musst mir helfen, dass ich deine Hanna bleiben kann bis zum Ende - und nicht irgendetwas anderes werde - taub und blind und - und idiotisch. Ich könnte es nicht ertragen. […] Versprich mir, Thomas, dass du mich vorher erlöst.

Hannas Siechtum hält sich genau an den von Heyt prognostizierten Krankheitsverlauf (nur das mit der Darmlähmung wird weggelassen). Taub, blind und idiotisch war da nicht enthalten. Warum also jetzt dieser Dialog - in einem Film, dessen Teile meistens ganz präzise auf einander abgestimmt sind? Warum hat Hanna Angst, taub, blind und idiotisch zu werden? Vorläufige Antwort: Weil Liebeneiner es so ins Drehbuch geschrieben hat. Warum, das werden wir noch erfahren.

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