Blick in den Abgrund
Seite 3: Liebestod
Sylke Hachmeister hat ein lesenswertes Buch über den Film verfasst (Kinopropaganda gegen Kranke), durchgezählt und zehn Stellen gefunden, wo "erlösen" vorkommt. Das Wort "helfen" im Sinne von "töten" wird 13mal verwendet. Wenn der Tod direkt angesprochen wird, dann vorzugsweise als Geschenk: "jemandem den Tod geben". Das nimmt ihm seinen Stachel. In Hannas Sterbeszene wird er zum ästhetischen Erlebnis.
Thomas wird nach Hause gerufen, weil Hanna an fürchterlichen Erstickungsanfällen leidet. Er weiß, dass es jetzt Zeit ist. Eigentlich müsste er sich noch einmal vergewissern, dass seine Frau wirklich sterben will. So etwas ist schwer zu spielen und zu inszenieren, und es kann furchtbar in die Hose gehen. Liebeneiner weiß das und lässt es deshalb weg. Es spricht für seine Qualitäten als Regisseur, dass man kaum bemerkt, was fehlt. Schade, dass er sein Talent in den Dienst der Nazis stellte.
Es gibt in diesem Film ein richtiges ärztliches Verhalten (das "Erlösen" der Kranken von ihrem Leid) und ein falsches (das künstliche Verlängern nicht des Lebens, sondern des Leids). Dr. Lang macht es falsch (er zwingt Trudchen zum Weiterleben). Dr. Heyt macht es richtig und schreitet ohne viel Nachfragen zur Tat. In Hannas Schlafzimmer, im ganzen Haus ist es dunkel. Das kommt in Sterbeszenen immer gut. Am Bett der Kranken sitzend, kippt Thomas den Rest vom Arsen in ein Glas und gibt ihr das Gift zu trinken. Der nichts ahnende Bernhard spielt im Nebenraum Klavier. Hanna sieht jetzt wieder so schön wie früher aus. Das ist wie im Vampirfilm, wo die von Dracula gebissene Lucy in alter Schönheit im Sarg liegt, nachdem sie von Van Helsing gepfählt wurde. Kranke Menschen werden in Ich klage an zu Monstern, die man vernichten muss. Aber nur, weil man selbst so human ist.
Damit keine Zweifel aufkommen empfiehlt es sich, die Tat vom Opfer absegnen zu lassen, bevor es stirbt. "Es schmeckt bitter … heute", sagt Hanna über ihre Medizin:
Jetzt bin ich so - ruhig, so glücklich. […] Ich fühl’ mich … so leicht, so glücklich … wie noch nie. … Ich wünschte, es wäre der Tod.
Thomas erwidert: "Es ist der Tod, Hanna." Eine ähnliche Szene gibt es im ersten Exposé von Schweninger. Als der schwerbehinderte Baron von Passow ("das Wrack eines Menschen") merkt, dass ihn seine Frau und Dr. Terstegen - nur zur "Erlösung", versteht sich - vergiftet haben, schreit er hinaus, dass er leben und nicht sterben will. Wer auch angesichts kaum fassbarer Nazi-Gräuel an menschliche Regungen glauben möchte, kann darüber spekulieren, ob sich hier Schweningers Gewissen regte. Möglicherweise gelang es ihm nicht, die Beschreibung des schönen Todes in die Maschine zu tippen, nachdem er im Auftrag der Gekrat zahlreiche zur Vernichtung bestimmte Kranke nach Grafeneck gebracht und dort erfahren hatte, wie das Sterben vonstatten ging. In einem Werbefilm für die Euthanasie konnte das nicht angehen. Liebeneiner blieb immer Profi, ließ Hanna nicht brüllen wie den Baron sondern beseligt sagen: "Wie ich dich liebe, Thomas." Nach weiteren gegenseitigen Liebesbeteuerungen schläft sie sanft hinüber.
Als Thomas seinem Freund Bernhard sagt, dass er Hanna "erlöst" hat, gibt es Streit. Bernhard spricht vom Berufsethos des Arztes und davon, dass er der Kranken die gewünschte Tötung verweigerte, weil er sie liebte. Thomas kontert: "Weil ich sie mehr liebte, darum habe ich es getan." Bernhard, der im Gegensatz zu uns, dem Publikum, nicht mit dabei war, schimpft Thomas einen Mörder und verlässt empört das Haus. Berta, die treue Haushälterin, wird Zeugin der Auseinandersetzung und läuft zu Hannas Bruder, um ihm zu berichten. Stretter hat noch immer Ressentiments gegen seinen Schwager und geht zur Polizei. Da das Publikum die Partei von Thomas Heyt ergreifen soll, wird er von diesem wenig sympathischen, einen alten Groll hegenden Bankier angezeigt - und nicht etwa von Berta, wie in den meisten Inhaltsangaben steht, die ich gefunden habe. Das kann nicht sein, weil Berta die Frau aus dem Volk ist. Und Heyt wird sich am Schluss des Films zum Sprecher des Volkes aufschwingen. Da kann er nicht vorher von diesem angezeigt werden.
Dr. Thomas Heyt ist ein echter Nazi-Held. "Ich bin der Überzeugung", sagt seine Assistentin Dr. Barbara Burckhardt über ihn, "dass nur ein wahrhaft großer Mensch ein wahrhaft großer Forscher sein kann." Und Dr. Heyt ist nicht nur ein großer Forscher, sondern "ein Genie" (Dr. Lang). Also ist er auch ein großer Mensch. Und ein nordischer Mensch, was im Prinzip dasselbe ist. Friedrich Jess listete 1934 in einem für die Hochschule für Politik der NSDAP geschriebenen Text mit dem Titel "Rassenkunde des deutschen Volkes" folgende Eigenschaften des nordischen Menschen auf: selbstlose Hingabe an große Gedanken und hohe Menschheitsziele, Helden- und Führertum, angeborene körperliche Kühnheit und Tapferkeit, Zielbewusstsein, Entschlossenheit, Willenskraft, Urteilsvermögen, kühler Wirklichkeitssinn.
Die körperliche Kühnheit kann so ein Universitätsprofessor im Labor und bei der Vorlesung schwer beweisen, aber dass er sie besitzt, hat schon der junge Thomas demonstriert, als er Eduard Stretter verprügelte, weil der ihn einen "Sozi" nannte. Das muss genügen. Liebeneiner braucht trotzdem ein paar Tricksereien, damit der geniale Doktor ein Held im Sinne der Nazis sein kann. Die selbstlose Hingabe an hohe Menschheitsziele ist ein Problem, wenn einer die Ressourcen seines staatlich finanzierten Labors einsetzt, um sein privates Glück zu retten. Deshalb wird eine Szene eingebaut, in der Dr. Lang Heyts Schwager darüber belehrt, dass der Forscher im Erfolgsfall nicht nur Hanna, sondern "Tausende" heilen wird.
Weil das aber ein Film über das Töten kranker Menschen ist, nicht über deren Heilung, ist der Erfolg ganz ausgeschlossen. Hans Nielsen als Heyts Assistent Dr. Höfer darf sich darum über einige zusätzliche Dialogzeilen freuen, in denen er begeistert davon berichtet, was bei den Forschungen sonst noch Tolles für die Menschheit herauskam, auch wenn die Kur für die multiple Sklerose nicht entdeckt wurde. In dieser Szene erscheint ziemlich unvermittelt Professor Schlüter im Labor. Der alte Herr ist Heyts Mentor und hat am Anfang, bei der Feier, die Tischrede gehalten. Da Liebeneiner das Drehbuch sorgfältig konstruiert hat, kann man hier ahnen, dass der Professor noch eine wichtige Rolle spielen wird. Sonst gäbe es keine Notwendigkeit, an ihn zu erinnern.
Und weil es im deutschen Film immer diese gruseligen Kontinuitäten gibt, tauchte Hans Nielsen, vormals Dr. Höfer in der Euthanasie-Reklame, 1964 als Dr. Kraus in Ein Frauenarzt klagt an wieder auf. Dieter Borsche steht da vor Gericht, weil er Frauen sterilisiert hat (natürlich nur aus ethisch hochstehenden Gründen) und hält ein Plädoyer in eigener Sache, das sich rhetorisch an dem orientiert, was Dr. Heyt in Ich klage an zu Protokoll gibt. Produzent war Atze Brauner, der bis an sein Lebensende behaupten wird, dass er stets auf die strikte Abgrenzung zu den Nazis, deren Personal und deren Gedankengut bedacht war. Seine Phantasie reichte aber nicht mal aus, diese Abgrenzung wenigstens im Titel zu vollziehen. Oder war das Absicht? Die Spekulation auf die Werbewirksamkeit eines Filmtitels, der mit Bedacht den von Liebeneiners NS-Publikumshit variiert? Das wäre dann noch schlimmer.
Der Tod ist die beste Medizin
Dr. Heyt wird also vor Gericht gestellt, weil er seine Frau vergiftet hat - oder, anders formuliert, weil er die dem Nazi-Helden angeborene Tatkraft und Entschlossenheit besitzt (das "Führertum") und weil er dadurch in Konflikt mit den bestehenden Gesetzen geriet. Damit haben wir produktionsgeschichtlich einen interessanten Punkt erreicht. Liebeneiner drehte den Film im Großen und Ganzen von hinten nach vorn: erst die Gerichtsverhandlung, dann die Szenen rund um das an Hirnhautentzündung erkrankte Kleinkind, anschließend Hannas Tod und so fort. Soweit es sich noch ermitteln lässt, kamen Viktor Brack und andere mit dem Euthanasie-Programm befasste Funktionäre aus der Kanzlei des Führers in der ersten Phase der am 21. März 1941 beginnenden (und etwa zwei Monate dauernden) Dreharbeiten besonders häufig zu Besuch ins Atelier. Denn am Anfang entstanden die Teile des Films, die ihnen am wichtigsten waren. Der Rest war die Verpackung. Da wurden die Besuche seltener. Das zeigt, warum die Mörder einen wie Liebeneiner brauchten. Er verstand im Gegensatz zu ihnen, dass die Propagandabotschaft einen Tarnanstrich haben muss, wenn sie wirken soll. Das war das Melo.
Hanna versichert Thomas zum Abschied (nachdem sie weiß, dass er sie vergiftet hat), wie sehr sie ihn liebt. Thomas Heyt sagt in der Verhandlung nur einen Satz ("Ich habe meine Frau sehr geliebt."), dann schweigt er. Mehr ist auch zunächst nicht nötig, denn mit diesem Satz hat er das Thema vorgegeben, unter dem der Prozess steht: Tod und Liebe. Sylke Hachmeister hat wieder durchgezählt und herausgefunden, dass Heyts Tat neunmal direkt und zweimal indirekt mit der Liebe zu Hanna begründet wird. In der Verhandlung treten mehrere Zeugen auf, die aussagen, dass Heyt seine Frau sehr geliebt hat. Sie bereiten den Boden für den Auftritt von Professor Schlüter.
Schlüter ist Thomas’ väterlicher Freund, ein häufiger Gast im Hause Heyt. Er äußert die Vermutung, dass Hanna sich selbst umgebracht hätte, wenn sie dazu noch in der Lage gewesen wäre (ihre Hände waren gelähmt): "Sie war eine besonders lebensvolle, willensstarke, kluge Frau, der eine solche Tat - aus höchster Liebe zu ihrem Manne geboren - wohl zuzutrauen war." Musste es das Wort "geboren" sein? Wenn ich in NS-Filmen solche Sätze höre (es gibt sie oft), frage ich mich immer, wie man strukturiert sein muss, um so etwas zu schreiben (und zu inszenieren). Wenn Hanna ihrem Thomas schon kein Kind schenken konnte, wie anfangs gedacht (die vermeintliche Schwangerschaft war die multiple Sklerose), "gebiert" sie wenigstens, weil krank und eine Last, den Todeswunsch, und der wird ihr vom liebenden Gatten prompt erfüllt. Zynischer geht es kaum.
"Er [Heyt]", führt Professor Schlüter weiter aus, "hat sein Liebstes geopfert, um seinem Liebsten zu helfen." Und weil sich die Nazis gern auf Autoritäten von früher beriefen, den Hauch der Geschichte um sich wehen spürten und historische Kontinuitäten beschworen, wo keine waren, gibt es noch ein Zitat dazu: "Der große deutsche Arzt Paracelsus hat gesagt: ‚Medizin ist Liebe.’ Ich weiß, dass Professor Heyt nur aus Liebe gehandelt hat." Und Liebe ist der Tod. So hatte es Paracelsus vermutlich nicht gemeint. Das Originalzitat lautet, in zeitgemäßes Deutsch übersetzt: "Die beste Arznei für den Menschen ist der Mensch. Der höchste Grad dieser Arznei ist die Liebe." (Daraus wurde das bekannte "Liebe ist die beste Medizin.")
Heyt hat nicht nur Anhänger. Schwager Eduard äußert den Verdacht, dass seine schöne Assistentin auch seine Geliebte ist und er Hanna, die reiche Erbin, aus Geldgier getötet hat. Günstig für den Angeklagten wirkt sich aus, dass die Sachverständigen nicht eindeutig klären können, ob Hanna an der Überdosis Arsen gestorben oder vorher erstickt ist, weil ihr Atemzentrum gelähmt war. Der Zuschauer weiß, wie es gewesen ist, darf der Expertenmeinung jedoch die beruhigende Information entnehmen, dass die Kranke sowieso bald gestorben wäre und ihr der liebende Gatte nur weiteres Leid erspart hat. Das schränkt die Anklage erheblich ein. Es bleiben versuchter Mord und Tötung auf Verlangen.
Alles kommt auf die Aussage von Dr. Lang an. Doch der ist seit Hannas Tod verschwunden und der Vorladung nicht gefolgt. In diesem kritischen Moment lohnt ein Blick in das Lehrbuch für NS-Propagandafilme. Lektion 1: Kontraste. Der nordische Mensch wird erst im Vergleich mit anderen ein rechter Held. Man gebe ihm daher einen zaudernden Charakter bei, der im Gegensatz zu ihm nicht instinktiv weiß, was gut und richtig ist, am Ende der Handlung aber doch. Dieser Charakter muss sympathisch sein, eine echte Identifikationsfigur, damit er das Publikum auf seinem Weg zur Erkenntnis mitnehmen kann. In Ich klage an fällt diese Rolle Dr. Bernhard Lang zu.
Es wird nun also höchste Zeit, dass Dr. Lang endlich begreift, wie recht Dr. Heyt doch hatte. Zu dieser Einsicht verhelfen ihm die Günthers, und damit beginnt der perfideste Teil des Films. Lang war mehrere Monate verreist, um das Sterben und den Tod der geliebten Hanna zu verarbeiten. Als er zurück nach Hause kommt, findet er einen Brief des Ehepaars Günther vor. Nur er könne jetzt noch helfen, steht da. In der Wohnung der Eheleute erfährt er, dass sie das kleine Trudchen, das er in nächtelangem Kampf mit dem Tod gerettet hat, in eine Anstalt geben mussten, wegen der Folgen der Hirnhautentzündung. "Sie ist blind, kann nichts hören und ist ganz idiotisch", sagt Herr Günther voll Bitterkeit. "Jaja. So herrlich haben Sie sie geheilt, Herr Doktor, anstatt so `n armes Wesen ruhig sterben zu lassen." Blind, nichts hören können, ganz idiotisch - das kennen wir schon. So stellt sich Hanna den weiteren Verlauf ihrer Krankheit vor, weil es Liebeneiner so ins Drehbuch geschrieben hat. Am Schluss fügt er zusammen, was er geduldig vorbereitet hat.
Teil 2: "Es wird ein Signal, ein Weckruf sein!"
Im Filmmuseum München findet vom 16. bis zum 18. März 2012 in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung und dem Bundesarchiv das Symposium "Vom Umgang mit Vorbehaltsfilmen" statt. Bei der Diskussion am Samstagabend spricht auch Hans Schmid.
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