Blick in den Abgrund

Die Geierwally

Das Dritte Reich im Selbstversuch, Teil 11/I

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Heute steht einer der infamsten Propagandafilme des Dritten Reiches auf dem Programm. 1943 verlieh Joseph Goebbels dem Regisseur für seine Verdienste die Professorenwürde, am selben Tag wie Veit Harlan (Jud Süß). Trotzdem blieb Wolfgang Liebeneiner nach dem Krieg relativ unbehelligt. Das mag daran gelegen haben, dass der Antisemitismus von den Nazis ganz offen propagiert, das eigentliche Thema von Liebeneiners Film hingegen sehr vorsichtig angepackt wurde, weil mit Widerstand in der Bevölkerung zu rechnen war. Das machte es hinterher leichter, sich herauszureden. Es ging um die Euthanasie, die Vernichtung von "lebensunwertem" Leben. Der Film heißt Ich klage an.

Wie gut es Liebeneiner gelang, sich aus der Sache herauszuwinden, belegt ein Artikel, den ihm der Großkritiker Joachim Kaiser zum 75. Geburtstag widmete ("Kein leichtes Leben", Süddeutsche Zeitung, 6.10.1980). Darin heißt es, der Regisseur habe "immer einen guten Namen gehabt", und weiter:

Und es wurde ihm später - übrigens wirklich unberechtigt - vorgeworfen, sein ein heikles Euthanasie-Problem in den Mittelpunkt stellender Film Ich klage an hätte mit der verbrecherischen Euthanasie-Politik des Dritten Reiches irgendwie zu tun. 1945 lag also Schwieriges, aber gewiß nichts heftig Belastendes hinter Wolfgang Liebeneiner.

Wann der Gratulant Ich klage an wohl zuletzt gesehen hatte, als er das schrieb? Herrn Kaisers Ausführungen zeigen wieder einmal, was dabei herauskommt, wenn man Filme wie Träger einer ansteckenden Krankheit behandelt und sie in Quarantäne nimmt, um uns vor dem NS-Virus zu schützen, für das wir scheinbar besonders anfällig sind (ohne diese beleidigende Unterstellung ergibt der Umgang mit den "Vorbehaltsfilmen" keinen Sinn). Wer zensuriert und Informationen vorenthält, wie das die Murnau-Stiftung auf dem Umweg über das (missbrauchte) Urheberrecht macht, hilft beim Schönfärben der Vergangenheit.

Als Joachim Kaiser seine Geburtstagsgrüße übermittelte, hatte Liebeneiner 35 Jahre Zeit gehabt, seine Version des Gewesenen zu verbreiten. Genauso lange war der Film, der seiner Darstellung nach "Gutes bewirkt, ja vielleicht sogar Menschenleben gerettet" habe, verboten. Mit Ausnahme der wenigen Bundesbürger, die eine dieser geschlossenen Veranstaltungen mit Referent besucht hatten, kannten die Leser der SZ Ich klage an entweder gar nicht, oder sie waren schon älter und erinnerten sich vage an die melodramatische Liebeshandlung, in die der Film seine Botschaft verpackt hatte. Liebeneiner hatte es da leicht. Wer ernsthaft an der Vergangenheit interessiert ist und daran, dass sich diese nicht wiederholt, kann das nicht wollen. Schauen wir uns also genauer an, was Wolfgang Liebeneiner an gewiss nicht heftig Belastendem hinter sich hatte, als er gleich nach Kriegsende seine Karriere fortsetzte, als ob nichts gewesen wäre.

Schlechte Stimmung im Schwabenland

Auf der Schwäbischen Alb machte sich ein Murren breit, das auch den Reichsführer SS in Berlin erreichte. Heinrich Himmler war besorgt. Deshalb schrieb er am 19. Dezember 1940 einen Brief an Viktor Brack:

Wie ich höre, ist auf der Alb wegen der Anstalt Grafeneck eine große Erregung. Die Bevölkerung kennt das graue Auto der SS und glaubt zu wissen, was sich in dem dauernd rauchenden Krematorium abspielt. Was dort geschieht, ist ein Geheimnis und ist es doch nicht mehr. Somit ist dort die schlimmste Stimmung ausgebrochen, und es bleibt meines Erachtens nur übrig, an dieser Stelle die Verwendung der Anstalt einzustellen und allenfalls in einer klugen und vernünftigen Weise aufklärend zu wirken, indem man gerade in der dortigen Gegend Filme über Erb- und Geisteskranke laufen läßt.
Ich darf Sie um Mitteilung bitten, wie dieses schwierige Problem gelöst wurde.
Heil Hitler!

Die Rede ist vom Gelände des Schlosses Grafeneck. Von Januar bis Dezember 1940 wurden dort im Rahmen der "Aktion T4" fast 11.000 Menschen ermordet. Das war der vorläufige Höhepunkt (oder besser: Tiefpunkt) einer Entwicklung, die am 14. Juli 1933 mit der Verabschiedung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" begonnen hatte. Dieses am 1. Januar 1934 in Kraft tretende Gesetz regelte die Zwangssterilisierung von Bürgern, die an "erblichem Schwachsinn" litten, an Schizophrenie, an erblicher Blindheit oder Taubheit, an "schwerer erblicher körperlicher Mißbildung" und so weiter. Allein 1934 wurden 30.000 Menschen sterilisiert, bis zum Zusammenbruch des Dritten Reichs im Mai 1945 waren es 400.000. Etwa 6000 Frauen und 600 Männer starben bei dieser Prozedur.

Schlosses Grafeneck

Was sich mit dem Gesetz alles anfangen ließ, ergibt sich aus dem zugehörigen Kommentar, in dem als Kennzeichen für "Schwachsinn" die Unfähigkeit genannt wurde, "in einem geordneten Berufsleben seinen eigenen Unterhalt zu verdienen, noch sonst sich sozial einzufügen". Dahinter steht die Überzeugung, dass sich der Wert eines Menschen nach seiner volkswirtschaftlichen Nützlichkeit bemisst. Solche Überlegungen vermischten sich von Anfang an mit den Maßnahmen zur "Rassenhygiene" wie dem "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" vom 15. September 1935 (Verbot von Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden) oder dem "Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes" vom 18. Oktober 1935 (Verbot der Ehe mit an einer Erbkrankheit, "Schwachsinn" etc. Leidenden).

Für viele Funktionsträger war es von da bis zur Euthanasie nur noch ein kleiner Schritt. Einzelne Gauleiter sollen schon bald nach der Machtübernahme durch die Nazis Anweisung gegeben haben, in staatlichen Anstalten lebende Geisteskranke zu ermorden oder die Mindeststandards an Unterbringung und Verpflegung so weit herunterzurechnen, dass es einer Ermordung gleichkam. Weil das auf Eigeninitiative von Provinzfürsten geschah, ist es kaum dokumentiert. Hitlers Leibarzt Dr. Karl Brandt sagte 1947 im Nürnberger Ärzteprozess aus, dass Hitler schon 1935 dem Reichsärzteführer Gerhard Wagner gegenüber die Absicht geäußert habe, im Falle eines Krieges auch "diese Euthanasie-Frage" aufzugreifen, weil dann mit weniger Widerstand zu rechnen sei, insbesondere von kirchlicher Seite. Als Hinweis darauf, dass schon früh ein Euthanasie-Programm geplant oder zumindest angedacht wurde, lässt sich auch das stetige Anwachsen einer Einrichtung werten, die ab 1934 "Rassenpolitisches Amt der NSDAP" hieß. Eine der Hauptaufgaben des RPA war die Schulung von Rednern. Bis 1938 führte es 64.000 propagandistische Veranstaltungen durch, deren Besucher im Sinne der "Rassenhygiene" indoktriniert wurden.

Was mit vorbeugenden Maßnahmen wie Sterilisation und Eheverbot begann, weitete sich mehr und mehr zur planvollen Vernichtung von Menschen aus, die im Nazireich nicht erwünscht waren. Das Euthanasie-Programm war Vorstufe und Erprobungsraum für den Holocaust. Den Anstoß zum systematischen Massenmord soll der Fall des nie eindeutig identifizierten "Kindes K." gegeben haben. 1938 oder vielleicht erst 1939 ging in der Kanzlei des Führers (KdF) die Bitte eines Elternpaars ein, ihrem mit schweren körperlichen Missbildungen zur Welt gekommenen Säugling den "Gnadentod" zu gewähren. Hitler gab dem statt und ordnete an, in ähnlich gelagerten Fällen genauso zu verfahren. Seine eigene Kanzlei übernahm die Organisation, dies allerdings nur im Geheimen, weil solche Kindstötungen auch gegen die Gesetze des Dritten Reichs verstießen. Um Vorschläge zur praktischen Durchführung zu erarbeiten, wurde Anfang 1939 ein Gremium gebildet, das sich "Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" nannte. Einer der fünf in das Gremium berufenen Mediziner war Dr. Hellmuth Unger, Augenarzt und Pressereferent des Reichsärzteführers. Geleitet wurde es von Viktor Brack, dem Chef des mit der Euthanasie befassten Hauptamtes II der KdF. Das ist derselbe Brack, dem Himmler später den oben zitierten Brief schrieb.

Per Erlass des Innenministers vom 18. August 1939 wurde die "wissenschaftliche Erfassung" geregelt. Ärzte, Hebammen und Krankenhäuser mussten die Geburt behinderter Kinder melden; auch behinderte Kinder bis zum vollendeten dritten Lebensjahr waren meldepflichtig. Die eingesandten Formblätter wurden von zwei Sachbearbeitern der KdF ohne medizinische Ausbildung gesichtet und an drei als Gutachter bestimmte Ärzte weitergeleitet, falls die erfassten Kinder nach Meinung der beiden Kanzleimitarbeiter für die Euthanasie in Frage kamen. Die Ärzte sahen einer nach dem anderen die Meldebögen durch und markierten sie mit einem "+" oder einem "-". Ein Pluszeichen war ein Todesurteil. Konnten sich die Gutachter nicht einigen, empfahlen sie die weitere Beobachtung. Dazu wurden die betroffenen Kinder wie alle "+"-Fälle auch in "Kinderfachabteilungen" eingewiesen. Auf Eltern, die ihre Kinder bei sich behalten wollten, wurde ständig der Druck erhöht.

Krieg gegen Kranke

Die Geschichte des Dritten Reichs besteht aus vielen schlimmen Kapiteln. Das der "Kindereuthanasie" ist eins der widerlichsten. Der Euphemismus für Mord war "Behandlung". Die Opfer wurden nicht sofort getötet, sondern nach und nach. Die "behandelnden" Ärzte verabreichten ihnen Mittel (vorzugsweise Luminal oder Veronal), die so dosiert waren, dass man schließlich eine "natürliche", also künstlich herbeigeführte Todesursache wie Lungenentzündung oder Atemlähmung attestieren konnte. Unterernährung und Unterbringung in schlecht geheizten Räumen taten ein Übriges, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Bis Mai 1945 wurden in den "Kinderfachabteilungen" mehr als 5000 Opfer der "wissenschaftlichen Erfassung" qualvoll umgebracht. Viele von ihnen wurden zu medizinischen Experimenten herangezogen, einige der angesehensten deutschen Forschungsinstitute beteiligten sich an der Auswertung der Resultate.

Wahrscheinlich hatte es mit der über Jahrhunderte eingeübten Autoritätsgläubigkeit zu tun, dass viele Deutsche die im Dritten Reich begangenen Verbrechen gleich als weniger schlimm empfanden, wenn eine gesetzliche Grundlage geschaffen wurde. Für die Euthanasie blieben solche Gesetze aus. Einerseits waren überall im Land die vom RPA geschulten Redner unterwegs, um die Akzeptanz der Euthanasie zu erhöhen. Andererseits durfte man nicht zugeben, dass sie längst betrieben wurde. Der Wunsch von Eltern, ihr behindertes Kind den "Gnadentod" sterben zu lassen, war eigentlich willkommen, brachte die Täter aber auch in ein Dilemma. In einer von Ernst Klee herausgegebenen Dokumentensammlung ist ein Brief des "Reichsausschusses" an das württembergische Innenministerium vom 22. April 1944 abgedruckt, in dem es heißt:

Der Fall liegt insofern nicht ganz leicht, als, wie Sie mitteilen, die Kindeseltern um eine entsprechende Behandlung gebeten haben, die ihnen selbstverständlich im Hinblick auf die bestehenden Gesetze verweigert werden muß. Ich bezweifle nicht, daß Sie die Kindeseltern in diesem Sinne unterrichtet haben, da bekanntlich keinesfalls zugegeben werden darf, daß staatlicherseits entsprechende Maßnahmen betrieben werden.

Die Gründe, warum eine gesetzliche Regelung trotz mehrerer Anläufe von Hitler letztlich immer abgelehnt wurde (auf eine gesetzliche Grundlage wurde nur der organisatorische Teil gestellt), sind vielfältig. Eine wichtige Rolle spielte die Angst vor Widerständen in der Bevölkerung, auch der Kirchen. So blieb es bei zumeist mündlichen Anweisungen, damit der Führer immer behaupten konnte, von nichts gewusst zu haben. Die Ausnahme ist die Vollmacht, die Hitler vermutlich im Oktober 1939 seinen beiden Euthanasie-Beauftragten Philipp Bouhler und Karl Brandt ausstellte:

Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.

Damit wurde, ohne es explizit zu sagen, das Euthanasie-Programm auf die Erwachsenen ausgedehnt. Die Rückdatierung des Dokuments auf den 1. September (Tag des Überfalls auf Polen) war symbolisch. Hitler erklärte so auch dem seiner Ansicht nach "lebensunwerten" Leben den Krieg. Daraus, dass es jetzt Kampfhandlungen und Verwundete gab, lässt sich ein weiterer Grund für die Geheimhaltung ableiten. Ein Regime, das so sehr auf Propaganda setzte wie das der Nazis, hatte stets im Blick, was die Gegner propagandistisch ausbeuten könnten. Laut Protokoll der Geheimen Ministerkonferenz vom 29. April 1941 wies Goebbels darauf hin, dass man das Thema "Euthanasie" nicht offen ansprechen dürfe. Die Engländer, so der Minister, würden sonst behaupten, dass die Deutschen planten, nach dem Krieg alle Invaliden zu töten, weil sie nicht mehr zu gebrauchen waren. Das konnte zu Unruhen führen.

Karl Brandt; Philipp Bouhler, Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild 183-H13374). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Zu denen, die im Sommer 1940 die "Aktion Gnadentod" vorbereiteten, gehörte auch wieder der Augenarzt Hellmuth Unger. Er ist hier von besonderer Bedeutung, weil er mit seinem Euthanasie-Roman Sendung und Gewissen die (dann stark umgearbeitete) Vorlage für Liebeneiners Ich klage an lieferte. Die Verwaltung des Euthanasie-Programms war im April 1940 in eine zuvor arisierte Villa mit Bürotrakt in Berlin-Charlottenburg umgezogen, in der Tiergartenstraße Nr. 4 (bei der Philharmonie). Daraus entstand ein neuer Deckname: "Aktion T4". Wie schon bei den Kindern mussten wieder Fragebögen verschickt werden. Das übernahm die "Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten". Verträge schloss die "Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege". Den Transport der Opfer zu den Tötungsanstalten erledigte die "Gemeinnützige Kranken-Transport-G.m.b.H." (Gekrat). Und die "Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten" war für das Finanzielle zuständig. Sie machte die Abrechnung mit den Krankenkassen und Fürsorgeverbänden und reichte auch fingierte Rechnungen ein, damit die sich selbst tragende Mordorganisation immer genug Geld von der Sozialversicherung zur Verfügung hatte.

Gekrat-Bus in Grafeneck

Am 9. Oktober begann man mit der "planwirtschaftlichen Erfassung" der Patienten aller Heil- und Pflegeanstalten (Verschickung der Fragebögen mit anschließender Tötung der Selektierten). Bereits am selben Tag wurde beschlossen, 65.000 bis 70.000 Menschen zu ermorden. Die erste von insgesamt sechs Tötungsanstalten war Grafeneck auf der Schwäbischen Alb. Die Opfer, zunächst vor allem Geisteskranke, wurden in den grauen Bussen der Gekrat dort hingebracht, in eine als Dusche getarnte Gaskammer geführt und mit Kohlenmonoxid ermordet. Im August 1941, als die angestrebte Zahl an Tötungen erreicht war, wurde die "Aktion T4" vorübergehend gestoppt. Danach organisierte man sich neu. In der Folge wurde der Kreis derer, die von der Euthanasie bedroht waren, ständig erweitert: um Demenzkranke, Arbeitsunwillige, Wohnungslose, Tuberkulosekranke, auch Menschen, die nach Bombenangriffen verwirrt und zur Behandlung in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden waren.

Schwierige Geburt eines Propagandafilms

Das Euthanasie-Programm vermischte soziale und medizinische Kriterien. Oberster Gesichtspunkt war die Wirtschaftlichkeit. Menschen, deren Arbeitskraft man ausbeuten konnte, durften weiterleben. Die anderen wurden umgebracht, um Pflegekosten einzusparen. Im April 1941 lief die "Aktion 14 f 13" an (benannt nach dem Aktenzeichen eines KZ-Inspekteurs), in deren Rahmen arbeitsunfähige oder einfach nur unbequeme KZ-Häftlinge vergast wurden. Im Juli 1943 beschloss ein Gremium aus Professoren und T4-Gutachtern, Patienten der psychiatrischen Kliniken zu töten, damit Krankenbetten frei wurden, die man nach Bombenangriffen für die Versorgung der Verletzten brauchte. Und so weiter.

Aus dem Tagebuch von Joseph Goebbels, 31. Januar 1941:

Mit Bouhler Frage der stillschweigenden Liquidierung von Geisteskranken besprochen. 80.000 sind weg, 60.000 müssen noch weg. Das ist eine harte, aber auch eine notwendige Arbeit. Und sie muß jetzt getan werden. Bouhler ist der rechte Mann dazu.

Wie aus Himmlers Brief an Viktor Brack ersichtlich, ließen sich Tötungsaktionen dieses Umfangs nicht völlig im Geheimen durchführen. Im Herbst 1940 regte sich erster Widerstand in der Bevölkerung. Dem sollte mit Propagandamaßnahmen begegnet werden. Die Kanzlei des Führers versuchte sich da schon eine Weile lang an Dokumentarfilmen und hatte zu diesem Zweck Hermann Schweninger angeheuert, einen Jugendfreund von Brack, der als Transportleiter der Gekrat Opfer der "Aktion T4" zur Vergasung nach Grafeneck brachte, um sich in die Thematik einzuarbeiten. Schweningers Dasein ohne Leben (1940/41) zeigte missgebildete Menschen als Ungeheuer, die man vernichten musste (auch eine Vergasung wurde gefilmt), kam nur intern zum Einsatz und wurde beim Heranrücken der Alliierten vernichtet (inzwischen sind in einem ehemaligen DDR-Archiv acht Rollen mit ungeschnittenem Rohmaterial aufgetaucht). Die Arbeiten an einer weiteren Dokumentation dieser Art wurden 1943 abgebrochen.

Für Goebbels war das, was die "Zentraldienststelle T4" da so machte, der reine Dilettantismus. Seine Vorstellung von gelungener Propaganda war eine ganz andere (Rede vor der Reichsfilmkammer im Februar 1941):

Nicht das ist die beste Propaganda, bei der die eigentlichen Elemente der Propaganda immer sichtbar zutage treten, sondern das ist die beste Propaganda, die sozusagen unsichtbar wirkt, das ganze öffentliche Leben durchdringt, ohne daß das öffentliche Leben überhaupt von der Initiative der Propaganda irgendwie Kenntnis nimmt.

So etwas ließ sich am besten mit Spielfilmen verwirklichen. Zu dieser Einsicht rang sich auch die Kanzlei des Führers durch, von der die Initiative zu Ich klage an ausging. Aber wie sollte man einen solchen Spielfilm machen, wenn einem das dafür nötige Knowhow fehlte? Es lag nahe, es mit einer Verfilmung des Romans von Hellmuth Unger zu probieren, der in der "Zentraldienststelle T4" ein alter Bekannter war. Im Mittelpunkt von Sendung und Gewissen (1936) steht der Medizinprofessor Terstegen, Chefarzt an einem Provinzkrankenhaus. Terstegen hat es nicht leicht. Er kann seinem alten Jagdhund den Gnadenschuss geben, aber seine unheilbar kranke Mutter muss elend sterben, weil der Sohn sie nicht erlösen darf. Weil das nicht immer so weitergehen kann, bringt er dann doch "vielen Kranken Erlösung durch Sterben".

"Ich töte ja nicht, wenn ich erlöse", sagt Verstegen. Einen alten Mann "erlöst" er wegen einer Fehldiagnose etwas zu früh. Darum stellt er sich dem Staatsanwalt, was ihm die Gelegenheit zu einer großen Schlussansprache gibt. Tenor: "Dem Ganzen zu dienen und zu nützen, darauf kommt es an!" Wie daraus der Film Ich klage an wurde, ist nicht in allen Punkten eindeutig geklärt. Hier die wahrscheinlichste Variante.

Die Tobis, als Produktionsfirma für die Verfilmung auserkoren, lehnte den langweiligen und weitgehend dramaturgiefreien Roman zunächst ab. Viktor Brack gab seinem Freund Schweninger den Auftrag, die Vorlage so umzuarbeiten, dass damit etwas anzufangen war. Schweninger dachte sich eine Rahmenhandlung mit Baron und Baronin von Passow aus. Die Baronin ist mit Terstegen befreundet. Der Baron fällt vom Pferd, die ärztliche Prognose könnte kaum schlimmer sein: von Passow wird "dahinvegetieren. Stumpfsinnig wie ein Tier." Terstegen "erlöst" ihn, bald sind Gerüchte über einen Giftmord im Umlauf, der Arzt wird angeklagt. Während der Roman mit der Selbstanzeige endet, fügt Schweninger die Gerichtsverhandlung an. Bei dieser bekennt sich Terstegen zu diversen, aus dem Roman übernommenen "Erlösungshandlungen", hält eine flammende Rede für die Euthanasie und fordert das Gericht auf, ein Urteil zu fällen. Liebeneiner, bei der Tobis als Regisseur vorgesehen, lehnte das Exposé ab.

"Drei Menschen", das T4-Exposé Nr. 2, betont die Dreiecksbeziehung als dramaturgisches Element. Ein Oberarzt einer psychiatrischen Klinik und ein Schauspieler lieben dieselbe Frau. Die Frau heiratet den Schauspieler mit einem Gen für Geisteskrankheit. Das gemeinsame Kind kommt mit "angeborenem bildungsunfähigen Schwachsinn" zur Welt. Der Vater bittet den Oberarzt und dessen Chef um den "Gnadentod" für sein Kind. Als beide ablehnen, "erlöst" er es selbst. Darauf folgt die Gerichtsverhandlung. Exposé Nr. 3, wieder von Schweninger, verlegt die Handlung in das Arbeitermilieu und ersetzt die erbliche Vorbelastung durch einen Unfall. Bei diesem erleidet der Sohn eines Werkmeisters eine Hirnverletzung. Der Sohn wird für immer geistig behindert sein. Der Vater gibt ihn schweren Herzens in eine Pflegeanstalt. Was er dort zu sehen bekommt ("die entsetzliche, leere Zukunft und das grauenvolle, würdelose Dasein in stumpfer Passivität") überzeugt ihn davon, dass er sein Kind töten muss. Beim Prozess sind sich die Richter einig, dass der Werkmeister "nur aus Ermangelung einer dringend notwendigen gesetzlichen Regelung gehandelt hat, die den heutigen Anschauungen auf diesem Gebiet entspricht". Der Angeklagte wird zu zwei Monaten Haft verurteilt, von seinen Arbeitskollegen gefeiert und zum Ingenieur befördert.

Ich erzähle das hier so ausführlich, weil die komplizierte Produktionsgeschichte Liebeneiner später dabei half, seine Rolle schönzureden. Man hatte jetzt also drei Exposés und kein Drehbuch. Offenbar auf Anraten von Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti wurde in dieser Situation Prof. Dr. August Riekel zugezogen. Der Erziehungswissenschaftler Riekel war Chefdramaturg bei der Tobis und schrieb unter dem Pseudonym "Harald Bratt" selbst Drehbücher (etwa zum antisemitischen Propagandafilm Leinen aus Irland). Er skizzierte auf Grundlage der Exposés ein Handlungsgerüst, das Liebeneiner so zusammengefasst hat:

Zwei Ärzte lieben eine Frau. Sie heiratet den einen. Als sie an MS erkrankt, bittet sie einen von beiden, sie zu töten, er lehnt ab. Darauf bittet sie den anderen, der es tut. Es kommt zu einer Gerichtsverhandlung, in der dieser Fall durchdiskutiert wird.

Das ist nicht falsch und doch nur die Verpackung. Ich klage an ist mehr als ein Sterbehilfe-Melodram. In einem Interview mit Erwin Leiser (zitiert in Deutschland erwache!) erweckt Liebeneiner den Eindruck, es habe zwei verschiedene Projekte gegeben: Einen Film über die "Tötung auf Verlangen", den er, unabhängig von der Kanzlei des Führers, gern machen wollte, weil er sich schon immer für das Problem interessiert hatte. Und einen Film, der die Ermordung von Geisteskranken rechtfertigt (Exposé Nr. 3). Viktor Brack habe von ihm verlangt, zuerst diesen Film zu drehen. Es sei ihm jedoch gelungen, "dieses Projekt immer wieder zu verschieben, bis es dann aufgegeben wurde". Das stimmt so nicht. Statt das Projekt durch geschicktes Hinauszögern zu verhindern, integrierte er den Grundkonflikt von Exposé Nr. 3 in das Melo und schuf so einen Film mit versteckter Propagandabotschaft, wie Goebbels ihn sich wünschte. Dieser Teil beansprucht nur wenig Leinwandzeit, aber für die Aussage ist er entscheidend.

Als Ich klage an vorbereitet wurde, lag ein fertig formuliertes "Sterbehilfegesetz" vor, das nur noch verabschiedet werden musste. Die Kanzlei des Führers gab einen Propagandafilm in Auftrag, der §1 ("Tötung auf Verlangen" von unheilbar Kranken) und §2 des Gesetzes (Tötung von "lebensunwertem" Leben) auf dramaturgisch stimmige Weise in eine Spielhandlung integrierte. Darum kümmerte sich zunächst Eberhard Frowein - wahrscheinlich, weil Liebeneiner anderweitig beschäftigt war. Frowein schrieb, Liebeneiners Meinung nach, einen "neuen Roman": also ein Drehbuch, das handlungsarm und langatmig war und filmischen Erfordernissen nicht genügte.

Dieses Buch wurde von Liebeneiner gründlich umgearbeitet. Froweins dramaturgische Entscheidung, die beiden Paragraphen des "Sterbehilfegesetzes" auf eine Haupt- (§1) und eine Nebenhandlung (§2) zu verteilen, behielt er bei. Die Murnau-Stiftung erwähnt in ihrer Inhaltsangabe die Nebenhandlung mit keinem Wort, was angesichts des sonstigen Umgangs dieser Institution mit den "Vorbehaltsfilmen" nicht überrascht. Ärgerlich ist es trotzdem. Wer einen Film wegen gefährlicher Nazi-Propaganda verbietet, sollte interessierten Nutzern der eigenen Website zumindest sagen können (und selber wissen), worin die Propaganda besteht.

Weil ich bei anderen Vorbehaltsfilmen den begründeten Verdacht hatte, dass es sich bei den Inhaltsangaben der Stiftung um Paraphrasen der Zusammenfassungen in alten Filmprogrammen handelt, habe ich mir den Illustrierten Film-Kurier zu Ich klage an besorgt. Und siehe da: Die Nebenhandlung kommt da ebenfalls nicht vor. Ilse Fürstenberg und Karl Dannemann - sie verkörpern die Protagonisten dieser Nebenhandlung - sind im Darstellerverzeichnis nur unter "Ferner wirkten mit" aufgelistet, ohne Rollennamen. Das war ganz im Sinne der Propaganda, zu der auch diese Filmprogramme gehörten. Die eigentliche Botschaft ist da buchstäblich im Kleingedruckten versteckt. Wenn die Murnau-Stiftung die aus propagandistischen Gründen vorgenommene Aussparung der Nebenhandlung reproduziert, stimmt etwas nicht.

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