Blinde Fantasie
Aphantasie: Das Unvermögen, sich etwas bildlich vorstellen zu können, scheint vornehmlich unter Männern verbreitet zu sein
Als mir ein guter Bekannter das erste Mal erzählte, dass er absolut keinerlei Bilder in seinem Kopf formen kann, war ich verblüfft. Einmal, weil ich nicht gedacht hätte, dass so etwas überhaupt möglich sein kann, aber auch aufgrund seiner Talente. Immerhin hat er Maschinenbau studiert und ist handwerklich-technisch begabt wie kein Zweiter. Er repariert alles selbst, inklusive seiner Autos, und er entwirft und konstruiert Möbel und Gewächshäuser. Auch sein Orientierungssinn ist ganz hervorragend. Und das alles ohne sich irgendetwas vor seinem geistigen Auge vergegenwärtigen zu können.
Als ich ihn fragte, ob er überhaupt nichts visualisieren kann, antwortete er mir, er scheitere schon am Begriff "visualisieren". Wenn er seine Lider schließe sei es immer schwarz. Ich, auf der anderen Seite, kann in meinem Kopf ganze Filme in Technicolor abspielen und Weltreisen vollziehen, aber muss aufpassen, dass ich mir beim Brötchen aufschneiden nicht ein Auge aussteche oder mich auf dem Weg zur Haustüre verlaufe. Wie kann das sein?
Ungefähr zwei Prozent der Bevölkerung leiden unter Aphantasie. Wobei "leiden" hier eigentlich das falsche Wort ist, die Mehrzahl der Betroffenen weiß bis ins Erwachsenenalter nicht einmal von ihrer Beeinträchtigung. Blake Ross, einer der Schöpfer des Firefox-Browsers, wurde sich beispielsweise erst mit 30 Jahren bewusst, dass andere Menschen sich Sachen in ihren Köpfen vorstellen können. "Ich dachte 'Schafe zählen' sei eine Metapher", schreibt er in einem Essay, den er 2016 auf Facebook veröffentlichte.
Manche Menschen mit Aphantasie glauben einem nicht einmal, wenn man ihnen erklärt, dass ihre Mitmenschen normalerweise optische Eindrücke ohne den entsprechenden Sinnesreiz hervorrufen können. Als ich mich etwa in meiner Abschlussarbeit in Philosophie mit Paul Lorenzen, einem der bedeutendsten Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts, beschäftigte, stolperte ich über eine Bemerkung von ihm, in der er bezweifelt, dass so etwas wie "Denken in Bildern" überhaupt existiert.
Auch Francis Galton, ein berühmter Cousin von Charles Darwin, der das Phänomen Aphantasie im 19. Jahrhundert als erster entdeckte, begegnete zu seiner Überraschung Skepsis gegenüber der Realität vom Denken in Bildern bei einer großen Mehrheit seiner britischen Kollegen in den Wissenschaften. Ein französischer Freund von ihm bestätigte auf seine Bitte, nach einer Befragung der dortigen Akademiker, diese Meinung auch unter französischen Wissenschaftlern.
Galton stellte im Laufe seiner Untersuchung fest, dass unter der Normalbevölkerung hingegen ein komplett umgekehrtes Verhältnis herrscht. Insbesondere Frauen und Kinder besitzen eine sehr lebendige Vorstellungskraft. Tatsächlich stellte die neueste Studie zur Aphantasie fest, dass 19 der 21 Personen, die sich bei den Forschern aufgrund ihrer Unfähigkeit geistige Bilder zu generieren meldeten, männlich waren. Außerdem waren zwei der drei Personen mit Aphantasie, die Blake Ross bei seinen eigenen Nachforschungen auf Facebook fand, männliche Informatiker wie er selbst (die Dritte war seine Mutter). Mein Bekannter ist ebenfalls männlich und arbeitet als Programmierer.
Ross beschrieb in seinem Essay außerdem, dass seine Aphantasie nicht nur Bilder betrifft. Er kann genauso wenig mental Musik hören und hatte noch nie einen Ohrwurm (der Glückliche!). Wenn er sich Sachen ausdenkt, geschieht dies rein verbal in einer Kette von Wortassoziationen. Dies ist allerdings nicht zwingend für Menschen, die von Aphantasie betroffen sind. Mein Bekannter etwa hat keinerlei Probleme sich Töne vorzustellen. Auch hat er im Gegensatz zu Ross visuelle Träume, die er im Nachhinein allerdings nicht mehr wirklich abrufen kann. Wie Befragungen zeigen, haben die meisten Menschen mit Aphantasie Träume, wenn sie schlafen; ihnen fehlt nur die Fähigkeit zum Tagträumen.
Das Gegenteil von Menschen mit Aphantasie sind Eidetiker, die sich Dinge so wirklichkeitsgetreu vorstellen können, als ob sie tatsächlich wahrgenommen würden. Der Erfinder Nikola Tesla fällt in diese Kategorie und auch "Lolita"-Autor Vladimir Nabokov und die Tierwissenschaftlerin Temple Grandin. Doch die meisten Menschen mit dieser Gabe leben, ohne besondere Leistungen zu vollbringen, oder sind häufig sogar geistig beeinträchtigt.
Mangelnde visuelle Vorstellungskraft kann mit abstrakteren Strategien kompensiert werden
Andererseits gibt es auf vielen Gebieten, von denen man annehmen würde, dass man dort die Fähigkeit zu visualisieren im höchsten Grade benötigt, Menschen, die Zeichen von Aphantasie aufweisen. Schon Galton hat festgestellt, dass sogar Weltklasse-Maler ohne bildliches Vorstellungsvermögen auskommen können. Garri Kasparow, der wohl größte Schachspieler aller Zeiten, leidet beispielsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an Aphantasie. Der Mathematiker Bertrand Russell, einer der einflussreichsten Logiker der Geschichte, schrieb ebenfalls, dass er keinerlei geistige Bilder formen kann.
Der amerikanische Zauberkünstler und Komiker Penn Jillette und der Biochemiker Craig Venter, der dafür verantwortlich war, dass das menschliche Genom sequenziert wurde und der das erste künstliche Erbgut herstellte, haben gestanden, dass sie an Aphantasie leiden. Auch Albert Speer, Chef-Architekt und Stadtplaner der Nazis im Dritten Reich, zwar sicherlich kein Sympathieträger, doch nichtsdestotrotz außerordentlich erfolgreich als Designer, gab bei einer psychologischen Untersuchung während der Nürnberger Prozesse an, dass er große Probleme habe, sich etwas rein bildlich vorzustellen.
Galton vertrat in seiner Studie die Auffassung, dass die Fähigkeit abstrakt-analytisch zu denken, der Entwicklung des gegenständlichen Denkens womöglich im Wege stehe und deshalb bildhafte Vorstellungen unter besonders intelligenten Menschen seltener sind. Es wurde in neueren Studien jedenfalls kein Zusammenhang zwischen der Lebendigkeit mentaler Bilder und der Leistung in Tests zur Erfassung des räumlichen Vorstellungsvermögens gefunden.
Die Forscher stellten fest, dass man die Stärke der visuellen Vorstellungskraft mit einer Magnetresonanztomographie des Gehirns ablesen kann und dass bei mentalen Rotationsaufgaben Menschen mit schwächerem bildlichem Denken andere Gehirnareale aktivieren. Das deutet darauf hin, dass sie eine grundverschiedene, wahrscheinlich abstraktere Strategie zur Lösung solcher Probleme anwenden. Beschreibungen von Personen mit Aphantasie zeigen, dass Aufgaben, die normalerweise mit Hilfe von Verbildlichung bearbeitet werden, z. B. die Frage "Wie viele Fenster hat Ihr Haus?", von ihnen durch erworbenes Wissen beantwortet werden. Sie merken es sich als Fakt, wie gelerntes Schulwissen, und rufen es genauso wieder ab.
Aphantasie muss nicht in allen Fällen angeboren sein. Eine 2010 veröffentlichte Studie beschreibt einen Mann, der nach einer Herz-OP komplett das Vermögen verloren hat, gedanklich Bilder hervorzurufen. Seine Intelligenz, sein Orientierungssinn und seine Fähigkeit, Aufgaben des räumlichen Vorstellungsvermögens zu bearbeiten, wurden dadurch nicht beeinträchtigt, aber er gab an, dass er nun eine nicht visuelle Strategie dafür anwenden müsse.
Was die Ergebnisse der Forschung und die lange Liste höchst kreativer Personen und sogar Jahrhundertgenies mit Aphantasie ohne Zweifel zeigen, ist, dass sich Fantasie nicht auf unser alltägliches Kopfkino reduzieren lässt. Es gibt darüber hinaus eine blinde Fantasie und sie ist ebenso mächtig wie die lebendigste Bilderwelt; wenn nicht sogar mächtiger.