Blinde Flecke der Wirtschaftspolitik

Von der Theorie der Parallelwelten und der Notwendigkeit einer De-Ontologisierung der Wirklichkeit

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Man kann vom Meere nicht zu einem Brunnenfrosch sprechen, er sieht nicht über sein Loch hinaus. Man kann vom Eis nicht zu einer Sommerfliege sprechen: sie weiß nur ihre Jahreszeit. Man kann vom Dao nicht zu einem Schulmann1 sprechen: er ist in seiner Lehre eingemauert. Nun hast du dich hinausgewagt über deine Gestade, um einen Blick zu werfen auf den großen Ozean, und hast deine eigene Ärmlichkeit erkannt: Deshalb kann man dir von der Großen Ordnung erzählen. Zhuangzi2

Sie leuchten noch, obwohl sie längst erloschen sind. Das Funkeln einer exotischen Leiche

Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen.

Humberto Maturana

Die Ideen der Ökonomen und Staatsphilosophen, seien sie im Recht, seien sie im Unrecht, sind einflussreicher, als gemeinhin angenommen wird. In der Tat, die Welt ist durch nicht viel anderes beherrscht. Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen (defunct economist). Verrückte in hoher Stellung (madmen in authority), die Stimmen in der Luft hören, zapfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Schreiber ein paar Jahre zuvor verfasste. Die Ideen, die Staatsbeamte und Politiker, selbst Agitatoren auf die laufenden Ereignisse anwenden, sind wahrscheinlich nicht die neuesten. John Maynard Keynes, 19363

Ja praktisch jeder Unsinn, der je über den Kapitalismus gesagt worden ist, ist von einem Fach-Nationalökonomen verfochten worden. Joseph A. Schumpeter, 19934

Wie Wirtschaft funktioniert und wie Wirtschaftspolitik wirkt lässt sich objektiv nicht sagen. Wirtschaft existiert zwar als ein reales System. Dem Egoismus der Systeme entspricht allerdings ein Narzissmus ihrer theoretischen Konstrukteure. Wie kann der Ökonom wissen, dass sein Wissen in Übereinstimmung ist mit den Dingen der Außenwelt, die er Wirtschaft nennt? Er kann es nicht. Er konstruiert eine wirtschaftliche Welt, seine Welt, deren Realität nicht zu bestreiten ist. Aber andere konstruieren andere, ihre Welten: Wirtschaft als Multiversum.

Wir stellen theoretische Ansätze der Ökonomie gegenüber. Jeder konstruiert die wirtschaftliche Welt auf seine Weise. Jeder operiert innerhalb selbst aufgebauter intellektueller Barrikaden. Jeder ist blind für die Einsichten des anderen Paradigmas. Ein Paradigma überlebt aufgrund der Blindheit seiner Anhänger, nicht seiner theoretischen Qualitäten. Jeder macht das erdachte Modell zu seinem Erklärungsinstrument der wirtschaftlichen Welt. Die Welt wie er sie sieht, wird dadurch zu seiner normalen Welt, zur Norm, die ausschließt, über anderen Normen zu reflektieren. Die Logik des blinden Flecks. Wir befinden uns in der Rolle eines Beobachters, der sieht, was andere nicht sehen, was andere nicht beobachten können, wofür sie (theoretisch) blind sind. Die Sichtweise von dem, der mit ihrer Hilfe sieht, kann von ihm nicht selbst gesehen werden. Er sieht nicht, daß er blind ist, für die Dinge, die er mit seiner Brille nicht sehen kann, solange er seine (theoretische) Brille aufhat. Was wir beobachten, ist nicht die Wirtschaft selbst, sondern die Wirtschaft, wie wir sie (durch unsere theoretische Brille, mit Hilfe unserer Instrumente) beobachten.

Die unten eingefügte Tabelle zeigt theoretische Sichtweisen, theoretisch kontrollierte Möglichkeiten der Konstruktion (Erfindung) wirtschaftlicher Welten. Diese "Erfindungen" schließen bestimmte wirtschaftspolitische Konzepte und Aktionsparameter ein. Was die Tabelle nicht sagt: Ein bestimmtes Phänomen - beispielsweise Wettbewerb oder Innovation - tauche nur auf einer bestimmten Ebene (in einem bestimmten Paradigma) auf. Was sie sagt: die jeweiligen Erscheinungen - Wettbewerb, Innovation - sind in bestimmter Weise theoretisch erzeugt und werden entsprechend wirtschaftspolitisch aufbereitet. Neoklassische Innovationspolitik (zweite Ebene) ist anders aufgezogen als im schumpeterschen Paradigma (dritte Ebene). Jeder Ökonom weiß über Humankapital Bescheid. Das bedeutet nicht, er denke und handele (wirtschaftspolitisch) im Rahmen eines evolutionären Paradigmas (vierte Ebene). Ein Schumpeterianer macht (Vorschläge für) eine andere Geld- und Fiskalpolitik als der Sachverständigenrat.

Ein weiteres ist zu bedenken. Aus den erklärten wirtschaftlichen Vorgängen werden Grundsätze abgeleitet, um die Wirklichkeit im Sinne der jeweiligen Erklärungslogik zu gestalten. Halten sich die Politiker und Berater an diese Regeln, kann tatsächlich eine Welt entstehen, wie sie das Modell konstruiert hat. Realität ist die rückgekoppelte Konstruktion der paradigmatisch genormten Gehirne. Damit sich die Welt ändert, müssen sich somit nicht die Paradigmen ändern, was sie gar nicht können, vielmehr die Menschen, die mit bestimmten Paradigmen hantieren.

Obwohl die Welt konstruiert ist, keine objektive Realität besteht, entsteht eine Welt, die der theoretisch erfundenen Wirklichkeit entsprechen kann. Eine Zentralbank erhöht die Geldmenge im Ausmaß des Potentialwachstums plus Inflationsrate der Volkswirtschaft. Ihre Theorie sagt ihr, dieses Wachstum belaufe sich auf 2 +1 Prozent. Als Ergebnis wächst die Wirtschaft nur wenig, weil es ihr an Liquidität fehlt. Die Zentralbank erzeugt die erfundene Wirklichkeit.5 Subjekt und Objekt werden eins. Koproduktion:

Himmel und Erde sind zugleich mit mir entstanden.

Zhuangzi

Die Tabelle können wir in zweifacher Weise verstehen. Zunächst in dem eben erläuterten Sinn. Theoretische Sichtweisen konkurrieren um die Erklärung empirischer Erscheinungen, oftmals der gleichen. Einige Erscheinungen fügen sich besser in diese Theorie, andere besser in jene, usw. Die Tabelle zeigt dann verschiedene Ansätze, jeder blind für den anderen (wir geben unten Beispiele).

Sie ist daneben auch hierarchisch angelegt. Ein (tieferer oder grundlegenderer) Ansatz überwindet den vorangehenden und schließt ihn ein. Die integrale Tiefe der Paradigmen steigt. Das Niedrigere ist die Grundlage des Höheren (hier immer als das "Tiefere" im Sinne von Grundlegendere, Umfassendere, verstanden), und das Höhere schließt das Niedrigere ein: hierarchischer Synkretismus.

Zumindest was die Wirtschaftswissenschaften angeht, behaupte ich eine solche hierarchische, sich auch evolutionär entfaltende Verknüpfung.

Paradigmen wirtschaftspolitischer Konzepte

Eine höhere Ebene ist im Sinne von Arthur Koestler, Andrew Smith und Ken Wilber ein umfassenderes Holon6, das mit seinen untergeordneten Holons operiert und sie darin transzendiert. Sie kann damit die Partikularität der jeweils niedrigeren Ebenen oder Stufen negieren, das von diesen theoretisch Reflektierte jedoch bewahren. Sie kann Gegensätzliches vereinigen und scheinbar unvereinbare Dinge verknüpfen.

Das theoretische System der Ökonomie stellen wir uns als ein Holon vor. Es ist in der Zeit evolviert. Im Prozess dieser Evolution werden frühere Theorien in ein neues, tieferes Holon integriert. In diesem Sinne gibt es theoretischen Fortschritt. Bisher theoretisch nicht lösbare Probleme - und auch durch die alten, primitiveren Theorien mitgeschaffenen Probleme - kommen in den theoretischen Horizont. Sind die Theorien gut, sind sie damit auch lösungskompetenter. Sind sie es nicht, stagniert die theoretische Evolution. Die in der Tabelle beschriebenen Theorien bilden meiner Meinung nach eine solche Holarchie von Problemlösungskompetenzen. Die jeweils tiefere Ebene ist deswegen weniger dogmatisch oder kommt zu ihrer wissenschaftlichen Legitimierung mit weniger Dogmatismus und Macht aus.

Die theoretischen Ansätze stehen deswegen nicht nur nebeneinander, vielmehr über/untereinander, wobei eine theoretische Sichtweise nicht nur tiefer ist als eine andere, sondern die höhere (weniger tiefe) einschließt. Damit ist gemeint, dass die jeweils unteren Stufen nicht einfach verschwinden, wenn Menschen auf eine höhere (in der Logik Ken Wilbers "tiefere") Ebene ihrer Existenz hinaufsteigen. Die (theoretische) Entwicklung folgt vielmehr dem Gesetz der Inklusion und Transzendenz. Die obere Stufe (das "tiefere" theoretische System) enthält die unteren Stufen als seine Bestandteile oder Elemente. Es geht also um Transzendenz und nicht um Transformation.7 Die Stufen stehen in einer Beziehung wie ineinander geschachtelte russische Puppen oder chinesische Schachteln: die größere enthält die kleinere, ist aber nicht die kleinere. Sie ist ein vollständig selbständiges theoretisches System.

Während auf jeder Ebene der blinde Fleck dem Theoretiker den Blick verhüllt auf das was er nicht ausleuchten kann, bleibt der Fleck nicht unbeweglich im wissenschaftlichen Raum stehen. Er wandert - von Ebene zu Ebene. Aber nicht zufällig, vielmehr Gesetzen der holarchischen Evolution folgend. Die oben nicht gelösten Probleme werden auf die tiefere (umfassendere, integralere) Ebene durchgereicht.

Man kann aus dieser Logik heraus daher nicht sagen, die verschiedenen Schulen und Theorien gingen von verschiedenen Seiten an die ökonomische Wirklichkeit und den Wirtschaftsmenschen heran. Sie nähern sich vielmehr verschiedenen Ebenen des wirtschaftlichen Seins und des unternehmerischen Bewusstseins unter verschiedenen Blickwinkeln. Das geht auch nicht anders. Die eine muss ausblenden, was die andere beobachtet. Der Theoretiker und "Praktiker" (Keynes) operiert selektiv blind. Er könnte nur nacheinander andere Wirklichkeiten beobachten oder theoretisch konstruieren. Jeder Ansatz definiert ("sieht") eine andere Normalität.

Der Konjunktureinbruch ist für den neoklassischen Ökonom ein die gleichgewichtige Stabilität störender Unfall, für die Wellentheoretiker Kondratieff und Schumpeter Normalität kapitalistischer Entwicklung8 Entferne ich den "Unfall", entferne ich den Kapitalismus. Wer auf dem Weg ist, sagen Laozi und Zhuangzi, durchläuft Zyklen von Tod und Geburt. Entferne ich die Welle, lösche ich mit ihr den WEG des Lebens aus.

Was die Theorien leisten, ist die verschiedenen Ebenen der Wirtschaft theoretisch zu erkunden und zu konstruieren. Wenn wir somit verstehen, daß die verschiedenen Theorien und Therapeuten sich wohlbegründet an verschiedene Ebenen der ökonomischen Welt und des ökonomischen Bewußtseins ihrer Akteure wenden, können wir auch geduldiger und aufgeschlossener zuhören und verstehen lernen, was jede(r) einzelne in seiner besonderen Stufe zu sagen hat.

Theoretische Toleranz in diesem Sinne schließt die Aussage ein, daß das ökonomische Universum nicht in seiner Totalität wahrgenommen werden kann. Es existieren theoretisch konstruierte Parallelwelten. Fische können, wie ein chinesisches Sprichwort sagt, in reinem Wasser nicht leben.

Beispiel: Ohne Produktionsfaktoren und folglich historisch sich vollziehende Akkumulationsprozesse (1. Ebene), gibt es nichts zu optimieren (2. Ebene), läuft die schumpetersche Neukombination (3. Ebene) ins Leere und ist im System Wirtschaft eine Steigerung von Innovationsfähigkeit (4. Ebene) funktions- und sinnlos. Andererseits benötigt die Entwicklungswirtschaft kein Wachstum. Wie Schumpeter sagt, der in seiner Theorie alle weniger tiefen Stufen integriert; weil es auch dann noch "wirtschaftliche Entwicklung gäbe, wenn alle diese Momente [der weniger tiefen theoretischen Stufen] fehlen würden."9 Daraus folgt auch: Entwicklung ist nicht Evolution.10

Von der "tieferen" Ebene aus betrachtet: Ohne Kompetenzentfaltung wird das Innovationssystem ein Opfer des Gesetzes abnehmender Innovationserträge (bei gegebenen Fähigkeiten). Wer nicht neukombiniert, wird zum Gleichgewicht und Optimum durchgereicht, muss sich mit dem Gesetz der fallenden Profitrate vertraut machen oder kann nur noch durch Erschließen neuer (internationaler) Absatzmärkte und durch Monopolisierung und Expropriation weiteres Gewinn- und Skalenpotential erschließen: Lernen von Karl Marx.

Ein System - jedes System, nicht nur jedes Wirtschaftssystem, sondern auch jedes andere -, dass zu jedem gegebenen Zeitpunkt seine Möglichkeiten möglichst vorteilhaft ausnützt, kann dennoch auf lange Sicht hinaus einem System unterlegen sein, das dies zu keinem gegebenen Zeitpunkt tut, weil diese seine Unterlassung eine Bedingung für das Niveau oder das Tempo der langfristigen Leistung sein kann.

Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1950

"Wie das?" fragt der wirtschaftstheoretische Laie und dem MBA und Universitätscontroller sträuben sich die Haare. Total verrückt aus der Logik von Ebene 2. Wer so was in der Prüfung sagt, kann sein Diplom vergessen. Was Schumpeter hier formuliert, ist der nicht-konfliktfreie Übergang von einer Stufe des Funktionierens des Systems Wirtschaft (optimaler Ressourceneinsatz) zu einer "tieferen" Ebene innovativer Reproduktion mit (zunächst) gegebenen Ressourcen.

Aus der Inputlogik der zweiten Ebene sind Fehlallokationen systemische Schieflagen. In der Regel greift dann auch keine Selbstreparatur mehr, der Staat greift ein, der Controller sorgt für die operative Effizienz von Hochschule und Krankenkasse. Die Opportunitätskosten solcher - aus allokationslogischer Sicht - vernünftiger Maßnahmen sind entwicklungslogisch der Tod oder die Nicht-Geburt der Innovation. Gefahr: Man optimiert die falschen Dinge. Die falschen Dinge richtig tun. In anderen Worten: Die systemischen Kosten des blinden Flecks einer Ebene sind die Nichtverwirklichung bzw. stornierte Evolution der jeweils "tieferen" Ebene.

Eleganter formuliert der daoistische Philosoph Zhuangzi vor zweieinhalbtausend Jahren: "Vom Moment der Geburt an beginnt gleichzeitig der Tod, und vom Moment des Todes an beginnt gleichzeitig die Geburt. Jede Bejahung ist die Verneinung von etwas anderem, und jede Verneinung ist die Bejahung von etwas anderem."11 Wenn mein Ministerium Controlling bejaht (2. Ebene), verneint es kreative Forschung (3. Ebene) - und vice versa. Der Aufstieg der durchoptimierten Universität ist der Niedergang der wissenschaftlich unternehmerischen Universität. Noch einfacher gesagt: Man kann nicht alles (gleichzeitig) haben. "There is no free lunch." (Milton Friedman).

Verharrt man auf einer theoretischen Ebene, sieht man Ebenenkonflikte nicht. Weitere Beispiele hierzu:

Umwelt

Die Diskussion um Umweltprobleme zeigt die horizontale und vertikale Struktur des Blinden Flecks. Der intuitiv-theoretische Einstieg in die Ökologie ist die erste Ebene. Mehrverbrauch von Ressourcen, Aufnahmekapazität der Umwelt, Übernutzung, ökologische Grenzen des Wachstums, Club of Rome, Nachhaltigkeit, Schlagworte dieser Ebene. Für den Ökonom der zweiten Ebene ein theoretisches Trauerspiel. Malthus und kein Ende.

Die Märkte mögen nicht funktionieren. Aber Anreize funktionieren immer. Jedes Kind weiß, daß freie Güter übernutzt werden.

Der Sprung auf die dritte Ebene. Der Kyoto-Häretiker und Moralist George W. Bush in seiner Rede zur Lage der Nation 2003:

In this century, the greatest environmental progress will come about not through endless lawsuits or command-and-control regulations, but through technology and innovation. Tonight I'm proposing $1.2 billion in research funding so that America can lead the world in developing clean, hydrogen-powered automobiles. A single chemical reaction between hydrogen and oxygen generates energy, which can be used to power a car -- producing only water, not exhaust fumes. With a new national commitment, our scientists and engineers will overcome obstacles to taking these cars from laboratory to showroom, so that the first car driven by a child born today could be powered by hydrogen, and pollution-free.

Der Beobachter der ersten Ebene nimmt Mr. President seinen "naiven" Optimismus nicht ab. Zu kurz gedacht. Du wirfst einen Bumerang (eine Neuerung) in die Luft, er fliegt zurück - und erschlägt dich. Der Wachstumszwang der kapitalistischen Ökonomie, der Zwang zu erweiterter Produktion und Reproduktion und mit diesem die zunehmende Belastung der natürlichen Umwelt lassen sich durch technologische Innovationen nicht kompensieren. Ganz abgesehen vom massiven Widerstand der Wachstumsinteressen, die auch die Anreiz-Lösungen der zweiten Ebene zu torpedieren pflegen. Ethiker lieben die erste Ebene. Endlich etwas, auf was Kant hundertprozentig passt. Seit Kant lautet das entscheidende Prinzip der Moral: Ein Verhalten ist dann nicht moralisch, wenn es nicht verallgemeinert werden kann. Die Schlussfolgerung liegt, wie der Philosoph uns aufklärt, auf der Hand:

Wenn alle so lebten, wie die Menschen im Westen leben, würde die Erde innerhalb von 20-30 Jahren kollabieren... Daraus folgt etwas sehr Schlichtes: daß unser Lebensstil unmoralisch ist.

Und dann der Tiefschlag auf die ethische Niere:

Das zentrale Prinzip der ökologischen Ökonomie - das Konzept der carrying capacity - ist nicht in der Lage nachzuweisen, daß wirtschaftlichen Wachstum nicht nachhaltig sein kann. Ökologische Ökonomie [die Ökonomie der ersten Ebene] ist unfähig eine einzige Knappheit von Naturkapital nachzuweisen, welche Wissen und Erfindungsgabe nicht in der Lage sind zu vermindern.

Mark Sagoff, 1997

Löhne und Beschäftigung

Die Ich-AG ist ein Kind der ersten und zweiten Ebene. Arbitrage und Allokation, Anflugschneise für Routinegründer. Das Arbeitsamt finanziert einen Lohnfonds (erste Ebene) für drei Jahre, um einem Arbeitslosen die Aufnahme einer selbständigen Existenz zu erleichtern. Warum das Geld, das wir ohnehin auslegen müssen, nicht dafür nutzen, sich eine eigene Existenz aufzubauen? Der Gründer legt seinen Stundenlohn selbst fest. Er legt seine Arbeitszeit selbst fest. Mindestlohn und Kündigungsschutz existieren nicht mehr. Ein Allokationsparadies. "Die Grundlage alles anderen, ist eben nur auf dem Boden freier Arbeit möglich."12

Wie kann so etwas funktionieren? Kann jemand mit 800 Euro pro Monat im ersten Jahr (in den Folgejahren weniger) - und davon muß er auch leben - ein Unternehmen gründen? Kann er mit diesem Geld eine neue Kombination durchsetzen? Er kann sich Kaufkraft besorgen. Woher?

Von sich selbst. Selbstausbeutung (erste Ebene). Er verringert seinen Unternehmerlohn auf das Existenzminimum. Von der Bank bekommt er nichts. Vielleicht über ein 3F-Netzwerk (family, friends, fools). Je innovativer sein Vorhaben, desto schwieriger die Mobilisierung von Finanzkapital. Ohne Innovation fliegt er morgen aber wieder aus dem Markt. Was fehlt: seed financing für die Ich-AGs und ähnliche Konstruktionen. Gehen wir noch eine Ebene tiefer: Kompetenz, nicht nur fachliche, auch fachübergreifende, soft skills. Ohne unternehmerische Fähigkeiten - game over. Wo und wie lernt er diese - wenn er sie nicht schon mitbringt. Wer sie schon mitbrächte ist selten arbeitslos.13

Jeder der Ansätze hat somit etwas zu bieten. Erfinden wir daher: die integrale Ich-AG.

Löhne und Arbeitslosigkeit sind ein Thema ohne Ende. Die zweite Ebene (Sachverständigenrat): Löhne sind zu hoch, zu wenig differenziert nach Branche, Region etc., Flexibilität fehlt, haltet euch bitte an die volkswirtschaftliche Vernunft (im Durchschnitt keine höheren Löhne als der Produktivitätsanstieg) etc. "Niemand weiß, woher die sechs Millionen Arbeitsplätze kommen sollen, die so dringend benötigt werden."14 Niemand? Der Autor korrigiert sich korrekterweise selbst: "Was wirklich zu tun wäre, kann seit den neunziger Jahren in den Empfehlungen der Wirtschaftsweisen nachgelesen werden." Auch diese "Weisheit" ist leider eine theoretisch konstruierte. Auf einem Auge sieht sie scharf, auf dem anderen ist sie blind.

Vernunft gilt selbstverständlich immer nur ceteris paribus. Wie das Beispiel eines gewissen, für verrückt erklärten Henry Ford zeigt, der seinen Arbeitern über Nacht das Doppelte ($ 5 pro Tag) in ihre Lohntüte steckt. Ford: "Eine der besten Maßnahmen zur Senkung der Kosten, die wir je gemacht haben."15 Der Manager der zweiten Ebene glaubt alles durchoptimiert zu haben. Kein Raum für Verbesserungen. Das unternehmerische Handeln von Ford folgt der japanischen Kaizen-Philosophie mit ihrer Grundannahme: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist eine Tätigkeit niemals zufriedenstellend ausgeführt. Immer gibt es Verbesserungsmöglichkeiten. Kein Gleichgewicht, kein Maximum, kein Optimum.

Das Beispiel Henry Fords zeigt die Relevanz der Theorie der Parallelwelten und die Notwendigkeit einer De-Ontologisierung der Wirklichkeit. Was Henry Ford tut, läßt sich ganz unterschiedlich konstruieren, je nach theoretischer Brille. Der neoklassische Ökonom - negieren wir die Ausbeutungslogik der ersten Theoriestufe16 - sagt: Ford zahlte "Effizienzlöhne" (ein höherer Lohn erhöht die Leistungsintensität) und kann deswegen trotz Lohnsteigerung die Lohnstückkosten senken.17 Wie konnten nur die Hersteller von Postkutschen nicht auf eine solche Idee kommen? Durch Lohnsteigerungen Produktivität und Absatz massiv erhöhen - nur, wohin mit dem unverkäuflichen Schrott?

T-Modell von Henry Ford

Die dritte Ebene: Ford war ein Pionier des lean management, praktizierte Jahrzehnte vor den Japanern das, was heute als japanische Innovation gilt. Diese Innovationen erlauben es Ford, den Preis seines berühmten T-Modells in fünf Jahren zu halbieren und die Hälfte des amerikanischen Marktes zu erobern. Organisatorische und technologischen Neuerungen gestatten Henry Ford die Löhne zu erhöhen und trotz steigender Reallöhne mehr Arbeitskräfte nachzufragen und sie an sein Unternehmen zu binden

Die Freisetzung von Arbeitskraft (Arbeitslosigkeit) ist aus innovationslogischer Sicht immer auch Folge einer unternehmerischen Schieflage. Auf der vierten Ebene (Evolution) scheitert Henry Ford allerdings kläglich. Wie vielen Superunternehmern vernebelt Erfolg das schöpferische Denken. Erfolg führt zu Misserfolg. Er hört anderen Menschen nicht zu. Sein Narzissmus bringt ihn in Schwierigkeiten. Er verliert den Anschluss an die Innovationsdynamik. General Motors zieht vorbei. Die Pleite droht. Er lässt Maschinengewehre auffahren, um seine Arbeiter in Schach zu halten. "Henry Ford hat sich niemals verändert", urteilt ein Biograph18 - er vermochte nicht, sich selbst zu evolvieren.

Und endlich bringt VW das 2-Liter Auto auf den Markt, kann sich vor Aufträgen kaum noch retten, und gewährt seinen Mitarbeiten großzügig einen Bonus von 100 Prozent ohne Pleite zu gehen. Wie das? Natürlich hat die zweite Ebene Recht: ohne Innovation (d.h. wenn die Manager ihre Hausaufgaben nicht machen19) gibt es in einer offenen Volkswirtschaft mehr Arbeit nur durch Lohnsenkung. Ein ökonomisches Naturgesetz - und der Weg in die Armut. Irgendwann, und es dauert nicht lange, zahlen wir dem deutschen Arbeiter den gleichen Lohn wie seinem indischen und chinesischen Kollegen. Arbeit bleibt bezahlbar. Was gezahlt wird, wird immer weniger. Armut (sinkende Reallöhne) erhöht ceteris paribus die Nachfrage nach Arbeit. In der Suaheli gibt es keine Arbeitslosen. Auch im Neandertal sollen solche, nach jüngeren Erkenntnissen der Wirtschaftsgeschichte, unbekannt gewesen sein. In einer modernen Wirtschaft ist Armut en masse immer keine naturwüchsig entstandene sondern eine von der politischen Klasse ("Stimmen in der Luft hörend") in Harmonie mit bestimmten theoretischen Konzepten ("was irgendein akademischer Schreiber ein paar Jahre zuvor verfaßte") künstlich erzeugte.

"Die teutonische Plage"

Quelle: The Economist, 15. Mai, 2003

Ein Mitglied des Sachverständigenrats, Wolfgang Franz, legte kürzlich sein Werk "Arbeitsmarktökonomik" in 5. Auflage vor. Die theoretischen und empirischen Überlegungen des Autors fußen nahezu ausschließlich auf dem Paradigma der zweiten Ebene. Innovationsdynamik - "das für den Kapitalismus wesentliche Faktum"20 - existiert (fast) nicht. Unternehmertum - ein UFO (unbekanntes Forschungsobjekt). Unternehmensgründungen - kommen nicht vor. Aus der Sicht der dritten Ebene ist dasjenige theoretisch ausgeblendet, was die Arbeitsplatzdynamik, die Schaffung und Zerstörung von Arbeitsplätzen seit der industriellen Revolution ausmacht (Dies sei keine Kritik dieses ausgezeichneten Werkes).

Eine Wirtschaftspolitik auf der Grundlage der theoretischen Prinzipien der zweiten Ebene gilt in Deutschland als "modern"21 und als ein Reformsoll. Das mag auch richtig sein. Das neoklassische Denken der zweiten Ebene ist ja nicht "falsch". Es wird jedoch erst und nur in Verbindung mit Überlegungen der dritten Ebene für eine moderne Wirtschaft problemlösungsrelevant. Flexibilität, Kündigungsrechte, usw. machen in der Tat eminenten Sinn in einem Innovationsregime. Unter den Bedingungen einer "Neuen Ökonomie" - Verkürzung der Innovationszyklen, zunehmende weltwirtschaftliche Integration, unternehmerische Wissensgesellschaft - sind sie in der Tat unverzichtbar.

Der Ebene-2-Denker erschleicht sich die Wirkung seiner Reformvorschläge durch eine theoretisch nicht-reflektierte Anbindung an die kapitalistische Innovationsdynamik. Bringt man diese ins Spiel, erschließen sich Reformwelten, die dasjenige, was sich auf der zweiten Ebene abspielt, in den theoretischen und reformerischen Schatten stellen.

Die Kreditanstalt für Wiederaufbau legt ein Förderprogramm "Kapital für Arbeit" auf. Wenn ein bestehendes Unternehmen einen Arbeitsplatz schafft, erhält es einen Kredit. Bis Mittel April 2003 hat die KfW Kreditzusagen von 225 Mio. Euro gegeben. Neue Arbeitsplätze: 303322 (unterstellt sie seien neu, d.h. ohne Mitnahmewirkungen). Aufwand pro Arbeitsplatz 750,000 Euro. Es gibt Inkubatoren, die schaffen - via Förderung von neuen Unternehmen - einen Arbeitsplatz für ein Hundertstel dieser Summe. Mit dem KfW-Aufwand pro Arbeitsplatz ließen sich an allen 300 deutschen Hochschulen hochwirksame Inkubatoren aufbauen und für drei Jahre finanzieren. Statt 3000 hätten wir - über den Schumpeter-Effekt - ein Mehrfaches (vielleicht das Hundertfache) neuer Arbeitsplätze durch neue Unternehmen.

Wohlstand

Wo kommt er her, wie wird er produziert? Jede Ebene gibt eine andere, ihre, Antwort. Alle Antworten sind richtig, aber unvollständig.

Wie können die Einkommen langfristig pro Kopf steigen, wenn die verfügbaren Ressourcen nicht neu kombiniert werden (die Fragestellung der dritten Ebene: Schumpeter/Kondratieff)? Antwort:

  1. Erste Ebene: Ausbeutung, ursprüngliche Akkumulation, Diebstahl, Spezialisierung.
  2. Zweite Ebene: optimale Allokation + Ressourcenwachstum; ressourcenoptimiertes Inputwachstum ist der wichtigste Bestimmungsgrund des Outputwachstums.

Historisch betrachtet sind diese Wirkfaktoren längst erschöpft. Die Ostdeutschen (und Süditaliener)können ein Lied von den segensreichen Wirkungen dieses Paradigmas singen. Könnte eine Steinzeitökonomie mit Einflußfaktoren der ersten und zweiten Stufe in eine Hightech-Wirtschaft mutieren? Niemals, sagt die Logik der dritten Ebene.

Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums fallen westliche Berater wie Heuschrecken in die russische Föderation (und in die Territorien unserer "Brüder und Schwestern") ein. Was haben sie im Kopf? Die Denke der zweiten Ebene. Was liefern sie ab?

  1. Dritte Ebene: Innovation - Einkommen - Vermögen

In Deutschland stagnieren die Hauspreise seit Jahren mehr oder weniger (siehe Tabelle). Da die Durchschnittsfamilie einen großen Teil ihres Vermögens in Grund und Boden investiert hat, eine bittere Entwicklung. Was nach Steuern und Abgaben noch übrigbleibt, kassieren die Banken an Zinsen und Rückzahlung. Die Hoffnung früher: steigender Wert der Immobilie, eventuell Verkauf, höhere Beleihung, Mehrkonsum alimentiert durch ein höheres Vermögen (oft kreditfinanziert, da der Wert der Sicherheiten steigt), ein schöne Erbschaft. No more. Man mag es ein volkswirtschaftliches Verbrechen nennen. Wer sind die Verbrecher?

Willst du Deutschland oben sehen, musst du die Tabelle drehen: Hauspreise 1995-2002

Natürlich existieren auch hier wie sonstwo in den strukturellen Kopplungen zwischen Politik und Wirtschaft keine zuschreibbaren Verantwortlichkeiten: Verantwortungsdiffusion. Zum einen, weil die Komplexität der Ursache-Wirkungs-Ketten zu hoch ist, zum anderen, weil solche Ergebnisse nicht die Folge persönlicher Fehler sind - jeder hält sich an Gesetze und Verordnungen, jedermann tut seine Pflicht. Kant perfektioniert und mit Habermas durchdialogisiert.

Ergebnis: fast allen geht es schlechter. Deontologische Armut. Alles ist so reguliert, dass keiner mehr Verantwortung übernehmen muss. Für jede Entscheidung gibt es eine entlastende Regel. Sei es der Arbeitsmarkt, sei es der Markt für Immobilien, sei es der Niedergang der deutschen Universität, sei es Innovationsarmut.

Stagnierende Preise von Wohneigentum sind eine gewaltige Konjunkturbremse. Warum keine Nachfrage nach Immobilien? Kein Anstieg der verfügbaren Einkommen, um Kauf usw. zu finanzieren. Warum keine steigenden Einkommen? Keine Innovation, sagt der Ökonom der dritten Stufe.

"Danke schön, China"

"Im allgemeinen fallen unsere Kosten jedes Jahr um 15 Prozent", äußert Yu Yao Chang, Manager einer Fabrik, die im Perlenflußdelta (Hinterland von Hong Kong) Mikrowellenherde herstellt. Er behauptet, sein 13,000-Menschen-Fließband sei achtmal effizienter als Fabriken in entwickelten Ländern:

In Europa arbeiten die Menschen fünf Tage in der Woche, vielleicht sechs Stunden am Tag. Wir arbeiten mit drei Schichten zu jeweils acht Stunden, jeden Tag.

Zu allem Überfluss präsentiert er uns auch noch diese chinesische Weisheit (abgekupfert von David Ricardo, dem Erfinder des Theorems komparativer Kosten, 1. Ebene): "Die Leute draußen sollten China 'Danke schön' sagen, weil wir ihnen Geld einsparen helfen, mit dem sie Güter hoher Wertschöpfung kaufen können."23 Bei der sprichwörtlichen chinesischen Höflichkeit meint er wohl mit hoher Wertschöpfung Krankenkassenbeiträge, Ökosteuer, usf.. Recht hat er.

Auf der dritten Ebene spielen Löhne (generell Kosten) natürlich auch eine Rolle. Aber die Fragen sind andere: Warum wird die deutsche Wirtschaft, was ihre Innovationsdynamik angeht, nach unten durchgereicht.24 Was hindert deutsche Manager daran, ihre unternehmerischen Hausaufgaben zu machen? Wer sie nicht macht, wird vom Markt abgestraft, und mit ihm das Humankapital, das er (auf der zweiten Ebene) optimal kombiniert und durch Supercontrolling im Griff behält. Und sie machen sie nicht (siehe Tabelle). In der Umsatzstruktur im verarbeitenden Gewerbe herrscht in Deutschland Stagnation und Schrumpfung: 51.4 Prozent des Umsatzes geht in stagnierende Märkte (Jahr 2002). Und in schrumpfenden Märkten machen deutsche Manager 16,1 Prozent ihres Umsatzes (siehe die Tabelle mit der Umsatzstruktur im verarbeitenden Gewerbe Deutschlands). Nahezu 70 Prozent des Absatzes der deutschen Industrie gehen in potentiell tote Märkte. China, Indien und andere Neuindustrialisierer rollen die deutschen Produkt- und Technologiezyklen von hinter her auf, in der Pionier- und Wachstumsphase spielt sich zuwenig ab, um die Wirtschaft auf einem Wachstumspfad zu halten.

Ave Konfuzius, die Todgeweihten grüßen dich

Umsatzstruktur (in %) im verarbeitenden Gewerbe Deutschlands

Was helfen hier Lohnsenkungen usf.? Zunächst wäre der Nachweis zu führen, niedrigere Reallöhne würden Neuerungsverhalten stimulieren.25 Auf der zweiten Theorieebene ist das nicht möglich. Hier herrscht ein Flachland der Innovation. Was eine Anpassung der Löhne an die "Realität" bewirken könnte, wäre, zum Tode verurteilten Unternehmen, Märkten und Regionen noch ein wenig Lebensatem einzuhauchen. Aus einem Greis wird kein Baby mehr. Aber vielleicht kann der Greis noch Babys (Innovationen) erzeugen, wenn er sich dazu entschlösse, nanotechnologisch erzeugtes Hunzawasser zu trinken. Dafür spricht fast nichts: "Barbarische Mängel" (Karl Marx) einer innovationslosen Ökonomie.

Zur Stärkung unserer Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der Eisenbahn und zur Erhaltung der Arbeitsplätze fordern wir: eine drastische Senkung der Löhne.

Verband der Postkutschen- und Pferdefuhrwerkmanufakturen e.V.

Der nachhaltige (nicht räuberisch erworbene) Reichtum der Nationen, aller Nationen, ist Ergebnis der Fehlallokation von Ressourcen. Schumpeter sei noch einmal zitiert:

Das Erziehungsschutzargument (Protektion des heimsichen Marktes zwecks Aufbau neuer Industrien) hat eine gewisse Gültigkeit. Und es ist nur der Spezialfall einer viel größeren Wahrheit: daß Protektion und andere Eingriffe in den internationalen Handel dazu beitragen, neue Dinge zu schaffen und es leichter machen könnten, Fortschritte in den Methoden der Produktion und der industriellen Organisation zu verwirklichen.

Schumpeter

Dies ist eine im Sinne von Karl R. Popper widerlegbare (falsifizierbare) Hypothese, die zudem der oben angesprochene Holon-Logik folgt. Protektion ist ceteris paribus Ressourcenverschwendung. Die Bedingungen unter denen diese jedoch Entwicklung erzeugt, lassen sich auf der Allokationsebene nicht behandeln. Dazu wäre sie in die Entwicklungslogik zu integrieren; sie würde Teil eines tieferen Theorieholons, Teil einer größeren Wahrheit. Eingriffe in den Markt können unter Bedingungen, die erst auf der dritte Stufe sich theoretisch reflektieren lassen, dazu beitragen, "neue Dinge zu schaffen" und es "einfacher machen" technischen Fortschritt hervorzubringen. Wie so etwas theoretisch möglich ist und praktisch machbar ist, liegt außerhalb der zweiten - allokationslogischen - und ersten - akkumulationstheoretischen - Ebene.

Adam Smith (erste Ebene) bestreitet überhaupt nicht, daß so etwas wie das von Schumpeter Behauptete möglich sein könnte. Dennoch bringt es der Volkswirtschaft nichts.

Freilich mag mit Hilfe einer solchen Steuerung der eine oder andere Erwerbszweig rascher eingerichtet oder aufgebaut sein, als es sonst der Fall gewesen wäre...Und dennoch wird hierdurch ... das Volkseinkommen niemals gesteuert werden können, obgleich die Erwerbstätigkeit im Lande früher, als es vielleicht sonst geschehen wäre, durchaus mit Erfolg in eine bestimmte Richtung gelenkt worden ist. Der Grund hierfür ist leicht einzusehen: Die Erwerbstätigkeit ... kann nur in dem Umfang zunehmen, in dem seine Kapitalausstattung größer wird, und diese Zunahme wiederum hängt davon ab, wieviel die Bürger aus ihrem Einkommen nach und nach sparen können. Indes ist die unmittelbare Folge eines solchen Eingriffs, daß das Volkseinkommen zurückgeht ....

Adam Smith

Der Begründer der Nationalökonomie sieht also einen Konflikt zwischen Erziehungsschutz und Akkumulation. Der erste mag wirken, wird aber durch die Akkumulationsdynamik zunichte gemacht. Die Schumpeterlogik: Für Innovation bedarf es keiner Zunahme der Kapitalausstattung und keiner Ersparnis; verfügbare Ressourcen werden neukombiniert; falls erforderlich durch Bankkredit beschafft. Eine andere theoretische Welt.

Gibt es eine Nation, die durch freie, den Prinzipien der zweiten Ebene folgende, Handelstransaktionen zu Wohlstand gekommen ist? Es geht hierbei nicht um die Länder, die heute an der Spitze der Wohlstandsleiter stehen, sondern um jene, welche die Leiter nach oben klettern. Sie müssen, folgen wir dem obigen Theorem Schumpeters und der Logik unseres Arguments, mindestens auf die Stufe der schöpferischen Reallokation hinaufsteigen. Schaffen sie das nicht, oder werden sie daran gehindert (von denen, die bereits oben sind), oder weil sie glauben, das Leben auf einer Stufe der Allokation sei bereits das Größte, was man in diesem Leben erreichen kann, dann bleiben sie eben unten. Durchoptimiert - aber arm - eine deutsche Universität eben. Wir hatten es schon einmal: eine Reagrarisierung Südbayerns. Die Bayern und ihr Mantra der Planungssicherheit - Pioniere beim Schleifen des Standorts Deutschland?

Wir diskutieren hier Beispiele von Stufenkonflikten zwischen der zweiten und dritten Ebene. Zwischen 3 und 4 ereignet sich ähnliches.

Fusionen und Übernahmen sind auf der ersten Ebene Akkumulations- und Machtfragen. Im neoklassischen/österreichischen Paradigma rücken die im Markt zu entdeckende optimale Betriebsgröße und Synergie, economies of scale and scope, statische Effizienz/Allokations-probleme also, in den Mittelpunkt. Probleme der Neukombination und somit dynamische Effizienzwirkungen (Schumpetereffizienz) lassen sich erst auf der dritten Ebene theoretisch durchleuchten und wirtschaftspolitisch beeinflussen. (Was nicht bedeutet statische Effizienz oder Machtfragen seien irrelevant. Sie liegen jedoch auf einer anderen, weniger tiefen theoretischen und konzeptionellen Ebene. Die Innovationsstufe schließt sie ein, integriert sie theoretisch, aber nicht umgekehrt).

Wie wirken Zusammenschlüsse auf die Innovationsleistung bestehender Unternehmen und potentielle Konkurrenz? Die evolutionäre Dimension rückt erst auf der vierten Stufe ins Blickfeld. Steigern oder verringern M & A die Fähigkeit von Unternehmen, neue (innovative) Potentiale für Wertschöpfung zu erschließen? Wie beeinflussen Kompetenz und Tugendethik der Unternehmensführer die Aufkaufneigung? M&A als Egonahrung. Was bliebe von Zusammenschlüssen, wenn die, die sie betreiben, andere Menschen wären?

Die Probleme einer Ebene lassen sich erst auf der nachfolgenden Ebene überwinden. Jede Ebene ist blind für die Relativität ihrer Sichtweise. Jeder tanzt um sein Goldenes Kalb. "Madmen in authority". Der Wirtschaftspolitik fehlt die theoretische Integrationskraft und damit auch konzeptionelle Effektivität.

In modernen Gesellschaften lässt sich Wirtschaftspolitik als politische Steuerung eines operational geschlossenen Wirtschaftssystems nicht paradigmenrein umsetzen. Konzeptionelle Schwerpunkte sind allerdings unschwer auszumachen (letzte Spalte der ersten Tabelle; lückenhaft; nur illustrativ). Kein Ansatz ist richtig oder falsch, nur einseitig und unvollkommen. Jeder Ansatz konstruiert seine eigene Welt, mikro- und makroökonomisch. Es existieren theoretische und konzeptionelle Parallelwelten - und verdrängte Wirklichkeiten. Was ist das Gemeinsame von Pilz, Heuschrecke und Wissenschaftler? Jeder lebt in seiner Welt.

Der Pilz, der schon am Morgen sprießt und schon am Abend stirbt, weiß nichts über den Unterschied zwischen Tag und Nacht. Die Heuschrecke kennt nicht den Unterschied zwischen Frühling und Herbst.

Zhuangzi

Die große Bifurkation besteht zwischen den Ansätzen in der oberen und unteren Hälfte der Aufstellung. Die beiden oberen beschreiben wirtschaftliche Welten und politische Aktionsräume mit Akteuren und Prozessen ohne Entwicklungsperspektive: wirtschaftliche Welten ohne Innovation und Evolution. Eine Steinzeitökonomie in einer Entwicklungsfalle wie ein Hightech-System in einem high-level-equilibrium-trap (Japan) ließen sich theoretisch identisch simulieren - und wirtschaftspolitisch durch identische Aktionsparameter steuern. Sie unterscheiden sich in ihrer Komplexität, nicht in ihrer "Organisation" (Maturana). In ihren Politikkonzepten kommen Aktionsparameter zum Einsatz, die auf den tieferen Ebenen theoretisch nicht greifen können - auch wenn die Praxis mit solchen Parametern arbeitet. Das bedeutet nicht, sie seien wirkungslos. Ein Eskimo im Führerstand des Transrapid kann viel bewirken. Was sie nicht bewirken können: Entwicklungs- und Evolutionsprozesse theoretisch kontrolliert zu beeinflussen und zu fördern. Wo es Strukturen, Prozesse und Kompetenzen zu entwickeln und zu evolutionieren gilt, beobachten wir ein durchgängiges Scheitern des Neoliberalismus - der allerdings auf seiner Reflexionsebene niemals scheitern kann. Die Freuden des Nirwana. Auch die Freuden des Nobelpreises (Alle Preise fallen auf Vertreter der zweiten Ebene).

Worin zeigt sich ein Fehlen hierarchischer Integrationskraft der Politik? (1) Wenn die hierarchischen Ebenen konzeptionell und wirkungspolitisch nicht integriert sind: eine Stufe arbeitet gegen eine andere oder in Unkenntnis der Beschränkungen und Potentiale der anderen (Konzepte und Maßnahmen der Ebenen 1 und 2 wirken - nicht notwendigerweise, aber in der Praxis fast regelmäßig - gegen eine Entfaltung der Wirkungsmechanismen der Innovations- und Evolutionsebene; Beispiel: anti-innovative Wettbewerbspolitik; Zerstörung der Reflexionskompetenz - vierte Ebene - durch eine kommerzialisierende Liberalisierung von Rundfunk und Fernsehen); (2) geistige und emotionale Intoleranz gegenüber anderen hierarchischen Wirkungsebenen. Jede Ebene hat Einsichten und Wirkungspotentiale zu bieten, über welche die anderen nicht verfügen (können).

Ein Trost, dass wir alle in unseren Paradigmen träumen. Erst wenn wir aufwachen, wissen wir, wir haben geträumt.

Während man träumt, weiß man nicht, dass man träumt.

Zhuangzi

Wie oder wann wissen wir, dass wir (theoretisch) aufgewacht sind? Und wenn wir aufwachen, sind wir uns sicher, daß wir nicht doch noch träumen? In unserem Paradigma? Leben wir in theoretischen Gefängnissen, in denen wir nur "frei träumen", uns aber nicht frei "machen" können?26

12. November 2002
Überarbeitung: 30. August 2003