Blindflug und ein fragwürdiges Narrativ

Der Ton wird generell schärfer und aggressiver in Deutschland. Während die Schuld an der Krise oftmals eindeutig den Ungeimpften zugeschoben wird, gehen wichtige Fragen und Aspekte der aktuellen Krise unter. (Teil 2)

In seinem ersten Interview als Bundeskanzler erklärt Olaf Scholz kategorisch: "Wir haben eine hohe Impfquote. Wir haben nur nicht eine ausreichend hohe Quote, um zu verhindern, dass von den Ungeimpften jetzt die Infektionen über uns alle wieder kommen."

Es erstaunt ein wenig, dass der Bundeskanzler ein so eindeutiges Urteil fällt, die Ungeimpften seien der Ursprung der derzeitigen Explosion der Ansteckungen. Mit anderen Worten, die Infektionen der Geimpften seien also die Folge der Ansteckung durch Ungeimpfte. Wie man in einer laufenden Pandemie überhaupt von einem Ursprung sprechen kann – abgesehen vom berühmten Patienten Null – erschließt sich nicht ganz.

Einmal mehr gibt es in dieser scheinbar eindeutigen Aussage, wer der Pandemietreiber sei, aber eine wichtige Unbekannte. Vergleicht man nämlich die Wahrscheinlichkeiten beider Gruppen, vergleicht man in Wirklichkeit zwei objektiv ungleiche Gruppen, ohne dies jedoch ausdrücklich zu betonen.

Da sich Geimpfte nicht testen lassen müssen und Ungeimpfte dies oftmals sogar täglich tun (müssen), ist zum einen schlicht aufgrund der unterschiedlichen Testhäufigkeit eine deutliche höhere Infektionsrate bei Ungeimpften zu erwarten.

Zum anderen werden aber auch asymptomatisch infizierte Geimpfte – im Gegensatz – zu Ungeimpften nicht gemeldet. Auf Nachfrage von Telepolis konnte das RKI keine Zahl der asymptomatisch infizierten Geimpften in Deutschland nennen.

Blindflug

Betrachtet man die derzeitige Explosion der Infektionszahlen scheint sie rein logisch nur teilweise durch die Infektion von Ungeimpften begründet zu sein. Die Ausführungen von Prof. Alexander Kekulé vom Anfang September sind in dieser Hinsicht geradezu prophetisch und lohnen ein längeres Zitat:

Hinzukommt, dass sich Geimpfte und Genesene im Vertrauen auf ihren vermeintlich sicheren Impfschutz eher unvorsichtig verhalten. Wenn sie sich dann anstecken, vermuten sie häufig keine Corona-Infektion, isolieren sich nicht und lassen sich auch nicht testen. Während die häufig proklamierte "Welle der Ungeimpften" anhand der Tests und Krankenhauseinweisungen sichtbar und berechenbar ist, rauscht die Welle der Geimpften wie ein Tarnkappen-Bomber durch die Bevölkerung. Die Vorstellung des RKI, dass dies für die Epidemie unbedeutend wäre, ist eine Illusion: Außerhalb der 2G-Gaststätten treffen geimpfte Infizierte natürlich ständig mit Ungeimpften zusammen. Das 2G-Modell schützt deshalb Ungeimpfte nicht, sondern setzt sie, im Gegenteil, durch steigende Inzidenzen einem höheren Infektionsrisiko aus. Wenn sich das Virus dann massiv unter Kindern und Jugendlichen ausbreitet, sind Schulschließungen vorprogrammiert. Für die große Freiheit der Großen zahlen am Ende die Kleinen.

Alexander Kekulé

Monokausales Denken

In der Konsequenz zeigt sich auf jeden Fall, dass die Impfung leider deutlich kürzer vor einer Erkrankung und einer möglichen Weitergabe schützt als erhofft. Ganz in diesem Sinne warnt Günter Kampf (Universität Greifswald) in einem offenen Brief in der renommierten Fachzeitschrift The Lancet, dass die Stigmatisierung der Ungeimpften nicht gerechtfertigt sei.

Interessant auch in diesem Zusammenhang ein Artikel aus dem Deutschen Ärzteblatt, der auf die Parallelen zur Entwicklung in Israel verweist und die Bedeutung der Impfdurchbrüche dort betont:

Israel war im Dezember letzten Jahres eines der ersten Länder, das die Bevölkerung gegen COVID-19 geimpft hat. Die Impfquote war hoch und das Land schien gegen weitere Erkrankungswellen geschützt. Doch im Juli stiegen die Infektionszahlen wieder rasch an. Getragen wurde die 3. Welle vor allem durch zahlreiche Impfdurchbrüche.

Deutsches Ärzteblatt

Es ist zweifellos richtig, dass dank der Impfung deutlich weniger Infizierte nun auf der Intensivstation eines Krankenhauses landen oder an Sars-CoV-2 versterben. Die Wahrscheinlichkeit nach einer Erkrankung einen gravierenden Krankheitsverlauf zu erleiden, ist definitiv gesunken.

Außer Zweifel steht aber auch, dass die aktuelle Explosion der Infektionszahlen kaum nur durch Ungeimpfte, die 27 Prozent der Deutschen darstellen, zu erklären sind.

Woraus unmittelbar einsichtig sein sollte, dass eine einseitige Schuldzuweisung an die Ungeimpften deutlich zu kurz greift, wonach sie der Grund für die aktuelle Krise seien und die Tatsache, dass das Versprechen nicht eingehalten wurde, demzufolge nach einer breit angelegten Impfung die Herdenimmunität erreicht (die mal bei 70 Prozent angesetzt wurde) werden würde und die Gesellschaft wieder zur Normalität zurückkehren könne.