Blindflug und ein fragwürdiges Narrativ
Seite 3: Schutz des Gesundheitssystems
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Der Schutz des Gesundheitssystems ist offiziell die entscheidende Motivation der Corona-Maßnahmen. Letztendlich werden alle Maßnahmen mit den begrenzten Betten gerade auf den Intensivstationen deutscher Krankenhäuser begründet.
Dieses Ziel ist zweifellos richtig. Zweifellos richtig ist aber auch, dass die Situation deutscher Krankenhäuser auch ohne eine vierte Welle massiv gelitten hat. 6.300 Intensivbetten gingen innerhalb eines Jahres verloren.
In den ersten zehn Monaten des Jahres waren es allein deutlich über 4.000 Betten laut dem Präsidenten der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Gernot Marx.
Der Grund: Fehlendes Pflegepersonal. Jede Pflegerin und jeder Pfleger, die aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen das Handtuch schmeißen, führt zum Verlust von 2,5 Intensivbetten.
Sebastian Köhler kommentierte hierzu auf Telepolis:
Das heißt, ohne die dramatische Lage für jeden Einzelfall damit zu leugnen, dass das Drama gesamtgesellschaftlich ganz wesentlich vom massiven Notstand in der (Intensiv-)Pflege bestimmt sein dürfte.
Sebatsian Köhler
Die Stellungnahme des DIVI "zur Stärkung und Zukunft der Intensivpflege" vom 1. April dieses Jahres – also, vor gut acht Monaten – findet sehr klare Worte:
Die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte müssen sich dringend ändern. (….) Wenn wir jetzt nichts tun, und die Pflegekräfte gehen, dann bekommen wir ein existentielles Problem in der Intensivmedizin! (…) Es gibt kein Intensivbett ohne Pflege! Wir Ärzte stehen nicht den ganzen Tag am Bett der Patienten – das sind die Pflegenden.
Was ist in diesen acht Monaten geschehen? Und: Warum ist das Versäumnis in diesen achten Monaten kein Thema? Weder im Wahlkampf noch heute?
Es brennt
Die fragile Situation in deutschen Krankenhäusern ist also keineswegs über Nacht gekommen. In einem Brandbrief der Intensivpfleger der landeseigenen Vivantes-Krankenhäuser schlagen diese Alarm. Die taz berichtet:
Seit Oktober hätten sie den Brandbrief bereits drei Mal an alle entscheidenden Politiker:innen gesandt, erzählt (die Pflegerin Stella) Merendino. Lediglich Bettina König, SPD-Politikerin und Mitglied des Gesundheitsauschusses, habe überhaupt reagiert – und auch sie habe nur vage zugesagt, sich mit den Forderungen auseinanderzusetzen. "Mein Eindruck ist, dass in der Politik kaum jemand Ahnung besitzt oder auch nur Interesse für die Situation in den Notaufnahmen zeigt", sagt Merendino frustriert. Ihr Eindruck: "Wir werden von Politik und Klinikleitung im Stich gelassen."
Ein Beispiel: "Mehr als 800 Intensivbetten können in der Region Berlin-Brandenburg derzeit nicht genutzt werden, weil Fachpersonal fehlt. Manche sind abgewandert, andere in Teilzeit - und viele erkrankt. Die Kliniken warnen: Die Personalnot ist so groß wie nie während der Pandemie."
Das Ärzteblatt erklärt die Hintergründe der komplexen Situation in den Krankenhäusern:
Demnach wies Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen der Technischen Universität (TU) Berlin, auf das Paradox hin, dass Krankenhäuser einerseits so überlastet wie nie seien, auf der anderen Seite aber jedes dritte Bett leer stehe: "Denn nur rund 450 Krankenhäuser verfügen über die notwendige intensivmedizinische Erfahrung zur Behandlung von Covid-19-Patienten."
Die rund 1.000 weiteren, kleineren Akutkrankenhäuser seien überdurchschnittlich leer, würden zugleich aber Personal binden, das in den anderen Kliniken bei der Corona-Versorgung fehle. "Erneute Maßnahmen zur Sicherung von genügend Intensivbehandlungskapazität sollten sich also an dem Ziel orientieren, dass Intensivkapazitäten in den 450 genannten Krankenhäusern auch wirklich zur Verfügung stehen, also mit Personal ausgestattet sind", mahnte Busse als Mitglied des Fachbeirates des Bundesgesundheitsministeriums. (…)
"Zusätzliche Intensivkapazitäten, insbesondere das zusätzliche, qualifizierte Personal, erfordern auf der einen Seite das Aussetzen aller elektiven Eingriffe und sehr hohe Prämien an alle diejenigen, die entweder frustriert aufgegeben oder aber ihre Stellen reduziert haben", unterstrich er. Gleichzeitig müsse denjenigen, die trotz der unfassbaren Belastung geblieben sind, eine Aufstockung ihres Gehaltes in gleicher Form gewährt werden".
Der Internist Matthias Schrappe betonte in diesem Zusammenhang auf Telepolis:
Wir haben schlicht nachgewiesen, dass die Mittel zur Unterstützung der Krankenhäuser gar nicht bei den Ärzten und Pflegenden vor Ort, also im Behandlungszusammenhang, angekommen sind, sondern zur Verschönerung der Bilanzen und Dividendenzahlungen verwendet wurden.
Es wurden Intensivbetten bezuschusst, die nie aufgestellt wurden, und plötzlich kam es zu einem Pflegekräftemangel - ohne dass aus der politischen Führung entschieden gegengesteuert worden wäre.
Es wäre eine gute Option gewesen, statt mit hängenden Schultern die neuen Zahlenanstiege zu verkünden, eine konzertierte Nationale Pflegekampagne ins Leben zu rufen. Wertschätzung!
Matthias Schrappe in Telepolis
Die Politik hat nun Lösungen für dieses Problem. Allerdings erstaunlicherweise insbesondere von Politikern, die nicht mehr in Amt und Würden sind. Am ersten Tag der neuen Regierung forderte Markus Söder eine Gehaltsverdoppelung für Intensivpfleger. Und vor zwei Wochen schlug Jens Spahn einen Bonus für Intensivpfleger von "5000 Euro plus x" vor.
Unabhängig davon ist es so, dass eine kurzfristige Lösung möglich ist: die sofortige deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen in deutschen Krankenhäusern. Den Pflegerinnen und Pfleger, die ihren Arbeitsplatz gekündigt haben, kann heute ein vernünftiges Angebot gemacht werden, damit sie zu ihrer Arbeitsstelle zurückkommen, wo sie jahrelang Menschenleben gerettet haben.
Wer den Schutz des Gesundheitssystems ernst meint, kann diesen zwingenden Schritt nicht verweigern. Wer den Schutz der Gesundheit der Deutschen ernst meint, kann diesen Schritt ebenfalls nicht verweigern. Warum wird aktuell aber nur die Impfpflicht diskutiert, die rechtlich bedenklich ist und die Gesellschaft extrem spaltet, wohingegen eine Verbesserung des Gesundheitssystems, auf das sich alle sollten einigen können, kaum auch nur erwähnt wird?
Aktuell ist nun die Impfpflicht für Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen verabschiedet worden.
Es bleibt nur zu hoffen, dass diese Impfpflicht nicht zu einer Kündigungswelle und einer noch dramatischeren Verschlechterung der Krankenhaussituation führen wird, wenn Mitarbeiter, die sich nicht impfen lassen möchten, die Kündigung einreichen. Die Erfahrung aus Frankreich ist hier besorgniserregend. Denn nachdem dort eine entsprechende Pflicht eingeführt worden war, wurden 3.000 Pflegekräfte vom Dienst freigestellt.