Bloß nicht blinzeln!

Das Detektivspiel L.A. Noire macht die Mimik zum heimlichen Hauptdarsteller

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Räume zu erschaffen, die gleichzeitig neu und vertraut erscheinen - darin war die Firma Rockstar Games schon immer besonders gut. Die Straßen von Liberty City ähneln denen New Yorks, bieten aber an jeder Ecke Szenen, wie es sie eigentlich nur in Mafia-Filmen gibt. Auch in der Wildnis von Red Dead Redemption wartet hinter jedem Strauch ein neues Abenteuer: Der ziellose, erwartungsfrohe Ritt durch die Prärie zählt zu den beeindruckensten Momenten des Spiels. Kurzum: Rockstar hat die Open World mit popkulturellen Zitaten vollgepackt, die es zu entschlüsseln gilt; das allzu bekannte Unbekannte wurde zum Markenzeichen.

Da ist es wenig verwunderlich, wenn Rockstars neuer Titel L.A. Noire erst einmal in den selben Topf geworfen wird wie GTA und RDR. Tatsächlich wirkt das sorgfältig rekonstruierte Los Angeles des Jahres 1947 zunächst wie ein Ort, der sich schier endlos erkunden lässt. Doch der erste Eindruck täuscht: L.A. Noire ist kein Abenteuerspielplatz, die Qualitäten dieses Spiels liegen ganz woanders.

Bar jeder ironischen Brechung zeigt L.A. Noire eine Stadt, deren Bewohner auseinanderdriften: An der Oberfläche leben die Kleinbürger den amerikanischen Traum, darunter lauern Rassismus, Korruption und organisierte Kriminalität. Cole Phelps ist ein Kriegsveteran, der sich in den Dienst des LAPD gestellt hat: Anfangs noch Streifenpolizist, führt ihn seine Karriere über Mord-, Verkehrs- und Sittendezernat. Schon bald lernt Phelps, dass sich Verbrechensbekämpfung in einer moralischen Grauzone abspielt: Die Chefs machen Druck, weil die Öffentlichkeit schnelle Fahndungsergebnisse sehen will - Phelps' wechselnde Ermittlerkollegen sind bei der Suche nach Schuldigen deshalb nicht gerade zimperlich.

Auf seinem Weg durch die Dezernate bekommt Phelps einen Mordfall nach dem anderen serviert, die Vorgehensweise ist dabei weitgehend identisch: Die Ermittler fahren an den Tatort, untersuchen die Leiche, sprechen mit Zeugen und sichern mögliche Beweisstücke, dann folgen Besuche bei den Angehörigen des Opfers und Hausdurchsuchungen bei Tatverdächtigen. Letztere zeigen oft wenig Kooperationsbereitschaft und entziehen sich der Befragung durch Flucht. Der eigentliche Showdown findet aber in der Verhörzelle statt. Hier zählt nicht nur die Aussage des Verdächtigen, sondern auch seine - möglicherweise verräterische - Mimik. Und hier wird auch die spektakuläre Neuerung von L.A. Noire zum zentralen Spielelement: die MotionScan-Technologie des australischen Co-Entwicklers Team Bondi.

MotionScan leistet etwas, das noch erheblichen Einfluss auf künftige Spiele haben dürfte: Es verleiht den Figuren emotionale Tiefe, indem es menschliche Gesichtsregungen täuschend echt abbildet. Mit 32 kreisförmig angeordneten Kameras werden sämtliche Bewegungen des Schauspielerkopfes auf ein 3D-Modell übertragen - seien es nun zuckende Mundwinkel, ein nervöser Lidschlag oder ein fahriger Blick zur Seite. Für den Ausgang des Verhörs sind diese Körpersignale mitentscheidend: Entgleisende Gesichtszüge liefern einen Hinweis darauf, dass der Verdächtige lügt. Doch Vorsicht: Der Spieler sollte die Aussage nur dann als Lüge bezeichnen, wenn er über handfeste Beweise verfügt. Andernfalls läuft er Gefahr, dass das Gegenüber jede weitere Zusammenarbeit verweigert. Mittlerweile kursieren im Netz diverse Strategien, wie sich aus Verhören das Beste herausholen lässt - mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden.

Insgesamt 21 Fälle hat Phelps im Lauf des Spiels zu lösen, jeder dauert zwischen 40 Minuten und einer Stunde. Der episodische Erzählstil von L.A. Noire erinnert an eine TV-Serie, zahlreiche Cutscenes verstärken diesen Eindruck noch. Das Drehbuch - deutlich von Chandler und Ellroy beeinflusst - stammt aus der Feder von Brendan McNamara. Für das Motion Capturing verpflichtete McNamara eine ganze Reihe bekannter Schauspieler, allen voran Aaron Staton (Mad Men) als Cole Phelps.

Auch wenn Staton seine Sache gut macht, stiehlt ihm der eine oder andere Nebendarsteller die Schau, vor allem Andrew Connolly beeindruckt als bärbeißiger Chef des Morddezernats. L.A. Noire bietet eine Menge knackiger Dialoge - dank deutschsprachiger Untertitelung bleibt die Atmosphäre erhalten. Überhaupt ist das Spiel ein atmosphärisches Meisterwerk: Das fängt beim Jazz-Soundtrack an und hört bei den detailverliebt nachgebauten Einrichtungsgegenständen der Häuser auf. 40er-Jahre-Schlitten, Plakatwerbung, Fedora-Hüte: bei der Ausstattung stimmt einfach alles.

Trotz beeindruckender Schauwerte beschleicht den Spieler das Gefühl, dass L.A. Noire einen Teil seines Potenzials verschenkt. Anders als etwa Heavy Rain bietet es keine alternativen Erzählstränge, sondern spult die Episoden linear ab; Ermittlungsfehler haben keine Auswirkungen auf die übergeordnete Handlung, sondern nur auf die Punktevergabe. Besonders im ersten Drittel des Spiels wirken die Fälle reichlich monoton, denn das Sammeln von Beweisen ist vor allem eines: Fleißarbeit. Später, wenn die Handlungsfäden zusammenlaufen, macht die Story richtig Spaß, auch deshalb, weil dann endlich die Kriegsrückblenden und Zeitungsausschnitte in den Kontext eingeordnet werden.

Faustkämpfe, Schießereien und Verfolgungsjagden dienen in L.A. Noire bestenfalls als Auflockerung und sind nicht - wie in GTA und RDR - zentrales Spielelement. Ein klassisches Open-World-Game mit fordernden Side-Quests ist L.A. Noire ohnehin nicht, auch wenn die riesige Stadtkarte etwas anderes suggeriert. Wer sich auf das gemächliche Tempo einlässt, findet in Rockstars neuem Titel eine unterhaltsame und äußerst stilvolle Mischung aus Film und Detektivspiel. Auf ein Gangster-Epos mit MotionScan darf man sich schon jetzt freuen.

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