Blutige Lösung in Mexiko
Paramilitärs, Polizei und Armee greifen die Stadt Oaxaca an
“Mexikaner, zum Ruf des Krieges“, heißt es in der ersten Strophe der Nationalhymne des mittelamerikanischen Landes. In Oaxaca, der Hauptstadt des gleichnamigen südlichen Bundesstaates, wurde dieses Motto am Ende der Woche zur blutigen Realität. Nachdem die Stadt über gut fünf Monate hinweg von einer „Volksversammlung“ besetzt gehalten wurde (Die Lage in Mexiko eskaliert), die mit Unterstützung Hunderter sozialer Organisationen und linker Gruppen den Rücktritt des Gouverneurs Ulises Ruiz forderte, griffen am Freitagnachmittag in einer offenbar langfristig geplanten Aktion paramilitärische Einheiten die besetzte Stadt an und töteten mehrere Menschen. Am Samstag mobilisierte der scheidende Präsident Vicente Fox die Armee.
Aufgrund der Ereignisse des gestrigen Tages in der Stadt Oaxaca, die sich gegen die Ordnung und den Frieden der dortigen Bürger richten, hat der Präsident der Republik, Vicente Fox Quesada, beschlossen, Bundestruppen in die Stadt zu entsenden. Diese Kräfte werden sich im Laufe des heutigen Tages in der Hauptstadt des Bundesstaates sammeln.
Erklärung des mexikanischen Präsidenten vom Samstag
Bei dem Angriff am Freitag waren nach übereinstimmenden Medienberichten drei Menschen getötet worden. Der Lehrer Emilio Alonso Fabián starb bei der Verteidigung einer Barrikade, auch das zweite Todesopfer Esteban Ruiz fiel durch die Schüsse der Angreifer. Für Aufsehen sorgte das offenbar gezielte Vorgehen der Paramilitärs gegen Medienvertreter. Der New Yorker Kameramann Bradley Roland Will wurde auf offener Straße mit zwei Kugeln in Brust und Bauch getötet, als er den Angriff der Schwerbewaffneten filmte. Will, der für das alternative Internetportal Indymedia in New York tätig war, starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus. An anderen Stellen der Stadt wurden zwei mexikanische Pressefotografen ins Visier genommen, einer von ihnen erlitt einen Streifschuss am Bein. Seit Beginn des Konfliktes waren in Oaxaca neun Aktivisten von Unbekannten ermordet worden.
Hinweise auf einen geplanten Angriff auf die Stadt
Oaxaca wird seit Mai dieses Jahres von der „Volksversammlung der Dörfer von Oaxaca“ (APPO) besetzt. Der politische Konflikt mit dem Gouverneur Ulises Ruiz von der „Partei der Institutionellen Revolution“ (PRI), die Mexiko bis 2000 rund 71 Jahre lang mehr oder weniger autokratisch regiert hatte, begann zunächst mit einem Streik der Lehrergewerkschaft SNTE. Nachdem Ruiz die Forderungen der Lehrer unwirsch ablehnte und die Polizei gegen die Demonstranten aufmarschieren ließ, eskalierte die Situation.
Mit Unterstützung sozialer Organisationen und linker Gruppen, die sich in der APPO zusammengeschlossen hatten, wurden Ruiz und die Sicherheitskräfte des Staates aus der Stadt vertrieben. Die APPO führt die Verwaltung seither in Eigenregie fort, betonte jedoch immer wieder, die Macht an die Regierung zurückgeben zu wollen, sofern Ruiz zurücktrete und ihre sozialen Forderungen erfüllt würden. Die Chancen dafür standen zuletzt jedoch schlecht, zumal Ruiz, dem zahlreiche Menschenrechtsverletzungen während seiner Amtszeit vorgeworfen werden, vom konservativ dominierten Senat in Mexiko-Stadt Anfang des Monats Unterstützung erhielt.
Seit Freitag ist klar: Sowohl Ruiz als auch die Regierung unter Präsident Vicente Fox von der rechtsklerikalen „Partei der Nationalen Aktion“ (PAN) haben sich gegen diese unblutige Lösung entschieden. Wie die linksliberale mexikanische Tageszeitung La Jornada berichtet, haben die paramilitärischen Einheiten am Nachmittag an fünf verschiedenen Punkten der Stadt angegriffen. Unterstützt worden seien sie dabei von Polizeieinheiten. Die Leitung der APPO machte für die Angriffe die PRI-nahe „Nationale Bauernvereinigung“ (CNC) verantwortlich. CNC-Chef Elpidio Concha Arellano, ein ehemaliger Kongressabgeordneter der PRI, habe schon Mitte Oktober in einem Brief an die Bundesführung seiner Partei angekündigt, dass seine Organisation „die notwendigen Aktionen“ unternehmen würde, „um die Ordnung, den Rechtsstaat und den sozialen Frieden“ in der 260.000-Einwohner-Stadt selbst wieder herzustellen, sofern auf Bundesebene nicht gehandelt werde. Greife die Regierung in Oaxaca nicht durch, „werden wir das Problem lösen“, schrieb Concha Arellano.
Vorbereitungen auf bewaffneten Konflikt
Nach Angriffen und Mobilisierung der Armee bereiten sich die Mitglieder der APPO nun auf eine größere bewaffnete Auseinandersetzung vor. Am Samstagabend bekräftigte die Führung der „Volksversammlung“ ihren Willen zum Widerstand. Über die Radiostation der Universität ordneten die Aufständischen an, dass alle Kirchen der Stadt ihre Glocken läuten sollten - als Zeichen und Aufruf zur Gegenwehr. Die Barrikaden an den Ausfallstraßen der Stadt seien personell und materiell verstärkt worden, hieß es in einer Erklärung, die über Email verbreitet wurde. Die Bundestruppen haben indes den Flughafen der Stadt besetzt, auf dem ständig neue Militärflugzeuge aus anderen Landesteilen eintreffen. Polizisten und Soldaten sollen die Stadt abgeschnitten haben. In Mexiko-Stadt kam es zu ersten spontanen Demonstrationen gegen Bundes- und bundesstaatliche Regierung.
Nach dem Bericht der Tageszeitung La Jornada rüsten auch die Widerständler auf. Um die Paramilitärs zurückzudrängen, seien Hunderte Molotow-Cocktails vorbereitet worden. Man wolle so die Angreifer wieder aus der Stadt vertreiben, die sich ihrerseits in zentralen Regierungseinrichtungen verschanzt haben.
Befreiungsschlag der konservativen Allianz
Die blutigen Ereignisse in Oaxaca sind besonders tragisch, weil sich Ende der Woche zunächst eine Lösung des Konfliktes abgezeichnet hatte, nachdem die Lehrergewerkschaft SNTE ein Ende des Streiks für den Fall in Aussicht gestellt hatte, dass ihre wichtigsten Forderungen erfüllt würden: staatliche Garantien für die Streikenden, soziale Zugeständnisse - und der Rücktritt des Gouverneurs Ruiz.
Dass die konservative Allianz aus PRI und der regierenden PAN dazu nicht bereit waren, zeigt, wie verhärtet die Fronten in Mexiko sind. Der scheidende Präsident Vicente Fox hatte in den vergangenen Wochen mehrfach erklärt, den Konflikt in Oaxaca noch vor der Übergabe der Regierungsgeschäfte an seinen Parteifreund Felipe Calderón zu lösen. Nun ist klar, was er meinte: Lieber scheidet ehemalige Coca-Cola-Manager selbst mit blutigen Händen aus dem Amt, als dass er seinem Nachfolger diese Bürde zu Beginn dessen Legislatur auferlegt. Die Unnachgiebigkeit, mit der den Forderungen der sozialen Bewegung in Oaxaca von Staatsseite begegnet wird, ist auch in anderer Hinsicht beachtlich. Sie zeigt, wie wenig politischen Willen - und womöglich ökonomischen Spielraum - die konservative und wirtschaftsliberale Oberschicht des mittelamerikanischen Landes inzwischen hat, um die berechtigten sozialen Forderungen der Bevölkerung zu erfüllen.
Die Halbherzigkeit, mit der die sozialdemokratische Opposition der „Partei der Demokratischen Revolution“ (PRD) die Proteste unterstützt hat, lässt derweil vermuten, dass sich unter ihr daran wahrscheinlich nur in der Form, nicht aber im Grundsatz etwas ändern würde.