Boris Johnson: Die Show ist vorbei

Johnson bei der Unterzeichnung des Brexit Withdrawal Agreement, 24. Januar 2020. Foto: Büro U.K. Prime Minister/ Open Government Licence v3.0

"Regeln gelten nur für kleine Leute?" - BoJo has left the building und das Land wird noch lange an den Nachwirkungen laborieren.

Das politische London hat 48 Stunden hingelegt, die ihresgleichen suchen und das will etwas heißen in der Ära Boris Johnson. 59 Rücktritte von Ministern und Regierungsmitarbeitern waren dann auch für den kampfesmutigen Premier ein wenig zu viel gewesen. Die Befürchtung Johnson würde notfalls auch ohne Partei weiterregieren, haben sich nicht bewahrheitet.

Am Mittag hielt Johnson vor Downing Street 10 seine Abdankungsrede. Er wird zwar im Amt des Premiers vorerst verbleiben, aber dies scheint kein Komplott zum verwegenen Machterhalt mehr zu sein.

Ob bei Hinterbänklern, Ex-Regierungsmitgliedern, Partei-Granden oder der Mehrheit der Bevölkerung, es gibt einfach keinerlei Rückhalt mehr für den verhaltensauffälligen Premierminister, der nun mit einer der kürzesten Amtszeiten in die Geschichten eingehen wird. Noch kürzer als jene seiner Vorgängerin Theresa May, an deren frühen Ausscheiden Johnson ja nicht ganz unschuldig war.

Die Herde war’s

Reumütig verabschiedete er sich nicht. Seine ganze Karriere über ließ er ziemlich unumwunden seine Überzeugung anklingen, dass Regeln nur für kleine Leute gelten. Wer es zu etwas bringen will, muss eben schauen, wie die Vorschriften zu den eigenen Gunsten ausgelegt werden können.

Menschen, die dies nicht durchschauen, verachtet Johnson. Gewöhnlich sind scheidende Premierminister bemüht, ihre historische Bedeutung herauszustreichen. Das tat Johnson allenfalls halbherzig, indem er seine Erfolge runterbetete: Brexit, Pandemiebekämpfung, Unterstützung der Ukraine. Er tat es mit den längst bekannten Worten, die er bei jeder Gelegenheit zur Selbstcharakterisierung wählte.

Er ist einfach der, der den Brexit geliefert hat. Mehr gibt es in der Sache für Johnson nicht zu sagen. Es scheint ihn längst selbst zu langweilen. Während Theresa May noch heiße Tränen über ihr eigenes Karriereende vergoss (die Opfer ihrer Politik beweinte sie nie), blieb Johnson weitgehend ungerührt.

Ein wenig Emotion war zu erahnen, als es darum ging, warum er, der 2019 das beste Wahlergebnis seit 40 Jahren einfuhr, gehen musste. Es waren nicht die eigenen Fehler und Verfehlungen, die hätten man Johnson aufzeichnen müssen und er hätte sie nicht erkannt, sondern die Dummheit des Herdentriebs der vermutlich "kleinen Leute".

Die vielen die zurücktraten und sich immer offener über den Premier echauffierten, seien wohl einer Strömung gefolgt, die für Johnson unerklärlich und nicht zu stoppen war. Dies wird, nach seiner Auffassung, zum Schaden der Partei sein.

Nun ist Johnson fraglos ein kunstvoller Redner und er spürte, dass der Abgang mit einem kurz angebundenen "them's the brakes" ("so ist es halt") nicht passt. Deshalb bog er noch in eine sentimentale Schlusskurve. Er habe dieses wundervollste Amt der Welt geliebt, aber es sei eben niemand auch nur annährernd unersetzlich.

Er wolle sich für das enorme Privileg bedanken, Premierminister gewesen sein zu dürfen. Er habe im Laufe seiner Amtszeit die Naturschönheiten der Insel kennen und schätzen gelernt und er sei sich sicher, dass die wunderbaren Bewohner ihr Großbritannien wieder in neuer Einigkeit zum erfolgreichsten Land der Welt machen würden.

Eine schwülstige Liebeserklärung, die als ziemlich einseitig betrachtet werden muss. Niemand hat versucht, ihn vom Rücktritt abzuhalten, und es war den ganzen Tag über keinem Tory-Parteimitglied ein Wort des Bedauerns zu entlocken. Hintern den Gittern von Downingstreet stand eine überschaubare Menge versammelt, die "Lügner" und "Geh!" schrien.

Wer war der Premierminister Boris Johnson?

Johnsons ehemaliger Weggefährte und jetzige Nemesis, Dominic Cummings, erzählte, dass Boris Johnson ihm gegenüber einmal gesagt habe: "Worin läge der Sinn Premierminister zu sein, wenn man nicht machen könne, was man wolle?"

Ob der Premierminister dies tatsächlich so gesagt hat, ist selbstverständlich ungewiss. Der ehemalige Berater Cummings lässt heute schließlich nichts unversucht, um Johnson zu schaden. Das Bemerkenswerte an dieser angeblichen Äußerung liegt eher darin, dass sie kaum mehr überrascht.

Boris Johnson ist ein Politiker jenes neuen Schlages, die füglich "Trumpisten" genannt werden können. So wie bei Donald Trump ging es bei Johnson immer nur um ihn und seine Karriere. Ähnlich wie bei Trump konnte Johnson den Eindruck vermitteln, keine seiner Handlungen habe Konsequenzen. Die Skandale steigerten sich unentwegt in ihrem Aberwitz.

Zu befürchten: Neue Maßstäbe für die Politik

Zu befürchten ist, dass in Großbritannien ebenso wie in den USA, die Nachahmer dieser "erfolgreichen" Politik in den Startlöchern sitzen. Wenn Persönlichkeiten wie Trump und Johnson derart die Spielregeln nach ihren Vorgaben abändern, indem man beispielsweise den Posten des Ethik-Beraters streicht, nachdem der ja doch nur nörgelt, dann setzt dies bedauerlicherweise neue Maßstäbe für Politik.

Glücklicherweise ist es für Nachahmungstäter nicht ganz so einfach. Das Paradoxe an den Persönlichkeiten von Johnson und Trump ist, dass in ihrer Falschheit eine Art von Authentizität liegt. Die Schlawiner sind "echt". Sie haben ja auch nie vorgegeben, was anderes zu sein. Dies zeigt sich in Johnsons spöttischem Dauerlächeln, das wohl nur mit Mühe ablegen könnte, wenn er dem Nachbarn die frisch überfahrene Katze vorbeibringt.

Trump und Johnson genießen den Vorzug einen disruptiven Charme auszustrahlen. Sie wägen nicht groß ab, sondern sagen einfach mal etwas und schauen dann, was passiert. Das ist auf eine eigentümliche Weise sympathisch und kann authentisch wirken. Nur dämmerte irgendwann einem überwiegenden Teil der Bevölkerung, dass dies einzig dem eigenen Vorankommen dient.

Warum diese Kraft der Selbstsucht so lange akzeptiert wird, ist allerdings nur schwer zu erklären. Eigentlich reichen wenige Minuten im gleichen Zimmer mit Johnson, um zu erkennen, dass er für öffentliche Ämter ungeeignet ist.

Der Schweizer Psychoanalytiker Arno Gruen vertrat die Hypothese, dass eine Gesellschaft, die Menschen in der Entwicklung ihres Potenzials hemmt, dadurch eine Art Selbsthass in den Individuen nährt. In der Politik werden dann Persönlichkeiten beneidet, die sich einfach nehmen was ihnen nicht zusteht.

Sie werden von der Wahlbevölkerung dafür nicht geschätzt, aber doch gewählt, weil sie durch ihre offenkundige Selbstsucht einen vermeintlich Weg aus dem Selbsthass aufzeigen.

Dies würde ansatzweise erklären, warum Boris Johnson gewählt wurde und mit den höchsten Ämtern des Staates betraut wurde, ohne dass ihm je jemand über den Weg getraut hätte.