Brandenburg: Wähler im Blindflug – Stimme abgegeben, Einfluss verloren?
Demokratie-Dilemma: Wähler haben viele Möglichkeiten für eine Regierungsbildung geschaffen, wissen aber nicht, was sie nach der Wahl bekommen. Kommentar.
Mit dem Wahlergebnis in Brandenburg wird mal wieder der Ampel-Notstand ausgerufen. Die derzeitige Regierungskoalition aus SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP sei abgewählt – obwohl die brandenburgische SPD unter Ministerpräsident Dietmar Woidke knapp die meisten Stimmen erzielte.
Was zur Wahl steht
Das Phänomen, jede Landtagswahl oder gar Kommunalwahl zu einem Volksentscheid über die amtierende Bundespolitik zu stilisieren, ist nicht neu, die zentrale Frage aber weiterhin ungeklärt.
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Denn Landtagswahlen sind nun mal keine Bundestagswahlen, eine Bürgermeisterwahl nicht die des Bundeskanzlers (der bekanntlich nicht vom Volk gewählt wird).
Sollte bei der Besetzung von Landesparlamenten, aus denen schließlich eine Regierung hervorgeht, die Bundespolitik maßgeblich sein, würde sich jegliche explizite Landespolitik erübrigen. Was die Amtierenden tun, was aus der Opposition als Alternativen vorgeschlagen wird, was die Wahlprogramme versprechen – alles wäre belanglos, und man könnte sich den ganzen Aufwand sparen.
Oder man müsste zumindest nochmal versuchen, Wählern wie auch Politikern zu erklären, um was es eigentlich geht, was tatsächlich zur Wahl steht.
Die taktische Stimmabgabe
Bei der Wahl im Bundesland Brandenburg wurde aber nun vor allem eine Begründung in den Erläuterungen des Ergebnisses angeführt, die man mal unter dem Stichwort "Leihstimmen" kannte: Nämlich die taktische Entscheidung, eine andere Partei zu wählen als man es vom prokamierten Inhalt her gerne täte, um so eine letztlich genehme Koalition zu ermöglichen.
Bei der Brandenburg-Wahl am 22. September haben offenbar viele Anhänger anderer Parteien der SPD ihre Stimme gegeben. Ob dies nun an "Landesvater Woidke" lag, den viele gerne weiterhin als Ministerpräsidenten behalten wollen, oder an seiner Ansage, er steige aus, sollte die SPD aus der Wahl nicht stärker als die AfD hervorgehen, ist dabei gar nicht entscheidend.
Im Ergebnis haben jedenfalls vor allem die Grünen und die Linke stark an Stimmen verloren, die beide 2019 noch auf gute zehn Prozent gekommen waren und nun nicht mehr im Landtag vertreten sind. Und selbst die Verluste der CDU werden von Wahlforschern zum Teil auf strategisches Wählen zurückgeführt: Lieber eine starke SPD, die eine Regierung bilden kann, als ein paar Stimmen mehr für eine CDU, die ohnehin weit weg von der Mehrheit scheint.
Doch wie wenig solch taktisches Wählen dem Demokratieprinzip entspricht, zeigte sich am Sonntagabend.
Die Wähler wissen nicht, was sie nun bekommen
Nicht nur, dass es für die Parteien Grüne und Linke in der wahlberechtigten Bevölkerung offenbar deutlich mehr Zustimmung gibt, als es sich im Ergebnis niederschlägt. Die Wähler wissen gar nicht, was sie nun bekommen.
Parteien sind nicht an ihre Wahlversprechen gebunden. Das ist ein Stück weit nachvollziehbar. Denn wären alle Punkte in einem Wahlprogramm unumstößlich, könnte es gar keine Koalitionen geben, keine Kompromisse. Regieren - bzw. wichtiger: eine Parlamentsmehrheit bilden - könnte nur, wer mehr als 50 Prozent der Sitze bekommt.
Doch die Zeiten der sich duellierenden zwei Volksparteien SPD und CDU/CSU sind lange vorbei. Die Gesellschaft ist vielleicht nicht nur heterogener geworden.
Positiv betrachtet könnte man auch sagen, die ganz großen Konfliktlinien sind beseitigt. Auch die CDU mag Arbeitnehmer, auch die SPD hat inzwischen ein Herz für Unternehmer. Die Bundesrepublik ist nicht mehr Schwarz-Weiß (bzw. Schwarz-Rot).
Rein nach dem Ergebnis der Wahl sind einige Optionen offen: SPD, CDU und BSW könnten eine Mehrheit bilden, erst recht SPD und AfD (was als ausgeschlossen gilt).
Aber eine Regierung muss ja gar nicht die Mehrheit im Parlament haben; sie kann auch als sogenannte Minderheitsregierung arbeiten, wenn sie – wenigstens von Fall zu Fall – auf die Zustimmung der Mehrheit des Parlaments setzen kann. Dafür würde schon eine der vier im neuen Landtag vertretenen Parteien genügen.
Was damit deutlich wird: Die Wähler wissen nicht, was sie nach der Wahl bekommen. Das handeln die Gewählten untereinander aus. Entsprechend klingen dann die gestanzten Sätze am Wahlabend: Man werde mit allen (demokratischen) Parteien Gespräche führen, sondieren – und dann entscheiden die Parteigremien.
Fraktionszwang, Posten und Abstimmungen
Eine Verpflichtung der Parteien, sich vor einer Wahl rechtsverbindlich festzulegen, mit wem sie ggf. koalieren werden und mit wem auf keinen Fall, lässt sich wohl juristisch nicht machen. Denn die Abgeordneten sind – aus gutem Grund – in den Verfassungen von allen Parteibindungen freigestellt.
Und die Programmankündigungen müssen nicht von denen stammen, die letztlich auch gewählt wurden, ob nun über die Wahlkreise oder ihre parteiinternen Landeslisten.
Doch in jedem Fall wird deutlich: Aus einer Parlamentswahl ergibt sich noch lange nicht, wie später eine Regierung aussehen wird.
Das wäre unschädlich, wenn Abgeordnete tatsächlich und ohne jede Ausnahme frei abstimmen würden, ohne Fraktionszwang, ohne Schielen auf den nächsten Posten.
Wenn man darauf vertrauen könnte, dass die Abgeordneten die jeweils aus ihrer ehrlichen Sicht beste Entscheidung treffen werden.
Doch das würde verlangen, den Dualismus zwischen Regierungsparteien und Oppositionsparteien aufzugeben. Es wäre regelrecht egal, wer die Regierung bildet, weil von dieser nur solche Gesetzesvorschläge durchkämen, die eine Mehrheit im frei denkenden Parlament bekämen.
Dann bliebe freilich trotzdem noch die Frage, ob die Wähler mit ihren zwei Stimmen für einen Wahlkreisvertreter und eine Partei ernsthaft ein Mandat erteilen können, die nächsten fünf (im Bundestag: vier) Jahre in allen sich auftuenden Fragen wenigstens einigermaßen zu vertreten, was der Wähler präferiert.
Es wird viel über Bedrohungen "unserer Demokratie" gesprochen. Gemeint sind dann verfassungsfeindliche Kräfte, ausländische Mächte, der Einfluss des Kapitals und vieles mehr.
Der Weisheit letzter Schluss?
Alles richtig bzw. berechtigt. Doch anzunehmen, unsere parlamentarische Demokratie in der mehr oder weniger unveränderten Fassung von 1949 sei der Weisheit letzter Schluss, ist angesichts eines so offenen Wahlausgangs wie in Brandenburg vielleicht doch etwas sehr euphemistisch.
Stattdessen sollten wir, ohne Eile, ohne eigene Dogmatik, aber mit Beharrlichkeit, über Verbesserungen nachdenken. Eine Demokratie sollte in der Lage sein, sich selbst zu reformieren – ohne Revolution, ohne Krieg, ohne Zusammenbruch.