Was ich in einem Dorf in Brandenburg über den Aufstieg der AfD gelernt habe

Szene im brandenburgischen Marquardt am Sonntagabend. Bild: Harald Neuber

Die AfD feiert in Brandenburg. Trotz des SPD-Sieges wächst ihr Einfluss. Was bedeutet das für die Zukunft der Demokratie? Beobachtungen vor Ort.

Dies ist die Geschichte von einem Mann, der aus dem 50. Stock von einem Hochhaus fällt. Und während er fällt, wiederholt er, um sich zu beruhigen, immer wieder: "Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut …". Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern der Aufprall!

Aus dem französischen Film Le Haine (dt.: "Hass"), 1995

Wer die Dimension und die Perspektive der Wahl in Brandenburg begreifen will, sollte den Wahlabend im 1.200-Einwohner-Dorf Marquardt im Norden von Potsdam erlebt haben. Dort hatte der Landesverband Brandenburg der AfD am gestrigen Sonntagabend zur Wahlparty eingeladen. Dabei stellten sich vorwiegend drei Erkenntnisse ein:

  1. Die AfD ist längst nicht mehr in dem Maße isoliert, wie dies in Medien und von politischen Parteien suggeriert wird.
  2. Die AfD ist in allen ihren Gliederungen zunehmend selbstbewusst.
  3. Die AfD stellt sich auf eine Übernahme der politischen Macht ein.
Antifa trifft auf Anwohner.

Daran konnten auch die einigen Hundert Gegendemonstranten gegenüber dem "Alten Krug" wenig ändern. Die AfD hatte die Traditionsgaststätte für den Wahlabend gemietet. Über einhundert Einwohner und einige Hundert Vertreter der Antifa, viele aus Berlin, standen auf der anderen Seite eines Doppelstabmattenzauns der Freiwilligen Feuerwehr und skandierten Losungen gegen die Rechtspartei.

Die AfD aber ficht so etwas schon lange nicht mehr an. Auf ihrer Seite des Zaunes nähern sich immer wieder Partygäste den Demonstranten, provozieren, das Sektglas in der Hand. Je weiter der Abend fortschreitet, desto aggressiver wird die Stimmung.

Immer wieder dringen rechte Blogger aus dem Umfeld der AfD in die Reihen der Gegendemonstranten vor, filmen und werden dann zurückgedrängt. "Die Ampel muss weg", dröhnt es indes mit Hip-Hop-Beats von der gegenüberliegenden Straßenseite.

Vertreter der Parteijugend werden im abgeschirmten Außenbereich des "Alten Krugs" wenig später ein Lied anstimmen: "Hey, das geht ab, wir schieben sie alle ab, sie alle ab." Dazu halten sie auf einer Tafel den Slogan "Millionenfach abschieben" hoch.

Voller Presseraum mit Alice Weidel, Björn Höcke und Spitzenkandidat Hans-Christoph Berndt.

Die Szene wird einer der Aufreger des Abends und von vielen Korrespondenten mit empörtem Unterton geschildert werden. Es braucht nicht viel analytisches Verständnis, um zu erkennen: Mit solchen gezielten Provokationen inszeniert sich die AfD. Und etablierte Medien machen das Spiel mit. Sie verbreiten die Botschaft im Glauben, weitere Wähler von der AfD abzuschrecken. Offensichtlich ist das Gegenteil der Fall.

"Super-Ergebnis" Nur für wen? Und wie lange?

Nach dem letzten vorläufigen amtlichen Endergebnis hat die SPD in Brandenburg 30,89 Prozent der Stimmen erreicht. Die AfD landete knapp dahinter mit 29,23 Prozent. "Ist doch super, dass wir gewonnen haben", kommentierte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der selbst in Potsdam angetreten war.

Er wohnt seither in einer Gated Community am Alten Markt der Landeshauptstadt und hält sich auch sonst von der Bevölkerung fern. Seinem Genossen und amtierenden Ministerpräsidenten Dietmar Woidke dürfte das Recht gewesen sein: Er hatte alles in die Waagschale geworfen, um einen lange befürchteten Erdrutschsieg der AfD zu verhindern. Scholz hätte da kaum geholfen; er hatte zuletzt einen Zuspruch auf Bundesebene von nur noch 18 Prozent.

Zuletzt kam von Woidke die drohende Ankündigung, vom Ministerpräsidentenposten zurückzutreten, sollte die AfD mehr Stimmen erhalten als seine Partei.

Man fragt sich am Tag nach dieser Landtagswahl, ob die Sozialdemokraten in Potsdam und Berlin wirklich daran glauben, mit diesem Ergebnis einen nachhaltigen Sieg davongetragen zu haben. Fakt ist: Die SPD liegt derzeit mit 1,66 Prozentpunkten vor den Blauen. Das ist aber auch schon alles. Denn zum Ergebnis zählt auch:

  • Die AfD hat 9,37 Prozent mehr Wähler gewonnen, die SPD liegt mit 7,75 Prozent Stimmzuwachs dahinter.
  • Dietmar Woidke hat sein Direktmandat gegen den AfD-Kontrahenten verloren, wenn auch nur mit weniger als einem Dutzend Stimmen.
AfD-Anhänger und Journalisten bei Bekanntgabe der Ergebnisse.
  • Die SPD hat massiv Stimmen von den Linken und auch von den Grünen abgeworben und damit dazu beigetragen, dass diese beiden Parteien nicht mehr im Landtag vertreten sind.
  • Die SPD verdankt ihren Sieg zu einem beträchtlichen Teil Wählern im Seniorenalter, während die Jugend in Scharen zur AfD tendiert.
  • Die AfD wird im kommenden brandenburgischen Landtag eine Sperrminorität haben. Das bedeutet, sie kann Beschlüsse mit einer notwendigen Zweidrittelmehrheit blockieren.

Aber natürlich: Was bleibt Dietmar Woidke am Wahlabend und am Tag danach anderes übrig, als das Ergebnis schönzureden? Dabei weist vieles darauf hin, dass sich die etablierten Parteien nicht nur in Brandenburg im freien Fall befinden. Und es gibt wenig Konzepte, die diesem Fall bremsen oder den Aufschlag auch nur abfedern könnten.

Der Vormarsch der AfD aus lokaler Perspektive

Was das bedeutet, lässt sich in Marquardt und in Potsdamer Norden beobachten. Bei den Erststimmen hat im Wahlkreis Potsdam III, in dem die AfD gestern ihre Wahlparty veranstaltete, hat die SPD überdurchschnittlich gewonnen. 39,8 Prozent bekam der SPD-Kandidat Uwe Adler; die AfD lag mit 20,5 Prozent deutlich dahinter. Ähnlich ist es bei den Zweitstimmen aus: 34,4 zu 19 Prozent.

Dennoch droht auch in Marquardt die Stimmung zu kippen. Das Dorf bietet ein interessantes Soziotop: Hier finden sich Alteingesessen und Zugezogene, Westdeutsche und Ostdeutsche, es gibt eine erkennbar gehobene Mittelschicht, aber auch Arbeiterfamilien in Wohnblocks.

Die Konflikte um den politischen Umbruch treten auch hier immer deutlicher zutage. Der Pächter der seit 1927 bestehenden Gaststätte, Michael Schulze, begründete die Vermietung an die AfD mit wirtschaftlichen Erwägungen. Er verdiene, sagte er, eben einen fünfstelligen Betrag mit der Veranstaltung.

Unter Anwohnern machen sich Zweifel breit: Schulze lasse, so heißt es im Dorf, in Social-Media-Postings, wenig Zweifel an seiner politischen Einstellung, und die sei pro-AfD. Das war auch einem Korrespondenten der Märkischen Allgemeinen Zeitung aufgefallen, der die Fußmatte am Eingang zum "Alten Krug" mit dem Motiv einer Sonnenblume beschrieb, die an das Parteiemblemen der Grünen erinnert. Da drunter der Schriftzug: "Wir müssen leider draußen bleiben."

Anwohner gegen Rechtsruck vor Ort

Auf der anderen Seite stehen Anwohner, die den Rechtsruck nicht unwidersprochen hinnehmen wollen. Auch sie demonstrierten am Wahlabend gegen die Veranstaltung in ihrem Dorf, darunter Kinder mit selbst gemalten Plakaten: "Platz für alle", war dort zu lesen, "Gleiche Menschenrechte für alle", "Friede" oder "Freiheit". Der Pfarrer des Dorfs redete.

Als die Antifa mit einem gesonderten Demonstrationszug eintraf, sangen die Menschen Lieder, die man sonst aus evangelischen Gottesdiensten kennt. Ein offenbar eilends kopiertes Textblatt enthält Titel wie das Bonhoeffersche "Von guten Mächten treu und still umgeben."

Um 18 Uhr läuten die Kirchenglocken

Die Dorfkirche lud um 18 Uhr zum Friedensgebet und als im Fernsehen die Ergebnisse verkündet wurden, läuteten die Glocken.

Es waren kurzfristig angesetzte Aktionen, mit denen zumindest die Fronten im Dorf geklärt wurden. Sie machten aber auch deutlich: Der Rechtsruck wird von den Parteien verantwortet, hauptsächlich jenen, die in Berlin regieren.

Die Menschen vor Ort reagieren auf die Frontstellung, Polarisierung, Häme und Hass mit zunehmender Hilfslosigkeit. Es bilden sich aber auch Strukturen, um mit den Zerwürfnissen zurechtzukommen, deren Gründe andere zu verantworten haben.

AfD strotzt vor Selbstvertrauen

Am Eingang zum alten Krug war davon wenig zu spüren. Hier regelten Jung-AfDler den Einlass und verteilten Armbändchen: Blau für AfD, gelb für geladene Gäste, rot für Pressevertreter. Wer sich mit einem roten Armband der Antifa-Demo von der AfD-Straßenseite aus nähte, muss ein dickes Fell haben: "Verpiss dich, du Nazi", schallte einem entgegen, und: "Ja, ja, nimm nur deine Kamera runter, dann hast du deinen Arm wieder für den Hitlergruß frei."

Sebastian Weber (4.v.l.).

Der Blick in die Presseliste zeigte auch, dass der politische Umbruch längst internationale Aufmerksamkeit erregt hat: niederländische Journalisten waren vor Ort, ebenso wie die Neue Zürcher Zeitung und andere internationale Medien. Dazwischen etablierte rechtsgerichtete Videoblogger wie Sebastian Weber und Vertreter sogenannter neuer Medien, die sich unter der AfD-Klientel wie Fische im Wasser bewegten.

AfD findet Gefallen an Kritik

Und das ist, wie anfangs erwähnt, eine der Erkenntnisse dieses Wahlabends im kleinen Dorf Marquardt im Norden von Potsdam: Isoliert ist die AfD schon lange nicht mehr, noch weniger ist die in der Defensive.

Sie findet geradezu Gefallen an der Kritik. Sei es von dem Demonstranten aller gegenüberliegenden Straßenseite, sei es von der Spiegel-TV-Vertreterin, die sich lautstark darüber beschwerte, trotz des Namens ihres Mediums aus Platzgründen nicht mehr in den Saal der Pressekonferenz hineingelassen zu werden.

Dieses Mal ist es Woidke noch gelungen

Dieses Mal also ist es einem deutlich müde wirkenden Dietmar Woidke noch gelungen, einen Wahlsieg der AfD abzuwehren, der vor allem auf Bundesebene symbolisches Gewicht gehabt hätte. Bei der kommenden Wahl, so steht zu befürchten, kann das anders ausgehen.

AfD-Vertreter am Zaun vor Demonstranten.

Ob das alles so "super" ist, wie Bundeskanzler Scholz aus persönlicher, politischer und geografischer Distanz kommentierte – nach dem gestrigen Wahlabend muss man daran zweifeln. Die etablierten Parteien scheinen sich in einem Rückzugsgefecht zu befinden, teilweise im freien Fall.

Und ja, vieles davon sind Beobachtungen und Prognosen. Die großen Tendenzen aber – Wähleralter etwa, Wählerwanderung und natürlich der Zuspruch – stehen gegen die etablierten Parteien. Zumal vor allem SPD, Grüne und FDP von der Entwicklung überfordert zu sein scheinen. Ihr Absturz setzt sich fort.

Und eines ist sicher: Wenn der Aufprall kommt, wird Olaf Scholz längst nicht mehr Bundeskanzler sein.