Brasilien: Putschisten in Richterroben

Protestveranstaltung mit Lula. Bild: Mídia NINJA‏/CC BY-NC-SA-2.0

Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Verfahren als "lawfare" in Kritik. Zahlreiche Unregelmäßigkeiten

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Paukenschlag in Brasilien: Ein Berufungsgericht in Porto Alegre hat den ehemaligen brasilianischen Präsidenten (2003-2011), Luiz Inácio Lula da Silva, am Mittwochnachmittag (Ortszeit) zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Der 72-Jährige soll nach Willen des Richtergremiums wegen Korruption und Missbrauch des staatlichen Erdölkonzerns Petrobras für zwölf Jahre hinter Gitter.

Das so durchaus erwartete Urteil ist der vorläufige Höhepunkt eines Prozesses, der von Lulas Anhängern, aber auch von zahlreichen Beobachtern auf internationaler Ebene als politisches Verfahren verurteilt wird. Ein Indiz dafür: Der Politiker der linksgerichteten Arbeiterpartei (PT) ist derzeit der aussichtsreichste Kandidat für die Präsidentschaftswahlen im Oktober. Würde er gewählt, wäre dies das Ende des erzwungenen Rechtsrucks der südamerikanischen Regionalmacht. Nun ist das politische Schicksal des ehemaligen Gewerkschafters und des Landes unklar.

Die Anklage gegen Lula stützt sich im Kern auf den Vorwurf der Vorteilsnahme und Vorteilsgabe im Amt. Er sei Nutznießer einer Luxuswohnung am Strand von São Paulo gewesen, die von dem Baukonzern OAS aufwändig renoviert worden war. Zudem sei Lula verantwortlich für ein ausgedehntes Korruptionsnetzwerk des staatlichen Erdölkonzerns Petrobras, weil er als Präsident die Verantwortung für die Ernennung ranghoher Funktionäre getragen hatte.

Die entsprechenden Ermittlungen im sogenannten Lava-Jato-Fall zum Korruptionsnetzwerk um Petrobras sorgen seit Jahren für Schlagzeilen, einige Verantwortliche sind in Haft. Auf politischer Ebene aber wirkt sich das Vorgehen der Justiz äußerst einseitig aus: Während De-facto-Präsident Michel Temer vom konservativ dominierten Parlament gegen Ermittlungen geschützt wird, drohen Vertretern der politischen Rechten sonst nur Strafen, wenn sie keine aktive Rolle mehr spielen.

Der einstige Präsident des Abgeordnetenhauses, Eduardo Cunha, etwa soll in Haft, er ist für die Oberschicht aber ebenso unwichtig geworden wie andere bereits Verurteilte. Hingegen droht die gemäßigt linke PT, wird Lula inhaftiert, politisch enthauptet zu werden - mitten in Wahlkampf.

Prozess mit vielen Unregelmäßigkeiten

Dabei waren das Ermittlungsverfahren und das erstinstanzliche Gerichtsverfahren gegen Lula ein einziger juristischer Skandal. So konnten weder dem PT-Chef noch Familienmitgliedern nachgewiesen werden, die besagte Luxuswohnung jemals genutzt zu haben. Auch konnte das Gericht kein Dokument vorlegen, das Lula als Besitzer der Immobilie ausweist. Zwar hat sich der Politiker im Laufe des Verfahrens durchaus in Widersprüche verstrickt und - was in Medien und Öffentlichkeit nicht gut ankam - seiner inzwischen verstorbenen Frau die Verantwortung für entsprechende Kontakte zugeschoben. Dennoch blieben die Ankläger belastbare Beweise schuldig.

Mehr noch: Das erste Ermittlungsverfahren unter dem umstrittenen Star-Juristen Sérgio Moro war von Unregelmäßigkeiten geprägt.

So ließ Moro Telefonate zwischen Lula, Angehörigen, Bekannten und vor allem seinen Anwälten mitschneiden und spielte die Aufnahmen der Presse zu. Auch die fast 300 Seiten umfassende Urteilsbegründung Moros glich mehr einem politischen Pamphlet als einem juristischen Dokument. Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte gab Lula und seinen Anwälten bereits im Oktober 2016 auf deren Beschwerde hin Recht und forderte von der brasilianischen Justiz Aufklärung - die nie erfolgte. Stattdessen wurden alle Verfahrensverstöße und Grenzüberschreitungen in höherer Instanz gerechtfertigt.

Je weiter der Prozess fortschritt, desto mehr zeigten sich seine Anhänger davon überzeugt, dass das Verfahren gegen den beliebten Politiker Teil eines "lawfare" ist, einer juristischen Kriegsführung. Entsprechende Stimmen sind auch aus Argentinien zu hören, wo mit Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner und der Aktivistin Milagro Sala zwei offenbar ähnlich politisch motivierte Justiz-Skandale für Furore sorgen.

Anders als in Venezuela, wo Oppositionelle wegen ihrer Verstrickung in blutige Ausscheitungen inhaftiert sind, verleiten die Prozesse gegen linksgerichtete Führungspersönlichkeiten und Mitte-links-Politiker bisher keine westliche Regierung zu Protesten.

Kritik in Deutschland nur aus der zweiten Reihe

Auch in Deutschland gab es durchaus Kritik an dem Lula-Verfahren. Die ehemalige SPD-Justizministerin (1998-2002) Herta Däubler-Gmelin bezeichnete den Prozess als Teil eines "sozial- und wirtschaftspolitischen Rollbacks". Auch die Amtsenthebung von der Lula-Nachfolgerin Dilma Rousseff am 31. August 2016 sei dem Muster der neuen Form des Staatsstreichs gefolgt, so Däubler-Gmelin.

"Rousseffs Beschwerde gegen das Impeachment ist im Übrigen trotz seiner offensichtlich ungenügenden rechtlichen Fundierung vom zuständigen Obersten Gerichtshof Brasiliens schlichtweg liegen gelassen, nicht behandelt und schon gar nicht aufgehoben worden", merkte die ehemalige Bundestagsabgeordnete an. Die Vermutung sei nicht unberechtigt, dass das oberste Gericht des südamerikanischen Landes die Beschwerde erst nach dem Ende der Amtszeit "des unbestreitbar korrupten derzeitigen Präsidenten Michel Temer aufgreifen will". Dann würde es wohl in der Substanz für erledigt erklärt werden.

Neben Däubler-Gmelin hatten sich vor allem Sozialdemokraten gegen die Justizkampagne gegen die PT in Brasilien gewandt. So erklärten die Außenpolitiker Niels Annen und Klaus Barthel Ende April 2016, ihre Fraktion unterstütze "alle demokratischen Kräfte in Brasilien, die sich antipolitischen und antidemokratischen Ideologien entgegenstellen". Die Stellungnahme war mit einer deutlichen Kritik an den Rousseff-Gegnern verbunden. Sie müssten "zu demokratischen Grundprinzipien zurückkehren".

Allerdings kommen solche Appelle aus der SPD, die enge Kontakte zur PT unterhält, nur aus der zweiten Reihe. Die Sozialdemokraten haben die Brasilien-Politik nie merklich in der Großen Koalition auf die Agenda gesetzt, noch hat sich das durchgehend SPD-geführte Außenamt des Themas angenommen. Vor dem Berufungsprozess nun konstatierte die Linkspartei, es gehe mit dem Prozess offenbar darum, die Wiederwahl Lulas in einem "politischen und unfairen Prozess" zu verhindern.

Neoliberale feiern, Börse im Plus

So ist es nicht schwer, Brasilien unruhige Tage und Wochen, vielleicht Monate, zu prognostizieren. In Porto Alegre sollen gestern nach Angaben der Organisatoren rund 50.000 Menschen ihre Solidarität mit dem angeklagten Ex-Präsidenten demonstriert haben.

Die Stadtverwaltung hatte bereits im Vorfeld des Prozesses die Armee mobilisiert, um "zu Lande, zu Wasser und aus der Luft" agieren zu können. Kampfflugzeuge der Luftwaffe donnerten immer wieder über die Häuser, Schiffe der Marine patrouillierten auf dem Rio Gauíba, Scharfschützen waren auf Dächern postiert. Lokalpolitiker schwadronierten, man müsse die drei Richter vielleicht sogar mit Armeehubschraubern ein- und ausfliegen lassen. Das Ganze, so die Professorin für Internationale Beziehungen der örtlichen Hochschule UNIFESP, Esther Solano, stehe im Einklang mit der "Show-Justiz", von der die Lava-Jato-Prozesse von Beginn an bestimmt gewesen seien.

Die politische Perspektive für Lula und Brasilien ist nach dem heutigen Tag indes unklar. Der ehemalige Präsident hatte nach seinem Abtritt 2011 wegen der Ermittlungen zwar Popularität eingebüßt. Zuletzt befand er sich aber im Aufwind und kam in den Umfragen auf 45 Prozent. Damit hatte er Aussicht auf fast doppelt so viele Stimmen wie sein rechtspopulistischer Herausforderer Jair Bolsonaro. Zwar wurde Lula heute nicht festgenommen und kann weiter den Rechtsweg beschreiten. Es wird aber zunehmend unwahrscheinlich, dass er seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl im Oktober aufrechterhalten kann. Die PT wird sich Gedanken über Alternativen machen müssen.

Mitglieder der rechtsgerichteten Bewegung Freies Brasilien (MBL) demonstrierten indes für ein "sauberes und neoliberaleres" Land. Die Börse in São Paulo schloss mit einem Plus von 3,35 Prozent.