"Bread and Butter" statt Krieg und Frieden
Israel: Aussichten nach der Wahl
Auch wenn Benyamin Netanyahu wohl weiterhin Israels Premier bleiben wird (Israel nach der Wahl: Kein außenpolitischer Kurswechsel zu erwarten): Seine Entscheidung, vor 3 Monaten Neuwahlen auszurufen und seine Likud-Partei mit Avidgor Liebermanns Yisrael Beitenu zu vereinen, war ein schlecht kalkuliertes Manöver der Machterhaltung.
Anstatt seine Macht als Vorsitzender eines großen Rechtsblocks auf lange Zeit zementieren zu können, wurde ihm von zwei politischen Newcomern der Wind aus den Segeln genommen. Viele Analysten führen das auf Netanyahus inhaltsleeren und phrasenhaften Wahlkampf zurück, der sich primär um die eigene Person drehte.
Das überraschend gute Abschneiden von Yair Lapids Partei Yesh Atid zeigte, was einen großen Teil der Israelis seit einiger Zeit beschäftigt. Er fokussierte im Wahlkampf auf die materiellen Probleme der Mittelschichten, vor allem die extrem hohen Lebenshaltungskosten bei relativ stagnierenden Löhnen. Zudem sprach er mit seiner Forderung, die vom Wehrdienst befreiten Ultra-Orthodoxen graduell in die Armee zu integrieren, viele säkulare Israelis an, in deren Augen die Lasten schon zu lange ungleich verteilt sind.
Links ist nicht unbedingt links
Doch sein gutes Ergebnis spiegelt auch wieder, dass sich in Israel derzeit mit sozio-ökonomischen Themen Wahlen gewinnen lassen - mit dem Thema neuer Friedensverhandlungen jedoch nicht. Yair Lapid umschiffte dieses Thema im Wahlkampf bei jeder Gelegenheit und schlug stattdessen mit seinem Fokus auf materielle Belange den Weg des geringsten Widerstandes ein.
Die einzigen Parteien, die sich neue Verhandlungen mit den Palästinensern ausdrücklich auf die Agenda schrieben, waren die traditionell linke Meretz und die neu gegründete Hatnuah der ehemaligen Außenministerin Tzipi Livni, die zusammen auf 12 Sitze kamen. Selbst die ehemalige Bastion der israelischen Linken, die Arbeitspartei, sprang im Wahlkampf auf den Zug der sozio-ökonomischen Themen und stellte das Thema Friedensverhandlungen aufs Abstellgleis. Die Partei wurde mit 15 Sitzen drittstärkste Kraft.
Das Wahlergebnis ist vor allem in einer Hinsicht irreführend: Wenn es als Niederlage für die israelische Rechte verstanden wird. Zwar hat sich Netanyahus Vison einer rechten Superpartei Likud-Beitenu nicht materialisiert und auch die nationalreligiöse Agenda der Habayit Hayahudi von Naftali Bennet sprach weniger Wähler an, als lange prognostiziert wurde. Doch ist das Land in entscheidenden Fragen schon lange zuvor nach rechts gerutscht.
Selbst Parteien, die in der politischen Dichotomie dem Mitte-Links-Lager zugerechnet werden wie Yair Lapids Yesh Atid stehen im Bezug auf den Konflikt nicht unbedingt für klassische linke Forderungen. Der neue Hoffnungsträger der säkularen Mittelschicht, Yair Lapid, hat das Thema Friedensverhandlungen im Wahlkampf nur zu Beginn kurz aufgebracht und dann bewusst gemieden. Seinen Wahlkampf begann er in der israelischen Siedlungsstadt Ariel im Westjordanland.
Dort erklärte er in einer seiner wenigen Aussagen zum Konflikt, er werde keiner Regierung beitreten, die neuen Friedenverhandlungen mit den Palästinensern eine Absage erteilen würde.Doch ebenso müsse Jerusalem die unteilbare Haupstadt Israels und die großen Siedlungsblöcke bei einer möglichen Friedenslösung innerhalb Israels bleiben.
Der Konsens
Das Beharren auf "das ganze Jerusalem" und die wesentliche Siedlungsblöcke nahe der grünen Linie ist nach vier Jahrzehnten Siedlungspolitik keine Position des rechten Lagers mehr. Es ist in weiten Bevölkerungskreisen zum Konsens geworden. Es erklärt das Unverständnis vieler Israelis auf den internationalen Protest, wenn auf einem unbebauten Hügel zwischen der Jerusalemer Skopus-Universität und dem Siedlungs-Vorort Ma'ale Adumim ein neuer Stadtteil entstehen soll.
Was Yair Lapid in der gegenwärtigen israelischen Parteienlandschaft dennoch scharf von weiten Teilen des rechten Lagers unterscheidet, ist vor allem eines: Er hält eine Zwei-Staaten-Lösung für notwendig, auch wenn er das Thema aus taktischen Gründen im Wahlkampf vermied. Damit steht er im Gegensatz zum rechten Flügel im Likud und vor allem zu dem anderen politischen Emporkömmling dieser Wahl, dem nationalreligiösen Naftali Bennet. Im Wahlkampf drückte dieser unmissverständlich aus, wie er zu weiteren Verhandlungsinitiativen mit dem Ziel einer 2-Staaten-Lösung steht.
Der Konflikt mit den Palästinensern ist derzeit nicht zu lösen. Stattdessen sollten wir lernen, mit dem Konflikt zu leben.
Zwar ist die national-religiöse Agenda Naftali Bennets nur am ideologischen rechten Rand der israelischen Gesellschaft populär, doch seine Ansicht, der Konflikt mit den Palästinensern sei in absehbarer Zeit nicht zu lösen, wird mittlerweile von der Mehrheit der israelischen Bevölkerung geteilt. Nach einer Studie des Walter Lebach-Institutes vom September 2012 glauben 80% der Israelis nicht an eine baldige Lösung des Konfliktes. Im Gegensatz dazu sprechen sich 67% nach wie vor für eine Verhandlungslösung mit den Palästinensern aus.
Endlich ein normales Land sein
Dieser Kontrast zwischen Wunsch und Einschätzung der Wirklichkeit spiegelt jedoch auch wieder, dass die Verschiebung nach rechts kein Triumph der rechten Ideologie ist - sondern vielmehr das Resultat tiefer Desillusionierung, was die große Frage einer Einigung mit den Palästinensern betrifft.
Auf den gescheiterten Friedensprozess in den 1990er-Jahren folgte die Erfahrung der 2. Intifada mit Selbstmordanschlägen innerhalb Israels, welche für viele Israelis traumatisch war. Der anhaltende Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen in den Jahren seit dem israelischen Rückzug 2006 ließ das israelische Friedenslager weiter schrumpfen - stand der Rückzug doch in krassem Kontrast zur alten Gleichung des Friedenslagers: "Land für Frieden".
Die anhaltende Spaltung zwischen Fatah und Hamas und der Besuch von Hamas-Chef Khaled Meshal im November 2009 im Gaza-Streifen, in dem er erklärte, es dürfe kein Zentimeter Land zwischen Jordan und Mittelmeer aufgegeben werden, stärkt zudem den Narrativ der israelischen Rechten:
Wir haben keine Partner mit denen wir verhandeln könnten. Es gibt keine Alternativen zum Status Quo.
Die Tatsache, dass außer der linken Partei Meretz und Tzipi Livni keiner das Thema im Wahlkampf aufgegriffen hat, ist Indikator dafür, wie sehr dieses Verständnis der Sachlage weit in die politische Mitte gerutscht ist. Kaum eine Partei hielt es für opportun, sich eine neue Verhandlungsinitiative mit den Palästinensern auf die Fahnen zu schreiben, an deren Gelingen die Mehrheit der Bevölkerung nicht glaubt.
Für den israelischen Journalisten Gideon Levy spiegelt der Ausgang der Wahl wieder, dass "die Israelis vor allem ihre Ruhe haben wollen von all den nervigen, nagenden Themen". Das gute Abschneiden Yair Lapids ist für ihn "der Sieg eines offensichtlich apolitischen Kandidaten in der offensichtlich apolitischsten Wahl, die in Israel bisher stattfand".
Yair Lapid verkörpere das Bedürfnis der Mittelschichten, "in einem ganz normalen Land zu leben", und den politischen Eskapismus, der mittlerweile in weiten Bevölkerungskreisen verbreitet ist.
Ein Ende des Status Quo bleibt unwahrscheinlich
Für den angeschlagenen Premier Benyamin Netanyahu tun sich in der Koalitionsbildung nun drei wesentliche Möglichkeiten auf: Er kann die beiden politischen Newcomer Yair Lapid und Naftali Bennet in seine Koalition integrieren. Yair Lapid wäre das zivile Gesicht einer solchen Regierung und würde die politisch moderaten, eher auf materielle Themen fixierten Mittelschichten ansprechen.
Naftali Bennet stünde am rechten Rand und würde das ideologische rechte Lager repräsentieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Regierung, in der ein beträchtlicher Teil der Abgeordneten aus rechten Falken besteht, neue Verhandlungen mit den Palästinensern zum Kern ihrer Agenda macht, ist mehr als unwahrscheinlich.
Linke Kritiker einer solchen Koalition sehen in Yair Lapid nur das moderate Feigenblatt für eine Politik, die im Bezug auf den Konflikt weitestgehend unverändert bleiben würde.
Künftige Optionen
Die zweite Alternative wäre die stramm rechte Koalition aus Likud-Beitenu, den Nationalreligiösen und den Ultraorthodoxen, die lange prognostiziert wurde. Diese würde das Land nach dem knappen Ausgang der Wahl extrem polarisieren, aber auch vor eine Zerreißprobe innerhalb der Koalition stellen: Eine Verschärfung des Konfliktes mit den Ultra-Orthodoxen über die graduelle Aufhebung der Wehrdienstbefreiung ist absehbar. Ob Netanyahu dieses Risiko einer spannungsgeladenen Koalition auf sich nimmt, ist fraglich.
Seine dritte Option wäre, die Koalition zur Mitte hin zu öffnen und zusammen mit Yair Lapids Yesh Atid auch andere Mitte-Links-Parteien wie die Arbeitspartei oder Tzipi Livni's Hatnuah mit ins Boot zu holen. Diese "große Koalition" wäre eine deutliche Verschiebung in die politische Mitte. In Fragen neuer Verhandlungen mit den Palästinensern könnte Netanyahu stärker unter Druck geraten.
Jedoch ist bei einer solchen Konstellation die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Regierung bis zur Handlungsfähigkeit gespalten wäre. Zudem könnte der rechte Flügel in Netanyahus eigener Partei, der bei den letzten Partei-internen Wahlen stärker wurde, bei einer solch' starken Drift in die Mitte auf die Barrikaden gehen.
Im Hinblick auf den Status Quo wäre das letzte Szenario das einzige, welches unter Umständen Bewegung versprechen würde, umso mehr, wenn sich auch Barack Obama in seiner zweiten Amtszeit nochmal aktiv für einen Nahost-Frieden einsetzt. Die erste Verlautbarung aus dem Weißen Haus nach der Wahl in Israel war, dass die USA auch von der neuen israelischen Regierung nach wie dir selbe Erwartung haben: auf eine 2-Staaten-Lösung hinzuarbeiten.
Eine Koalition für die Zukunft?
Die einzige Variante, welche eine radikale politische Wende im Lande bedeutet hätte, ist nach der Endauszählung der Stimmen mittlerweile numerisch nicht mehr möglich: eine Koalition aller Mitte-und Links-Parteien mit den arabischen Parteien, die auf 11 Mandate kamen.
Gleichwohl stünde diese Koalition gegen rechts vor enormen inneren Gegensätzen: Die drei arabischen Parteien Ra'am Taal, Hadash und Balad sind allesamt nicht-zionistische Parteien, das heißt, sie lehnen die nationale Identität Israels als mehrheitlich jüdischen Staat ab. Im Gegensatz dazu sehen sich alle jüdischen Parteien, selbst linke Parteien wie Meretz, die arabische Mitglieder haben, als zionistische Parteien.
Aufgrund dieser Gegensätze war keine arabische Partei in Israels Geschichte je an einer Regierungskoalition beteiligt. Dennoch wird sich nach dem Ausgang der Wahl so mancher Abgeordnete einer arabischen Partei geärgert haben: Wie schon bei den letzten Wahlen lag die arabische Wahlbeteiligung mit 57% unter der jüdischen von 67%.
Bei gleicher Wahlbeteiligung hätten die arabischen Parteien womöglich die entscheidenden zwei Sitze mehr bekommen, mit der eine arithmetische Mehrheit gegenüber dem rechten Lager vorhanden gewesen wäre. Hin zu einer funktionalen Koalition aus zentristischen, linken und arabischen Parteien wäre aber dennoch ein langer Weg an Basisarbeit gewesen.