Britische Verhältnisse: "Bahn für Alle" warnt vor Zerschlagung
- Britische Verhältnisse: "Bahn für Alle" warnt vor Zerschlagung
- Ampel will mehr Wettbewerb
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Bundesregierung will marode Schienen mit "gemeinwohlorientierter" Infrastrukturgesellschaft flott machen. Kritiker fürchten mehr Privatisierungen.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann tagen sie noch heute: Mit Unterbrechungen seit Sonntagabend ringen die Ampel-Parteien per Koalitionsausschuss um Kompromisse in einer Reihe von Streitfragen rund ums künftige Regieren. Ein Hauptknackpunkt ist die Verkehrspolitik, dabei insbesondere die Leistungsbilanz und die Pläne des zuständigen Ministers Volker Wissing.
Der FDP-Politiker gilt klimapolitisch als stärkster Bremser im Kabinett Olaf Scholz (SPD). Unter seiner Regie hat das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) das letztjährige Sektorziel des Klimaschutzgesetzes verfehlt.
Erst am Wochenende setzte er in Brüssel durch, dass mit synthetischen Kraftstoffen – sogenannten E-Fuels – betriebene Neuwagen auch nach 2035 in der EU zugelassen werden können. Dafür hatte sich davor bekanntlich schon sein Parteichef und Bundesfinanzminister Christian Lindner in direktem Austausch mit Porsche-Chef Oliver Blume ins Zeug gelegt.
200.000 fordern Rücktritt
Was einmal mehr beweist: Beim Lobbyieren für deutsche Autobauer ist Wissing so verlässlich wie jeder seiner Amtsvorgänger. Die Interessen von VW, Daimler und Co. sind ihm allemal heiliger als die eigenen Beliebtheitswerte. Vor sieben Tagen wurde eine Petition des Netzwerks Fridays for Future (FFF) zwecks Absetzung des "Arbeitsverweigerers" gestartet. Die Zahl der Unterstützer liegt schon jetzt bei knapp 200.000.
In der Vorwoche rechnete Greenpeace vor, was die von Wissing forcierten Straßenbaupläne kosten werden. Demnach gerieten die 800 im Bundesverkehrswegeplan (BVWP) mit höchster Priorität eingestuften Projekte im Falle der Umsetzung bis 2035 dreimal so teuer, als ursprünglich vorgesehen war. Statt 51 Milliarden Euro, wie 2016 veranschlagt, drohten Ausgaben von 153 Milliarden Euro.
Insgesamt umfasst der BVWP fast 1.400 Vorhaben im Umfang von nach damaliger Kalkulation 270 Milliarden Euro. Hochgerechnet könnten sich die Kosten auf 800 Milliarden Euro und mehr auswachsen. "Schotterpisten" hat die Umweltschutzorganisation die fragliche Studie betitelt und gewarnt, Wissing lege für seine "Verkehrsprognose 2040" genau die Vorgaben zugrunde, wie sie im sieben Jahre alte BVWP stehen.
Stau trotz Autobahnausbau
Kommt es so, fehlt freilich allerhand Geld für den Ausbau der in Jahrzehnten heruntergewirtschafteten deutschen Bahninfrastruktur. Wohin die Reise gehen könnte, hat Wissing zuletzt mit seiner Ansage verdeutlicht, die Realisierung des "Deutschlandtakts", eines Taktfahrplans bei der Bahn nach Schweizer Vorbild um 40 Jahre aufs Jahr 2070 zu verschieben. Das wäre weniger als Stillstand. Wobei es den künftig wohl selbst auf dem nach Wissings Plänen um weitere 850 Kilometer verlängerten Autobahnnetz geben würde.
Nach einer weiteren Greenpeace-Analyse auf Basis von Verkehrsdaten des Unternehmens TomTom wird das Risiko, in einen Stau zu geraten, mit erneuerten und ausgebauten Straßen gar nicht geringer. Auf den Hauptverkehrsadern in der Umgebung der Ausbaustrecke soll es sogar steigen. Profiteure wären lediglich "schnell fahrende Autos außerhalb der Stoßzeiten".
Trennung von Netz und Betrieb
Die Frage, wer profitiert, stellt sich auch bei einem anderen Projekt der Bundesregierung. Zum 1. Januar 2024 soll das Schienennetz der Bahn in eine separate, wie es heißt, "gemeinwohlorientierte" Infrastrukturgesellschaft namens InfraGO überführt und damit vom Eisenbahnbetrieb getrennt werden.
Die Erlöse der Gesellschaft sollen erklärtermaßen komplett in den Erhalt und die Modernisierung des Schienennetzes fließen. Dagegen täuschen die heute von der Deutschen Bahn (DB) von der öffentlichen und privaten Konkurrenz verlangten Trassenentgelte vor allem darüber hinweg, dass der hauseigene Bahnbetrieb seit Jahren rote Zahlen schreibt.
Aber wird mit der geplanten InfraGO alles besser? Nein, glaubt man bei "Bahn für Alle". Das Bündnis äußerte sich am Dienstag bei einem Pressefrühstück in Berlin zu den Gefahren des Vorhabens und warnte dabei vor "britischen Verhältnissen". Das Vereinigte Königreich lieferte mit der Zerschlagung der British Rail Mitte der 1990er-Jahre den Sündenfall einer desaströsen und schlussendlich gescheiterten Bahnprivatisierung.
Auch dort wurden Schiene und Betrieb getrennt, wobei seit 2002 die in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft befindliche und nicht gewinnorientierte Network Rail Gleise, Signale, Tunnel, Brücken, Bahnübergänge und Bahnhöfe bewirtschaftet und damit den bis dahin tätigen Privatbetreiber Railtrack abgelöst hat. In dessen Verantwortung war die Instandhaltung des Netzes sträflich vernachlässigt worden und ereigneten sich drei schwere Zugunglücke mit insgesamt mehr als 40 Todesopfern.
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