Bürgenstock-Konferenz: "Die Anfrage an die Schweiz kam aus der Ukraine"

Die Politologin Nora Meier über die Ukraine-Konferenz in der Schweiz. Über Chancen auf einen Dialog mit Moskau. Und über den steinigen Weg zum Frieden. Ein Telepolis-Podcast.

Fast zweieinhalb Jahre dauert der Krieg in der Ukraine bereits, und eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld ist noch immer nicht in Sicht. Eine großangelegte Offensive der Ukraine im vorigen Jahr scheiterte.

Derzeit rücken die russischen Truppen schrittweise voran, aber es sieht nicht so aus, als ob eine der beiden Seiten größere Gewinne erzielen könnte. Ist damit der Zeitpunkt gekommen, die Kämpfe zu stoppen und mit diplomatischen Mitteln eine Lösung zu suchen?

Im Schweizer Nobelhotel Bürgenstock treffen sich am Wochenende Abgesandte aus rund 90 Staaten, um die Chancen dafür auszuloten. Nora Meier ist Politikwissenschaftlerin und Mitinhaberin des Forschungs- und Beratungsunternehmens Ambühl Meier AG, das sich auf Verhandlungsfragen und Konfliktmanagement spezialisiert hat.

Gemeinsam mit dem früheren Staatssekretär im Schweizer Außenministerium Michael Ambühl berät sie unter anderem in internationalen Konflikten. Und für die Uni Zürich haben beide eine spieltheoretische Forschungsarbeit zur Lösung des Ukraine-Konflikts vorgelegt.

Dietmar Ringel hat im Telepolis-Podcast mit Nora Meier gesprochen.

▶ Die Konferenz auf dem Bürgenstock wurde von der Ukraine initiiert. Der Kriegsgegner Russland ist dort nicht vertreten. Welchen Sinn hat eine solche Konferenz?

Nora Meier: Zunächst: Da eben nicht alle Konfliktparteien anwesend sind, kann man nicht von einer eigentlichen Friedenskonferenz oder einem Friedensgipfel, wie er zu Anfang auch genannt worden ist, sprechen. Aber die Konferenz macht trotzdem Sinn, weil sie ein Teil eines wichtigen Prozesses in Richtung Konfliktlösung ist.

Konferenz soll positives Zeichen setzen

Und dieser Prozess wurde bereits zu früheren Zeitpunkten eingeleitet. Und nun ist das eben die Weiterführung oder die Fortsetzung eines Prozesses. Es ist ein positives Zeichen und eine Willensbekundung, dass man eben einen Beitrag leisten will, diesen Konflikt zu lösen und zu beenden.

▶ Trotzdem noch mal nachgefragt: Es gab und gibt ja auch gerade wieder Unterstützungskonferenzen für die Ukraine. Da sind auch dutzende Staaten vertreten. Ist das, was am Bürgenstock passieren soll, mehr als eine Unterstützungskonferenz für die Ukraine?

Nora Meier: Ja, denn es werden auch inhaltliche Punkte besprochen. Die sind aus dem 10-Punkte-Plan, den Präsident Selenskyj im vorigen Jahr vorgeschlagen hat, ausgewählt worden. Zum einen sind es inhaltliche Punkte, die besprochen werden sollen auf dem Bürgenstock.

Politische Ebene vertreten

Zum anderen ist es auch eine politische Ebene, die auf dieser Konferenz vertreten ist, die nicht unbedingt immer an allen anderen Konferenzen, die bereits stattgefunden haben, auch so vertreten war.

Und ich glaube, das Wichtigste, das diese Konferenz unterscheiden könnte, ist das Momentum, das dadurch generiert werden könnte. Es geht vor allem darum, wie man dann den Nachgang gestaltet, der auf die Bürgenstock-Konferenz folgen könnte, und dieses Momentum dann zu nutzen, um den Prozess weiterzuführen.

Ich denke, das ist ein Unterschied, den man nutzen könnte im Vergleich zu anderen bereits stattgefundenen Bemühungen.

Russland nicht eingeladen, aber …

▶ Darauf kommen wir noch zu sprechen. Aber ich will noch mal nachfragen: Gibt es denn irgendwelche Kanäle nach Russland? Die Frage ist ja schon mal, wurde Russland überhaupt eingeladen? Offiziell nicht, aber da heißt es immer wieder, Russland wolle ja auch gar nicht eingeladen werden. Nur – wenn man es gar nicht probiert, dann weiß man es ja auch nicht.

Nora Meier: Es wurde gesagt, Russland wurde nicht eingeladen, oder die Ukraine wollte nicht, dass Russland teilnimmt. Die Bürgenstock-Konferenz ist offenbar aus einer Konferenz von nationalen Sicherheitsberatern im letzten Jahr entstanden. Diese Initiative wurde dort angestoßen.

Anfrage kam aus der Ukraine

Und die Anfrage letztlich an die Schweiz, ob sie eine solche Konferenz organisieren möchte, kam von der Ukraine. Die wollte Russland anfangs nicht dabeihaben, und darauf hat man sich dann eingelassen. Das hat die Schweiz nicht alleine entschieden, sondern in Absprache mit anderen Staaten.

Im Vorgang zur Bürgenstock-Konferenz wurden Gespräche geführt. Man hat zum Beispiel auch gesehen, dass unser Außenminister Cassis in New York den russischen Außenminister Lawrow getroffen hat. Es gab mehrere informelle Gespräche, um das Interesse Russlands an einer Teilnahme zu eruieren.

Russland hat im Vorfeld nie ein Interesse an einer Teilnahme signalisiert. Ich denke, es sind diese beiden Elemente, die dazu geführt haben, dass Russland nicht offiziell in schriftlicher Form eingeladen worden ist.

Diese Länder fehlen

▶ Es werden viele Staats- und Regierungschefs erwartet, die Hälfte ungefähr aus westlichen Staaten. US-Präsident Biden bleibt allerdings zu Hause. China als enger Partner Russlands ist entweder gar nicht vertreten oder auf nicht hohem diplomatischen Rang.

Da ist wohl noch einiges im Gange. Und auch andere Länder des Globalen Südens wie Brasilien zum Beispiel sind nicht prominent vertreten. Ist das ein Manko für die Konferenz?

Nora Meier: Ja, ich denke, vor alleä die Absage Chinas ist bedauerlich. Das wäre ein bedeutendes Zeichen gewesen für die Konferenz, aber auch für die Schweiz wäre das wichtig gewesen. China und Russland pflegen enge Beziehungen. China ist eine wichtige Wirtschaftsmacht und hätte Druck auf Russland ausüben können.

Mit China wäre Konferenz aufgewertet

Hätte China teilgenommen, wäre das eine andere Strahlkraft gewesen. Dementsprechend wurden auch Bemühungen unternommen. Und, wie Sie gesagt haben, werden immer noch Bemühungen unternommen, dass China in irgendeiner Form an dieser Konferenz teilnehmen wird.

Die Nichtteilnahme Chinas ist aber nicht das Ende des Prozesses. Es ist gelungen, dass neben den G7 und den EU-Institutionen auch Staaten aus dem sogenannten Globalen Süden teilnehmen. Unter anderem auch Indien.

Indien will Vertreter entsenden

Nicht in der Person von Narendra Modi, aber eine Teilnahme ist vorgesehen Es ist wichtig, dass die Konferenz stattfindet und der Prozess eben danach weitergeführt wird.

Die Nichtteilnahme von Präsident Biden ist zwar bedauerlich, aber nicht überzubewerten. US-Vizepräsidentin Kamala Harris nimmt teil, und vor allem wichtig ist die Teilnahme des nationalen Sicherheitsberaters Sullivan.

Er war im Rahmen der Treffen der nationalen Sicherheitsberater bereits involviert, auch in der Diskussion um die inhaltlichen Punkte, die nun am Bürgenstock diskutiert werden sollen. Und darum denke ich, sind die USA mit diesen beiden Vertretern auch gut dabei.

Um diese Themen geht es bei der Ukraine-Konferenz

▶ Dann wollen wir gleich mal einhaken bei den Inhalten, um die es gehen soll auf dem Bürgenstock. Es sind vier Themen festgelegt, über die gesprochen werden soll: Humanitäres, nukleare Sicherheit, freie Schifffahrt und Ernährungssicherheit. Warum wurde gerade diese Auswahl getroffen?

Nora Meier: Diese Themen sind Teil dieses Zehn-Punkte-Plans, den ich vorhin erwähnt habe und den Präsident Selenskyj im Herbst 2023 als ukrainische Anforderungen an den Frieden eingebracht hat.

Man hat gemerkt, dass die zehn Punkte zu ambitioniert wären, und hat sich dann auf eine Auswahl dieser vier Punkte geeinigt. Diese Punkte sind zum einen zivilgesellschaftlich wichtig, vor allem auch, weil sie weitere, globale Auswirkungen haben, an deren Lösung auch Länder aus dem sogenannten Globalen Süden ein Interesse haben.

Auch teilweise Einigung positiv

Und der Vorteil ist, dass sie tendenziell politisch auch isoliert betrachtet werden können. Und das kann eine Einigung in diesen Bereichen erleichtern.

Ich denke, wenn man teilweise Einigungen oder ganze Einigungen erzielen könnte, sei es auf dieser Konferenz, sei es im Nachgang, wäre das positiv für den gesamten Prozess. Weil man grundsätzlich zeigen kann, dass gemeinsame Interessen vorhanden sind und eine Kooperation, wenn auch in kleineren Bereichen, trotzdem noch möglich ist.

Letztlich geht es nicht ohne Russland

▶ Und man müsste dann die Ergebnisse der Konferenz den Russen übermitteln und müsste abwarten, was die dazu sagen. Denn es müssen ja Kompromisse gefunden werden …

Nora Meier: Das ist richtig. Letztlich muss Russland am Tisch sein. Man könnte einfach jetzt bereits festlegen, dass es gemeinsame Interessen der unterschiedlichen Teilnehmerstaaten dieser Konferenz gibt.

Das sind eben nicht nur westliche Staaten, sondern auch Länder aus dem sogenannten Globalen Süden. Hier könnte man eine gewisse Einigungsbasis erzielen, die natürlich dann aber auch mit Russland besprochen werden muss.

Zentrale Forderungen der Ukraine "nicht im Zentrum"

▶ Das heißt aber auch, dass ganz zentrale Forderungen der Ukraine zunächst nicht zur Debatte stehen. Fragen wie: Der Aggressor Russland muss bestraft werden, Stichwort Reparationen in großer Höhe. Putin und andere russische verantwortliche Politiker müssen vor das internationale Strafgericht gestellt werden.

Russland muss verdrängt werden aus der Ukraine. Es darf nicht hingenommen werden, dass Teile der Ukraine besetzt bleiben. Das sind ja ganz zentrale Forderungen der Ukraine – die im jetzigen Moment keine Rolle spielen?

Nora Meier: Auf dieser Konferenz sind sie nicht im Zentrum. Man hat sich auf diese Punkte, die sie vorhin genannt haben, geeinigt, auch weil man in den anderen Punkten jetzt zu diesem Zeitpunkt keine Einigung erzielen könnte. Darum versucht man es in kleineren Bereichen, die man von den ganz umfassenden Forderungen, isolieren kann.

Was passiert nach der Konferenz?

▶ Ich will zurückkommen auf dieses Momentum, von dem sie vorhin gesprochen haben. Sie sagten, diese Konferenz wäre ein Erfolg, wenn es danach weitergehen könnte, wenn ein Prozess angestoßen werden könnte. Woran kann man den Erfolg denn messen?

Nora Meier: Ich denke, den unmittelbaren Erfolg dieser Konferenz könnte man zum einen an der Formulierung und am Inhalt einer möglichen Schlusserklärung messen.

Gibt es überhaupt eine solche Schlusserklärung? Gibt es Einstimmigkeit? Das wäre schon sehr positiv zu werten. Oder ist das Dokument am Schluss der Konferenz eine sogenannte präsidiale Erklärung, die die Schweiz als Gastgeberin veröffentlichen würde.

Erwartungen an Schlussdokument

Dann ist es sicher wichtig anzuschauen, welche Botschaften im Dokument, sollte es eines geben, vorhanden sind. Wird damit Druck auf Russland ausgesendet oder sind es eher Formulierungen, mit denen man Russland eben an einen Tisch holen möchte, im Rahmen einer nächsten Folgekonferenz zum Beispiel. Das wäre eine Möglichkeit, den Erfolg zu messen.

Zum anderen denke ich an mögliche Pläne für weitere Schritte. Also, wie konkret und wie zeitnah sind diese? Gibt es bereits eine Ankündigung über eine Nachfolgekonferenz?

Die Frage der Folgekonferenzorte

Es werden bereits Gespräche geführt, auch mit nichtwestlichen Staaten, zum Beispiel Saudi-Arabien, der Türkei oder China als mögliche Folgekonferenzorte. Und wie zeitnah sind diese? Falls man sich bereits darauf einigen könnte, dass eine solche Konferenz in diesem Jahr noch stattfinden könnte, wäre sicherlich auch ein Erfolgsfaktor. Und für die Schweiz wäre es darüber hinaus als Organisatorin und Gastland noch wichtig, wenn es keinen Eklat oder sicherheitsrelevanten Zwischenfall gäbe.

▶ Frau Meier, in Ihrer Spieltheorie, die ich vorhin erwähnt habe, die Sie zusammen mit Ihrem Büropartner Michael Ambühl an der Uni Zürich vorgelegt haben, ist mit Blick auf den Ukraine-Konflikt auch die Rede davon, dass es am Ende um eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa gehen muss. Wie zentral ist diese Frage aus Ihrer Sicht?

Nora Meier: Ich denke, das ist etwas, das diskutiert werden müsste im Rahmen einer Beendigung dieses Konfliktes. Wir haben verschiedene Inhalte thematisiert in unserer Veröffentlichung für das Europa-Institut an der Universität Zürich.

Vereinbarung zwischen Russland und der Ukraine

Es gibt zum einen eine Vereinbarung zwischen Russland und der Ukraine. Es müsste ferner aber auch über eine neue Sicherheitsarchitektur gesprochen werden, die auf einer Kooperation beruht und, die die neuen Gegebenheiten der vergangenen 30 Jahre berücksichtigt und dementsprechend gestaltet.

Es ist wichtig, dass man sich diesbezüglich Gedanken macht. Ich glaube, das müsste bereits parallel zu den Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland passieren, sollte es die dann geben.

Vernünftig, das sind Kompromisse

▶ Frau Meier, wenn man sich Ihre Spieltheorie anschaut, aber auch wenn man Ihnen so zuhört, dann sage ich zumindest, das ist logisch, das klingt vernünftig.

Es geht darum, Konflikte beizulegen, es geht darum, Kompromisse zu machen. Und Sie als Vermittlerin müssen sich dabei neutral verhalten. Wie sie das privat sehen, ist eine andere Sache, aber in ihrem Handeln müssen sie neutral sein, damit das beide Seiten akzeptieren.

Haben Sie den Eindruck, dass Menschen wie Sie, die sich mit Völkerrecht, die sich mit Vermittlung und Kompromisssuche befassen, dass die gehört werden von Politikern in den Zeiten, in denen wir gerade leben?

Nora Meier: Ja, das ist eine gute Frage. Ich denke, dass man tendenziell eher das hören möchte, was einem dem eigenen Ziel näherbringt als einem Kompromiss.

Das heißt, es ist eine schwierige Aufgabe zu vermitteln und macht es umso herausfordernder. Ich denke aber nicht, dass man es deshalb aufgeben sollte, sondern man muss sich vielleicht überlegen, ob man die Ansätze als Vermittler eventuell etwas anders denken muss, vielleicht eher in kleineren Schritten, mit Blick aber auf einen umfassenden Ansatz.

Interne Kanäle werden wichtiger

▶ Heißt das auch, dass interne Kanäle auch bei diplomatischen Kontakten wieder wichtiger werden? Gibt es diese internen Kanäle überhaupt noch bei den zugespitzten Konflikten, über die wir gerade sprechen?

Nora Meier: Ich glaube, es ist sehr wichtig, die Kanäle zu allen eventuell involvierten und relevanten Akteuren offenzuhalten, eben genau, um vielleicht auch auf einer tieferen Ebene Sachen besprechen zu können.

Über die Schwierigkeiten und Chancen der Konferenz für eine Friedenslösung in der Ukraine auf dem Bürgenstock bei Luzern sprach Dietmar Ringel mit der Schweizer Politikwissenschaftlerin und Konfliktforscherin Nora Meier.