"Büyük Lider" an alle

Seite 2: Der Ruf des "Büyük Lider" schallt bis nach Deutschland

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Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine Jünger in der Putschnacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 per Handy-Interview zur Vaterlandsverteidigung aufrief, eilten spontan tausende Menschen in der Türkei auf die Straßen - doch nicht nur dort, sondern auch hierzulande vor die türkische Botschaft in Berlin, das Konsulat in Hamburg oder einfach zu den nächstbesten Plätzen in verschiedenen kleineren und größeren Städten. Auch hier dieselbe "Melange" aus Islamismus, Nationalismus und Gewaltbereitschaft: türkische Fahnen, "Allahu Akbar"-Rufe - und überall auch zu sehen: der "Wolfsgruß", das spezielle Handzeichen der faschistischen Grauen Wölfe.

Das ließ nichts Gutes ahnen. Weder für die Türkei, noch für die politische Lage in unserem Land. Schon nach der Armenien-Resolution waren in verschiedenen Medien aufgebrachte türkische Nationalisten zu sehen, die auf "die Vaterlandsverräter" schimpften, und ihnen offen drohten. Seit dem 15. Juli 2016 hat sich die Eskalationsstufe gesteigert.

Da stellt sich die Frage, wieso so viele, z. T. sehr lang hier lebende Menschen mit türkischen Wurzeln eine so enge Bindung an die Türkei haben. Grundsätzlich ist festzustellen, dass das nicht nur für nationalistisch eingestellte Menschen gilt, sondern auch für Oppositionelle. Die meisten der hier lebenden Menschen mit familiären Wurzeln in der Region, die türkisches Staatsgebiet ist, haben dort Angehörige und Bekannte. Völlig unabhängig davon, ob sie rechts oder links sind, türkisch-nationalistisch, alevitisch, ezidisch, kurdisch, fortschrittlich oder erz-reaktionär. Sie haben sozusagen ein persönliches Interesse daran, dass sich die Dinge in der Türkei zu ihrer Zufriedenheit entwickeln. Im Interesse ihrer dort lebenden Angehörigen, aber auch im eigenen, nämlich sich keine Sorgen machen zu müssen und z.B. problemlos hin- und her reisen zu können.

Der Unterschied ist jedoch, mit welchen Mitteln diese Besorgnis sich ausdrückt. Während die einen derzeit durch Protestnoten und weitestgehend friedliche Aktionen ihre Sorgen und ihre Forderungen zum Ausdruck bringen, setzen die anderen auf Hass und Gewalt.

Enge Anbindung an die Türkei

In ihrem Buch "Graue Wölfe heulen wieder" stellen die Autoren Fikret Aslan und Kemal Bozay anschaulich dar, wie groß die (emotionale) Anbindung vieler hier lebender türkisch-stämmiger Menschen an ihr Herkunftsland ist. Und wie dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit in Zeiten von Satelliten-Übertragungen über tausende Kilometer Entfernung wunderbar funktioniert. Und zwar von beiden Seiten.

Erdoğan hat mehrfach unter Beweis gestellt, dass er diese emotionale Nähe vieler türkisch-sprachiger Menschen wunderbar auszunutzen weiß, beispielsweise im Wahlkampf. Aber auch, indem er wie im Fall der ermordeten Studentin Tuğçe ganz klar Stellung bezog und so den hier lebenden türkisch-stämmigen Menschen ein Stück Geborgenheit vermittelte. Ein Gefühl, das ihnen die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht bietet. Schon gar nicht, wenn mal wieder "eine von ihnen" Opfer einer Gewalttat wurde.

Auch in dieser Nacht der Nächte hat Erdoğan die Seinen im fernen Europa nicht vergessen: "P.S. im Moment bekommen alle Bürgerinnen und Bürger eine SMS von Erdoğan auf ihre Mobiltelefone, mit dem Inhalt, daß der Putschversuch niedergeschlagen worden ist", schrieb Lale Akgün am Morgen des 16. Juli auf Facebook). Alle Besitzerinnen und Besitzer von in der Türkei registrierten Handys bekamen diese SMS. Ebenso die, in denen Erdoğan mitteilte, dass der 15. Juli fürderhin Feiertag werde.

Das wirft einerseits Fragen auf, nämlich wieso der Präsident Zugriff auf alle in der Türkei registrierten Handynummern bekommt? Aber diese Kurzmitteilungen geben auch Antworten. Nämlich auf die Frage, wie diese enge Anbindung möglich ist. Menschen, die z. T. noch nie in der Türkei gelebt haben, die hier geboren sind oder hier seit Jahrzehnten leben und arbeiten, lassen sich von Erdoğan per SMS dirigieren.

Straff organisiertes Netzwerk

Das passiert natürlich nicht nur durch eine Telefonbotschaft oder eine Kurzmitteilung, sondern vor allem durch das straff organisierte Netzwerk nationalistischer und islamischer Organisationen, das über Jahrzehnte hinweg geschaffen wurden.

Da ist zu allererst zu nennen DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.), die direkt dem türkischen DIYANET, dem Amt für Religionsangelegenheiten, unterstellt ist. DIYANET wiederum ist direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt.

DITIB sind mehr als 900 Moscheen in Deutschland unterstellt sowie mehr als 1000 Imame, die von der Türkei finanziert werden. Es ist also keine böswillige Unterstellung zu behaupten, dass die türkische Regierung via DITIB den Daumen auf das muslimisch-religiöse Geschehen in unserem Land hält.

Eine wesentliche Rolle spielt auch die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD). Die ließe sich kurz beschreiben als Auslandsorganisation der AKP.

Der stellvertretende Vorsitzende der UETD, Fatih Zingal, ein Jurist aus Solingen, nannte Erdoğans Agieren seit Juni 2015 als "grunddemokratisch". In der Talkshow von Anne Will am vergangenen Sonntag erläuterte er sein Verständnis von "grunddemokratisch" etwas genauer. Demnach sind die Suspendierungen zehntausender Bediensteter in unterschiedlichen Bereichen in Militär, Justiz und Behörden begründete Maßnahmen aufgrund eines "Anfangsverdachts, dass sie verwickelt sein könnten in die Parallelstrukturen". Schließlich "weiß man nicht ganz genau, wer da noch drin verstrickt ist".

Diese "Parallelstrukturen" sind eine ernstzunehmende Gefahr, da ist Zingal sich sicher, denn schließlich habe sogar die Jerusalem Post geschrieben, dass "diese zionistisch seien und als Wölfe im Schafspelz gelten". Diskussionspartner Özdemir atmete hörbar einmal tief durch, aber ansonsten blieb diese These unwidersprochen.

Im allgemeinen gilt als "Parallelstruktur" das Netzwerk des islamischen Predigers Fetullah Gülen, einem ehemaligen Verbündeten Erdoğans, mit dem er sich überwarf und von dessen Anhängern er sich offenbar verfolgt fühlt. Wie die hohe Zahl der Suspendierungen von Personen, die in diese "Parallelstruktur" verstrickt sein sollen, belegt.

Außerdem wäre da noch die 1995 gegründete IGMG (Islamische Gemeinschaft Milli Görüş/Nationale Sicht). Deren ehemaliger Generalsekretär Mustafa Yeneroğlu, inzwischen Abgeordneter der Erdoğan-Partei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung), ebenfalls Jurist und wie Zingal gern gesehener Gast in Talkshows, bezeichnete Ende Mai bei Anne Will Erdoğan als "lupenreinen Demokraten". Die IGMG fiel vor allem durch antisemitische Ausfälle auf. Nachdem erkannt wurde, dass das in Deutschland nicht so gut ankommt, mäßigte sich der Ton in hiesigen Publikationen.

Hamburg: 80% aller Moscheenvereine gehören zu Milli Görüş

Über einen sehr langen Zeitraum wurde die Organisation vom Verfassungsschutz beobachtet. Doch mehrere Bundesländer haben die Beobachtung unterdessen eingestellt, da nichts darauf hindeute, dass es sich dabei um eine terroristische Organisation handele, u.a. auch Hamburg. Obwohl einer der IGMG-Repräsentanten, der SCHURA-Vorsitzende Mustafa Yoldaş, ebenfalls bekennender Erdogan-Anhänger, auch schon mal auf "Ungläubige" losgeht. Es gibt Fotos, die das belegen.

80% aller Hamburger Moscheen gehören der IGMG an. Von den übrigen 20% wiederum ist mehr als die Hälfte DITIB zuzurechnen, "der direkt vom türkischen Religionsminister kontrolliert wird - und nicht gerade im Verdacht steht, Erdogan gegenüber kritisch zu sein".

Türkische Faschisten immer mittenmang

Wo immer türkische Nationalisten dieser Tage auftauchen, sind auch die "Grauen Wölfe" nicht weit. Das sind Mitglieder der rechtsextremen türkischen Partei MHP (Partei der nationalistischen Bewegung). In der Türkei ist die MHP im Parlament vertreten.

Die "Grauen Wölfe" bezeichnen sie sich selbst als "Idealisten". In der Vergangenheit haben sie schon mehrfach bewiesen, dass sie vor Terror und Mord von Linken oder Kurden nicht zurückschrecken. In der Türkei werden ihnen offiziell hunderte Morde zur Last gelegt. Auch wenn es nie bewiesen wurde: Die "Grauen Wölfe" sollen auch für den Mord an dem armenischen Publizisten Hrant Dink (Mord von Staats wegen?) verantwortlich sein. Dink wurde am 19. Januar 2007 vor dem Verlagsgebäude der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Agos erschossen.

Für kommenden Sonntag hat die UETD eine Kundgebung zum Thema "Militärputsch in der Türkei" angemeldet. Dazu erwartet die Organisation ca. 15.000 Teilnehmende. Erdoğans Getreue wollen Flagge zeigen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Laut Polizeiangaben wurden Gegenproteste angemeldet. Fraglich, ob das dann so störungsfrei abläuft wie die Friedenskundgebungen an diesem Wochenende.