Bulgarien: Der Fall Viktoria Marinova

Marinov in ihrer ersten und einzig gebliebenen Moderation des Politmagazins Detektor am 30. September 2018. Screenshot

Ein mutmaßlicher Sexualmord und seine politischen Folgen

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Am Samstagnachmittag, dem 6. Oktober 2018 wurde im Gebüsch am Donauufer der nordbulgarischen Stadt Russe die Leiche der dreißigjährigen TV-Journalistin Viktoria Marinova gefunden. Ersten Aussagen der Ermittlungsbehörden zufolge war sie geschlagen, vergewaltigt und erwürgt worden. Drei Tage später wurde der einundzwanzigjährige Bulgare Severin Krassimirov in Stade bei Hamburg als Marinovas mutmaßlicher Mörder festgenommen. "Ich kann nicht glauben, dass ich das getan habe. Es tut mir leid. Ich bin schuldig und werde jedes Urteil annehmen", sprach Krasimirov nun am vergangenen Freitag im Gerichtssaal von Russe zu Journalisten.

Mit seinem Geständnis kann eine Affäre mit großer Wahrscheinlichkeit als aufgeklärt gelten, die Bulgarien für einige Tage in die Schlagzeilen der Weltmedien gebracht hatte. Nicht nur internationale Medien hatten die grausame Gewalttat als "Angriff auf die Pressefreiheit" in dem Balkanland gewertet, sondern auch Politiker wie der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP) Manfred Weber. Er sei "schockiert über den brutalen Mord", schrieb der Kandidat für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission. Marinova sei "der dritte ermordete Journalist in der EU in einem Jahr. Das ist höchst besorgniserregend. Eine vollständige Aufklärung durch die bulgarischen Behörden ist dringend nötig."

Die "schlechte Presse" für sein Land empörte Bulgariens Ministerpräsident Boiko Borissov

Als nach Krasimirovs Festnahme erwiesen schien, dass es sich bei der Tat um die spontane Attacke eines unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen stehenden Triebtäters handelte und nicht um die zielgerichtete Liquidierung einer kritischen Journalistin, bestellte Borissov kurzerhand drei dutzend Botschafter ein, um ihnen sein Missfallen darüber mitzuteilen, wie sein Land von der Weltgemeinschaft angeschwärzt worden sei. "Drei Tage lange habe ich ungeheuerliche Dinge über Bulgarien gelesen und nichts davon ist wahr", klagte er.

Inzwischen hat Borissov Genugtuung bekommen, teilte er am Rande des Europäischen Rats in Brüssel Journalisten mit. "Ich habe von allen ein großes 'Entschuldige' erhalten, auch von Weber und den anderen Kollegen." Der bulgarische Regierungschef brachte bei dieser Gelegenheit ein weiteres Mal sein Unverständnis zum Ausdruck, dass es "auf der Grundlage falscher Nachrichten eine solche Reaktion der Anschwärzung eines Staates" geben könne. Der eilfertige Kotau der EVP-Politiker vor ihrem Parteifreund Borissov scheint indes nicht weniger überhastet als die vorschnelle Erklärung eines Sexualverbrechens zum fatalen Anschlag auf die Pressefreiheit.

Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit von Journalisten gibt es in Bulgarien immer wieder

Erst vor wenigen Tagen wurde einem Pressefotografen in Burgas seine Wohnungstür mit einem brennenden Autoreifen abgefackelt. Und kurz darauf wurde einem TV-Team von Bulgaria on Air in Sofia die Kamera zertrümmert.

Zusammen mit der häufigen Verschleierung von Eigentumsverhältnissen bei Medien und ihrem Missbrauch zu politischen und wirtschaftlichen Zwecken tragen Drohungen und körperliche Angriffe gegen Journalisten dazu bei, dass Bulgarien bei der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen (RoG) mit Rang 111 nicht nur das am schlechtesten platzierte Land in der EU ist, sondern auch auf dem Balkan. Vor diesem Hintergrund war der Verdacht nicht abwegig, der Mord an Marinova könne im Zusammenhang mit ihrem Beruf stehen.

Dennoch ist die Art, wie internationale Medien die Nachricht von ihrem Tod global verbreiteten, ein exemplarischer Fall für mangelnde journalistische Sorgfalt. Marinova, Mutter eines siebenjährigen Mädchens, war nicht die von ihnen präsentierte "prominente investigative Journalistin". Relativ leicht wäre herauszufinden gewesen, dass sie sich in ihrer Arbeit als Moderatorin der Sendung Podium für den TV-Sender TVN in den vergangenen Jahren vor allem mit Themen wie Mode und gesunder Ernährung befasst hat. Auch war die grausame Ermordung untypisch für die geplante Exekution einer kritischen Journalistin. .

Viktoria Marinov hat sich erst in jüngster Zeit politischen Themen zugewandt

Dass Marinov in ihrer ersten und einzig gebliebenen Moderation des Politmagazins Detektor am 30. September 2018 das Thema Medienfreiheit in Bulgarien behandelt hat, kann als tragische Ironie der Geschichte gelten, belegt aber nicht hinreichend die Version, ihre journalistische Tätigkeit sei ursächlich gewesen für ihre Ermordung. "Das Bild des investigativen Journalismus in Bulgarien ist ziemlich widersprüchlich", sagte Viktoria Marinova in der Anmoderation zu ihrer Detektor-Sendung. Ein Kollege Marinovas interviewte in ihr zwei Mitte September 2018 von Polizisten während einer Recherche verhaftete Journalisten, Dimitar Stojanov von dem bulgarischen Online-Medium Bivol und sein Kollege Attila Biro vom rumänischen Rise Project.

Einerseits, so Marinova, gebe es starken Druck von der Regierung und der Wirtschaft auf die Eigentümer von Medien und auf die Medien selber und "immer mehr verbotene Themen und systematische Beseitigung investigativer Journalisten". Andererseits hätten investigative Recherchen in den vergangenen Jahren unbestrittene Erfolge gezeitigt. "Ein großer Teil von ihnen wurden auf dem Onlinemedium bivol.bg publiziert. Unsere Equipe sichert zu, auch in Zukunft journalistischen Ermittlungen eine Tribüne zu bieten. Und selber solche auszuführen, die dem öffentlichen Interesse dienen. Denn dies ist Detektor, die Sendung, die die Lüge aufspürt und der Wahrheit Vorrang einräumt."

Bivol, ein Online-Medium für investigativen Journalismus, versteht sich als bulgarischer Partner von WikiLeaks. Es hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Skandale und Korruptionsaffäre enthüllt. Im Rahmen des EU-Projekts "Exposing fraud in EU-funded projects in Romania and Bulgaria" kooperiert es mit dem rumänischen Rise Project. Am Abend des 13. Septembers 2018 inspizierten Dimitar Stojanov und Attila Biro die Asche einer Feuerstelle am Rande der südwestbulgarischen Kleinstadt Radomir, in der zuvor Akten verbrannt worden waren. Dabei wurden sie von Polizisten verhaftet.

"Wir beleuchteten mit unseren Telefonen Dokumentenreste in der Feuerstelle, als aus einem Graben plötzlich zwei Polizisten sprangen und uns aufforderten, uns auf den Boden zu legen", gab Stojanov der Deutschen Welle eine Schilderung seiner Verhaftung, wie er sie zuvor in der Detektor-Sendung gegeben hat.

Erst nach Ermordung wird wegen Korruption im "GP Gate" ermittelt

Bei den zerstörten Akten handelt es sich Dimitar Stojanov zufolge um Dokumente einer doppelten Buchführung von Consulting-Unternehmen, die in enger Verbindung mit dem Bauunternehmen GP Group stehen. Die teilweise an der Adresse der GP Group registrierten Beratungsunternehmen sollen die Vergabe öffentlicher Aufträge für große, mit EU-Geldern finanzierte Infrastrukturprojekte manipuliert haben, um GP Group zum Zuschlag zu verhelfen. Dies habe der GP Group in den vergangenen zwei Jahren geholfen, zu Bulgariens führendem Bauunternehmen aufzusteigen, das eine Vielzahl großer Bauvorhaben realisiert, darunter Sofias dritte U-Bahn-Linie.

Den Recherchen von Bivol zufolge, sollen Schmiergelder in Form von Kommissionen an Entscheidungsträger geflossen sein, während der Bauphase seien EU-Gelder durch fiktive Rechnungen und überhöhte Ansätze von Arbeits- und Materialkosten abgeschöpft worden. "In den EU-Haushaltsphasen 2007 bis 2020 soll Bulgarien insgesamt 15 Mrd € an EU-Geldern für solche Projekte erhalten. Wir müssen leider befürchten, dass ein großer Teil der Mittel durch solch korrupte Schemen verteilt worden ist", sagte Stojanov der Deutschen Welle.

Erste Rechercheergebnisse zum sogenannten "GP Gate" hat Bivol Anfang September 2018 veröffentlicht, sie ergaben sich aus einer Bivol zugespielten großen Menge an Daten. Die bulgarischen Ermittlungsbehörden zeigten zunächst aber keine Initiative zur Aufklärung der publik gemachten Verdachtsmomente. Daran änderte auch die öffentliche Aufregung um die Verhaftung Stojanovs und Biros nichts.

Erst das internationale Echo auf die Ermordung von Viktoria Marinova lockte Bulgariens Generalstaatsanwalt Sotir Tsatsarov aus der Reserve. Seine Behörde ermittle gegen GP Group nicht nur wegen des Missbrauchs von EU-Geldern, sondern auch wegen Geldwäsche und habe die Beschlagnahme von 14 Mio € aus dem Vermögen von mit der GP Group in Verbindung stehenden Firmen angeordnet, erklärte er schließlich. Ihrerseits gab die GP Group erhaltene Zuschläge für den Bau eines Autobahntunnels und die Trasse einer Sofioter Straßenbahn von sich aus zurück.

Und Ministerpräsident Boiko Borissov ordnete an, die staatliche Straßenbaubehörde solle die GP Group "aus allen EU-Projekten herausziehen". Es sei "politischer Wille, dass jeder der verdächtig ist und gegen den Ermittlungen laufen aus Wettbewerben herausgezogen wird, bis er seine Rechtmäßigkeit und Unschuld beweist", erklärte der Regierungschef.

Bereits im Februar 2016 hat Boiko Borissov in ähnlicher Weise Infrastrukturprojekte im Wert von hunderten Millionen € gestoppt, weil zuvor Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihrer Vergabe geäußert worden war. "Boiko Borissov ordnet an, dass irgendwelche Geschäfte gestoppt werden. Das bedeutet, dass er diese Geschäfte auch zulässt. Wir sind Zeugen der persönlichen Herrschaft von Borissov", kommentierte dies der Führer der konservativen Oppositionspartei Demokraten für ein starkes Bulgarien (DSB), Atanass Atanassov.

Auch Dimitar Stoyanov hält Borissovs Anordnung für einen zwar pressewirksamen, aber nicht rechtsstaatlichen Schachzug. "Kündigt der Ministerpräsident an, dass ein Unternehmen sein Recht verliert, an EU-Projekten teilzunehmen, weil es unter Korruptionsverdacht steht, ganz ohne Gerichtsurteil, dann ähnelt das eher russischer oder türkischer Diktatur. Man kann ein Verbrechen nicht mit einem anderen Verbrechen bekämpfen", sagte Stojanov gegenüber der Deutschen Welle.

Am 19. Oktober 2018 hat Bivol dem Generaldirektor der europäischen Korruptionbekämpfungsbehörde OLAF Ville Itälä joins Daten zum GP Gate übergeben, die Fälle von Bestechung und doppelter Buchführung belegen sollen. Nun wird interessant sein, zu sehen, was daraus folgt.