Bulgarien, ein gekaperter Staat

Seite 2: Wirtschaftlicher Fußabdruck Russlands gefährde die nationale Souveränität und wie westliche Orientierung

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Angaben der Autoren der Studie "The Kremlin Playbook" zufolge hat Russland zwischen 2003 und 2014 sein globales Handelsvolumen von 210 Mrd USD auf 730 Mrd USD vervielfachen können. Den Anteil der Europäischen Union (EU) an Russlands Außenhandel taxieren sie zu diesem Zeitpunkt auf 44,5%.

Die Politikberater von CSIS und CSD konstatieren das Anwachsen von Russlands Wirtschaftskraft aber nicht als wertneutrale Tatsache, sondern sehen in ihm Anlass zur Besorgnis, erlaube sie ihm doch "die politische Debatte in den europäischen Hauptstädten gemäß seiner Interessen zu beeinflussen". Sie glauben, einen empirischen Zusammenhang erkennen zu können, zwischen Russlands wirtschaftlichem "footprint" (Fußabdruck) in einem Land und der Entwicklung dortiger Regierungsstandards. "In manchen Ländern ist der russische Einfluss so verbreitet und tiefgreifend, dass die nationale Souveränität ebenso in Frage steht wie die westliche Orientierung des Landes und die euro-atlantische Stabilität überhaupt", schreiben die Autoren.

Für einen Tipping Point (Umkehrpunkt) in der Entwicklung des wirtschaftlichen und politischen Einflusses Russlands im Mittel- und Osteuropa halten die Autoren die Periode 2007-2008. Sei Russlands Wirtschaftspräsenz vor der internationalen Finanzkrise und dem russisch-georgischen Krieg 2008 zum großen Teil "opportunistisch" gewesen, so habe es danach bis zur Ukraine-Krise 2014 seinen wirtschaftlichen Fußabdruck gezielt gesetzt.

Zur Bestimmung des wirtschaftlichen Fußabdrucks Russland haben die Autoren u. a. die Kriterien Präsenz russischer Unternehmen, Direktinvestitionen, Handelsvolumen und privates Eigentum herangezogen. Ihren Berechnungen zufolge war dieser 2014 in Bulgarien mit einem Anteil von 24,4% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) am größten, gefolgt von Lettland mit 16,0%, Serbien mit 14,2% (2013), Slowakei mit 11,1% und Ungarn mit 9,2%.

Unter den von den Experten von CSIS und CSD untersuchten Ländern ist Lettland das einzige, das eine gemeinsame Grenze mit Russland hat und einst eine Republik der Sowjetunion war. Bulgarien wiederum ist historisch eng mit Russland verbunden, waren es doch vor allem russische Soldaten, die das Balkanland 1878 im russisch-türkischen Krieg nach fast fünfhundert Jahre währender osmanischer Fremdherrschaft befreit haben. Im Dezember 1963 schlug der bulgarische Staats- und Parteichef Todor Schivkov vor, Bulgarien zur 16. Sowjetrepublik zu machen.

Prorussische Politiker und Geschäftsleute versuchen angeblich, die Kontrollfunktion der Demokratie zu unterlaufen

Heute sind die Energiewirtschaften Lettlands und Bulgariens stark von Russland dominiert. In Bulgarien ist die russische Gazprom der einzige Gaslieferant, Lukoil betreibt die einzige Öl-Raffinerie und Rosatom unternimmt die Ver- und Entsorgung des bulgarischen Kernkraftwerks Kozloduj.

Bulgariens energiewirtschaftliche Abhängigkeit von Russland wäre auf Jahrzehnte hinaus noch gefestigt und vertieft worden, wären die vor allem von den bulgarischen Sozialisten verfolgten russischen Energieprojekte des AKW Belene, der Gasleitung South Stream und der Öl-Pipeline Burgas-Alexandroupolis realisiert worden. All diese Projekte sind allerdings vorerst gescheitert. Allerdings schließt das erklärtermaßen konservative Kabinett von Regierungschef Boiko Borissov den Neu-Start des AKW Belene unter privater Regie nicht mehr aus und verfolgt bei Varna am Schwarzen Meer das Projekt des Gas-Hubs Balkan, der auch russisches Gas in Südosteuropa verteilen soll.

Die Autoren nennen den umstrittenen bulgarischen Abgeordneten und Medienunternehmer Deljan Peevski als markantes Beispiel für einen im Interesse Russlands tätigen nationalen Politiker und Geschäftsmann. In dem ihm gewidmeten Abschnitt führen sie aus, Peevski kontrolliere ein sich über die fünf Wirtschaftssektoren Medien, Telekommunikation, Energie, Bau und Zigaretten erstreckendes Geschäftsimperium, was ihn zu einem der mächtigsten Leute des Balkanlandes mache.

Er verfüge nicht nur im Medienbereich über eine starke Position, sondern habe sich auch als "einer der treuesten Anhänger der russischen Energiepolitik im Land" erwiesen. So habe er im Parlament South Stream und AKW Belene unterstützt und sich gleichzeitig an einem Konsortium mit dem auf der Sanktionsliste der USA und der EU stehenden russischen Bauunternehmer Genadii Timtschenkov beteiligt. "Der Fall Peevski illustriert das Potenzial dieser Netzwerke des Einflussses und die Systemgefährdung, die sie darstellen", heißt es im der CSIS/CSD-Studie.

Im Juni 2013 löste die Wahl des damals 33jährigen Abgeordneten Peevski zum Chef des wichtigsten nationalen Geheimdienstes DANS eine beispiellose Protestbewegung aus, die dazu beitrug, dass die sozialistisch geführte Koalitionsregierung im Mai 2014 stürzte (Wahl eines Medien-Oligarchen zum Geheimdienstchef trieb Bulgaren auf die Barrikaden).

Prorussische Politiker und Geschäftsleute versuchen laut den Autoren, die Kontrollfunktion der Demokratie zu unterlaufen, Transparenz zu verhindern und Verantwortlichkeit zu leugnen. Dadurch erodiere die Hohheit des Gesetzes, werde der Staat "anfällig für Ausbeutung und Manipulation". Exemplarisch für Ungarn nennen sie den reichen russischen Geschäftsmann und früheren Gazprom-Chef Megdet Rahimkulov, der Schritt für Schritt Aktien an der ungarischen Energiegesellschaft MOL erworben habe. In Serbien hätten russische Geschäftsleute wie Konstantin Malofeev und Igor Rotenberg beträchtliche Investitionen unternommen.

Einseitige Darstellung

In der Selbstdarstellung des CSIS heißt es, das Zentrum biete "strategische Einsichten und überparteiliche Politiklösungen, die Entscheidungsträgern helfen, einen Kurs zu einer bessseren Welt einzuschlagen". Das CSIS vertrete "keine bestimmten politischen Positionen", entsprechend seien "alle in der Studie zum Ausdruck kommenden Ansichten zu verstehen als die alleinigen der Autoren". Auch das CSD sieht sich als "unparteiliche, unabhängige Organisation, bestrebt, den Reformprozess in Bulgarien und Europa zu stärken".

Mit ihrer Studie werden CSIS und CSD ihrem Anspruch indes nicht gerecht. Sie reproduzieren lediglich im öffentlichen Raum hinlänglich bekannte Interpretationen des russischen Einflusses in mittel- und osteuropäischen Ländern, ohne stichhaltige Belege für die Russland unterstellten korrupten und kriminellen Praktiken zu liefern.

Es wird niemand verwundern können, dass die Wirtschaftsmacht Russland ihre nationale Marktposition in den Ländern Mittel- und Osteuropas auszuweiten versucht, geradeso wie auch die Bundesrepublik Deutschland und die USA durch Auslandshandelskammern und andere Interessensverbände danach trachten, Marktpositionen deutscher und us-amerikanischer Unternehmen in der Region zu verbessern. Natürlich steht zu vermuten, dass das Russland von Staatspräsident Vladimir Putin zur Erreichung seiner Ziele auch Methoden anwendet, die nicht immer der hehren Lehre von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entsprechen. Nachprüfbare Fakten dazu bietet die Studie "The Kremlin Playbook" allerdings kaum.

Die Argumentationslinie der Studie würde nicht wesentlich beeinträchtigt, ersetzte man das Wörtchen Russland durch den Terminus USA. Tatsächlich argumentieren Bulgariens Russophile in der politischen Auseinandersetzung mit ihren politischen Gegnern analog.

So kommentiert der Journalist Antoan Nikolov die Tolstoi-Affäre auf dem Blog der Russofilen mit folgenden Worten: "Wir haben uns die Worte von Tolstoi gegriffen und ihn verteufelt, machten daraus fast so etwas wie ein Weltproblem. Aber wenn wir Ankauf / Verkauf in Bulgarien diskutieren, haben plötzlich alle vergessen, dass unser Land dem Risiko amerikanischer Militärbasen ausgesetzt ist, dass wir unser Gold nach Kanada verkaufen für eine Gebühr von nur 2%, dass unsere Bildung und unsere Medien von der Stiftung Amerika für Bulgarien beherrscht werden. Und keiner beantwortet die wichtigste Frage - wer kauft schon ein Land, in dem nicht einmal mehr die eigenen Bürger leben wollen?"