Bumerangeffekt der Enthüllung

Hanne Detel über Skandale und das "Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter"

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Die Medienwissenschaftlerin Hanne Detel hat sich in ihrem gemeinsam mit Bernhard Pörksen verfassten Buch Der entfesselte Skandal - Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter mit der Rolle der neuen Medien bei der Skandalisierung und der Demokratisierung von Inhalten befasst und anhand von zahlreichen Fallgeschichten aufgezeigt, wie die Reputation von Einzelnen, aber auch von Unternehmen und Staaten innerhalb kurzer Zeit ruiniert werden kann.

Frau Detel, welche Rolle kommt dem täglichen Skandal in unserer Gesellschaft zu?

Hanne Detel: Skandale offenbaren und formen die Werte unserer Gesellschaft. Oftmals allerdings machen sie erst die weißen Flecken auf der Normenlandkarte sichtbar - und schaffen so neue Übereinkünfte, wie Menschen sich verhalten sollten und wie nicht. Aktuell, im Fall um die deutsche Hochspringerin Ariane Friedrich, ist genau solch ein Aushandlungsprozess um Normen und Werte im Gange: Darf man jemanden zur Strafe für ein mögliches Vergehen an den digitalen Pranger stellen?

Hanne Detel

Wie hat sich der Skandal durch den Boom der Neuen Medien verändert?

Hanne Detel: Durch die Digitalisierung hat sich der Skandal gewandelt, hat seine räumliche und zeitliche Begrenzung verloren, ist - wie wir es in unserem Buch nennen -entfesselt. Warum? Zunächst: In der heutigen Zeit kann jeder einen Skandal auslösen, nicht mehr nur die klassischen Massenmedien, denn die digitalen Technologien liegen in den Händen aller. Auch sind es nicht mehr nur Mächtige und Prominente, deren Vergehen enthüllt werden, sondern jedermann kann zwischen die Mühlsteine eines Skandals geraten.

Dabei tritt das empörte Publikum als mächtiger neuer Taktgeber auf, streut die Belege des Vergehens, kommentiert und deutet sie. Mit den Enthüllern hat sich auch das Themenspektrum der Skandale erweitert: Relevante Information und private Narration, echte Missstände und abstruse Behauptungen, das Kuriose und das Ekelhafte, die bedeutsame Enthüllung und die hingerotzte Banalität sind gleichermaßen vorhanden. Dabei herrscht oftmals Ungewissheit: Sind die Informationen wahr, handelt es sich um Gerüchte oder gar schlichte Lügen?

"Skandal als existenzieller Kontrollverlust"

Wer sind Nutznießer und wer Leidtragende dieser Entwicklung?

Hanne Detel: Der entfesselte Skandal ist nicht originär gut oder schlecht, sondern kann immer relevante Enthüllung oder grausame Hetzjagd, Aufklärung oder Pranger bedeuten. Zahlreiche Skandalfälle, die wir für unser Buch untersucht haben, zeigen allerdings: Vergehen und Strafe stehen oftmals nicht im Verhältnis zueinander. Und so haben manche kleine oder vermeintliche Normverletzungen zur Folge, dass die digitale Reputation des Betroffenen weltweit und für Jahre zerstört wird. In diesen Fällen wird der Skandal als existenzieller Kontrollverlust empfunden.

Genau dieser Kontrollverlust bedeutet jedoch im Gegenzug ein Kontrollzuwachs für diejenigen, die enthüllen und skandalisieren. Das kann aus Rache, Bösartigkeit oder Langeweile geschehen oder weil jemand das Ziel hat, wirkliche Transparenz zu schaffen, wahre Missstände und bedeutsame Vergehen an die Öffentlichkeit zu bringen. Beispiele hierfür sind etwa die Enthüllungen von Kriegsverbrechen durch Wikileaks oder die Veröffentlichung der Folterfotos im Fall Abu Ghraib.

Steht Aufstieg und Fall von Wikileaks symbolisch für Vor- und Nachteile des Internets?

Hanne Detel: In der Tat spiegelt der Fall Wikileaks - und insbesondere das Schicksal von Bradley Manning, der bekannteste Informant der Plattform, - zentrale Chancen und Gefahren des Internets wieder. Auf der einen Seite wird deutlich, wie einfach es im digitalen Zeitalter geworden ist, Verbrechen und Missstände aufzudecken.

Während seiner Stationierung im Irak kopierte der US-Soldat Manning Hunderttausende als geheim eingestufte Dateien auf eine mit "Lady Gaga" beschriftete CD und ließ sie Wikileaks zukommen. Darunter ein Video, das zeigt, wie US-amerikanische Soldaten von einem Hubschrauber aus unschuldige Zivilisten und Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters erschießen.

Der Datendiebstahl kostete Manning nur einige wenige Stunden. Zum Vergleich: Daniel Ellsberg brauchte Anfang der 1970er Jahre mehrere Monate, um die Pentagon Papers (geheime Dokumente zum Vietnamkrieg) unbemerkt Seite für Seite zu kopieren und damit einen Skandal auszulösen.

Auf der anderen Seite waren es die digitalen Spuren, die Manning während eines vertraulichen Chats mit Ex-Hacker Adrian Lamo hinterließ, die dem jungen US-Soldaten zum Verhängnis wurden und letztlich zur Enthüllung des Enthüllers, zu seiner Festnahme führten. Auch Julian Assange ereilte ein solcher informationeller Kontrollverlust - ein Bumerang-Effekt der Enthüllung.

"Förderung der Medienkompetenz"

Ist Ihrer Ansicht nach in Sachen hemmungsloser Verbreitung von persönlichen Bildern und Daten ein Einschreiten des Staates von Nöten? Wie könnten solche Schritte aussehen?

Hanne Detel: Zunächst ist danach zu fragen, welche Ursache die freizügige Herausgabe persönlicher Daten hat: Oftmals ist es einfach nur Nachlässigkeit, fehlende Medienkompetenz und die in vielen Fällen wiederkehrende Möglichkeitsblindheit: Man kann sich schlicht nicht vorstellen, was mit den eigenen und den Daten anderer passieren kann, in welchen merkwürdigen oder auch fatalen Kombinationen sie im Medium der Öffentlichkeit zu einem zurückkehren und eventuell eines Tages das Image ruinieren.

Was folgt daraus? Wir sehen die Rolle des Staates in einer verstärkten Förderung der Medienkompetenz schon in der Schule, um den Umgang mit eigenen und fremden Daten zu trainieren. Im Falle einer Publikation über Dritte gilt es zu lernen, die Glaubwürdigkeit und Relevanz von Quellen einzuschätzen, emphatisch abzuwägen und so zu handeln, wie ein guter Journalist eben auch handeln würde.

Welche Verantwortung tragen die herkömmlichen (in aller Regel recht konform berichtenden) Medien für das Aufkommen von Internet, facebook und twitter?

Hanne Detel: Was manche Menschen bei den traditionellen Medien vermissen, ist die Möglichkeit der Interaktion. Gerade wenn es um Meinungen geht, fühlen sie sich bevormundet und wenig ernst genommen - zumal Leserbriefe und Umfragen dieses Bedürfnis nur bedingt befriedigen. Daher: Die Sehnsucht einiger Menschen nach Austausch und Teilhabe hat sicherlich zum Erfolg des Web 2.0 beigetragen.

Welchen Platz nehmen die neuen Medien bei der Demokratisierung der Berichterstattung ein?

Hanne Detel: Früher waren es nur die Journalisten, die sich an die breite Öffentlichkeit wenden konnten. Als sogenannte Gatekeeper entschieden sie darüber, welche Themen es in die Zeitungen und Zeitschriften, ins Radio und ins Fernsehen schafften und welche nicht. Heute kann theoretisch jeder, der über einen Internetanschluss verfügt, publizieren und kommentieren, neue Fakten einbringen und seine Meinung äußern - und so über Relevanz und Brisanz von Themen mitentscheiden. Ob er dann auch wahrgenommen wird, ist eine andere Frage.

"Voyeurismus zweiter Ordnung"

Existiert hier ein Wechselspiel zwischen neuen und alten Medien und wie funktioniert es?

Hanne Detel: Ja, absolut. Es lässt sich beobachten, dass in den sozialen Netzwerken und Blogs sehr viel auf Artikel und Beiträge in den alten Medien verwiesen wird, diese kommentiert und zitiert werden. Auf der anderen Seite nehmen auch die klassischen Medien mehr und mehr wahr, was im Netz passiert, welche Themen diskutiert werden. Der Wissenschaftler Axel Bruns hat dies treffend als Gatewatching bezeichnet: Anstatt die Schleusen zur breiten Öffentlichkeit in der Rolle des Gatekeepers zu kontrollieren, beobachten Journalisten nun die Ausgangstore anderer Quellen, um wichtige Informationen zu identifizieren, sobald diese im Internet verfügbar sind.

Im Bezug auf große Netzskandale nehmen Journalisten klassischer Medien eine ähnliche Rolle ein. Als Chronisten, Analytiker und als Verstärker liefern sie Einordnung, Orientierung, Hintergrund. Sie durchdringen das Geschehen; sie recherchieren es aus. Sie erzeugen breit akzeptierte Aufmerksamkeit und verleihen den skandalträchtigen Themen und Empörungsangeboten so öffentliche Legitimation. In einigen Fällen führt dies allerdings zu einem Voyeurismus zweiter Ordnung: Unter dem Deckmantel der Aufklärung werden sensible private und intime Informationen erneut an die Öffentlichkeit gebracht, allein weil sie bereits im Netz kursieren.

Können Sie eine Einschätzung abgeben: Wie wird es mit der Ausplünderung der Privatsphäre bei den neuen Medien weitergehen?

Hanne Detel: Von einer Ausplünderung würde ich nur in Fällen sprechen, in denen private Daten aus niederen Motiven missbraucht werden. Dies ist in der heutigen Zeit leichter geworden, denn viele Menschen geben Privates und Intimes freiwillig preis. Sie entscheiden dabei selbst, wie sie mit den Möglichkeiten der neuen Medien umgehen, welche Informationen sie über sich ins digitale Schaufenster stellen. In diesem Zusammenhang fungieren Netzskandale - besonders die im nahen Umfeld - als Augenöffner. Sie machen deutlich, wie schnell man über die eigenen Daten im Netz stolpern kann, wie leicht man die Kontrolle verliert. Daher glauben wir, dass nach und nach eine neue Aufgeklärtheit im Umgang mit den digitalen Technologien Einzug halten wird.

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