Bundesregierung bleibt ungenau bei gezielten Tötungen

Außenminister Westerwelle bekräftigt aggressive Strategie, Außen- und Verteidigungsministerium wollen sich nicht dazu äußern

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Die Debatte um gezielte Tötungen feindlicher Kämpfer in Afghanistan setzt sich in dieser Woche in Berlin verschärft fort. Begonnen hatte die Diskussion um die Art der Kriegsführung in der vergangenen Woche. Nach der Veröffentlichung von bis zu 90.000 als Verschlusssachen klassifizierten Dokumenten des US-Militärs durch die Internetplattform WikiLeaks war bekannt geworden, dass die in der deutschen Besatzungszone stationierte US-Einheit Task Force 373 gezielt feindliche Akteure tötet. In der Bundespressekonferenz am Mittwoch vergangener Woche nahmen Regierungssprecher Ulrich Wilhelm und der Vizesprecher des Verteidigungsministeriums, Christian Dienst, zu den Vorwürfen erstmals Stellung. Am gestrigen Mittwoch legte Vizekanzler und Außenminister Guido Westerwelle nach.

Seine Wortwahl war wohl überlegt. "Wir müssen wissen", so Westerwelle, "dass gegnerische Kämpfer in einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt in dem vom humanitären Völkerrecht gesteckten Rahmen gezielt bekämpft werden können und auch dürfen." Gezielte Tötungen von Aufständischen in Afghanistan durch die internationalen Besatzungstruppen seien daher nicht auszuschließen.

Der FDP-Politiker legte sich damit deutlicher fest als in der Vorwoche die Ministeriumssprecher. Diese hatten vor allem von "tödlicher Gewalt" im Rahmen von Kampfhandlungen gesprochen. Nervosität hatte sich aber schon bei dieser Konferenz eingestellt. Auf die Frage, ob deutsche Tornados Bilder für gezielte Killerkommandos liefern, regierte der Kapitän zur See und stellvertretende Sprecher des Verteidigungsministeriums äußerst ungehalten. Die Diktion der Frage weise er "auf das Schärfste" zurück. Die Bundeswehr erstelle lediglich Listen von Gesuchten, beschränke sich aber – wenn möglich – auf deren Festnahme. "Die Liste dient dem Festsetzen von Aufständischen. Unsere Spezialkräfte arbeiten in diesem Sinne mit den afghanischen Autoritäten vor Ort zusammen", so Dienst in der Bundespressekonferenz.

Bundesregierung auf schmalem Grat

Den Verantwortlichen in der deutschen Bundesregierung ist klar, dass die Veröffentlichung der US-Geheimdokumente zu einem ungünstigen Zeitpunkt kommt. Gerade erst hat der US-General David Petraeus das Kommando über die ISAF-Truppe übernommen. Seinen erneuten Dienstantritt im afghanischen Kriegsgebiet leitete der General mit martialischer Rhetorik ein. "Gemeinsam mit unseren afghanischen Partnern schlagt eure Zähne in das Fleisch der Aufständischen und lasst nicht nach", so Petraeus. "Meine Wortwahl wäre das nicht", beschwichtigte der deutsche Außenminister Westerwelle gestern auf die Frage von Pressevertretern, um eine "politische Lösung" ins Spiel zu bringen. Zugleich aber stellte er sich bewusst hinter die Strategie einer verschärften Kriegsführung, für die Petraeus, seine Rhetorik und die Methode der gezielten Tötungen von Rebellen steht. Es ist ein schmaler Grat, auf dem die Bundesregierung derzeit wandelt.

Deutlich wird das auch im Gespräch mit den verantwortlichen Ressorts. Das Außenministerium lehnte es am heutigen Donnerstag ab, zu dem Thema gegenüber Telepolis weiter Stellung zu nehmen. Man verwies lediglich auf das Zitat Westerwelles vom Vortag. Welche Rechtsnorm konkret der Einsatz von Killerkommandos gegen Aufständische legalisiert, wollte auf Telepolis-Nachfrage auch Oberstleutnant Norbert Rahn von Pressestab des Bundesverteidigungsministeriums nicht beantworten. In der Bundespressekonferenz sei alles zu dem Thema gesagt worden.

Die Frage ist, wie lange Berlin die Informationsblockade aufrechterhalten kann. In Kenntnis der Lage verwies Außenminister Westerwelle auf eine drohende Eskalation in Afghanistan in den kommenden Monaten. Beachtlich ist in diesem Zusammenhang auch ein Zitat des neuen ISAF-Chefs. Man müsse in Anbetracht der Kriegseskalation versuchen, die Zahl toter Zivilisten auf ein "absolutes Minimum" zu beschränken, so Petraeus. Mit unschuldigen Opfern wird also schon jetzt fest gerechnet.

Opposition kündigt zahlreiche Initiativen an

Für Westerwelle und seinen Kabinettskollegen Karl-Theodor zu Guttenberg von Verteidigungsministerium dürfte die Entwicklung im Kriegsgebiet mindestens so heikel werden wie die bevorstehenden Auseinandersetzungen an der Heimatfront. Alle Oppositionsparteien kündigten angesichts der publizierten Geheimdokumente entschiedene Schritte an.

Die SPD, erklärte der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Rolf Mützenich, werde ihre Zustimmung zur Verlängerung des deutschen Truppenmandats für den Krieg in Afghanistan von der Aufklärung der Bundesregierung abhängig machen. Auch wenn diese Drohung kein allzu starkes Gewicht hat, weil der Bundestag erst wieder im ersten Quartal 2011 über den Krieg zu entscheiden hat, dürften die Wochen nach dem Ende der parlamentarischen Sommerpause Anfang September spannend werden. Die Vorsitzende der Linkspartei, Gesine Lötzsch, hält eine Überprüfung und Neuausrichtung des Mandats für die deutschen Truppen im Norden von Afghanistan für unabdingbar.

Auch der verteidigungspolitische Experte der Grünen im Bundestag, Omid Nouripour, geht davon aus, dass das deutsche Parlament über Charakter und Ausrichtung des Krieges falsch informiert wurde. Die nun veröffentlichten Dokumente jedenfalls zeichneten ein "dramatischeres Sicherheitsbild von der Lage am Hindukusch" als bisher bekannt war. Sein Parteikollege Hans Christian Ströbele verlangt indes konkrete Informationen über die Operationsgruppe Task Force 47 der Bundeswehr. Diese Einheit war im Zusammenhang mit der tödlichen Bombardierung von zwei Tankwagen im Norden Afghanistans im September vergangenen Jahres genannt worden.

Nach Telepolis-Informationen werden sich auch Nichtregierungsorganisationen der Debatte annehmen. Eine Sprecherin der Menschenrechtsorganisation Amnesty International kündigte eine Stellungnahme an. Derzeit sei man noch im Prozess der Meinungsbildung.

Telepolis hat zum Thema der gezielten Tötungen eine Umfrage geschaltet: Verteidigungsministerium und Außenminister Westerwelle sehen Todeslisten und gezielte Tötungen als völkerrechtlich legal im Isaf-Mandat an. Darf die Bundeswehr dies unterstützen oder gar aktiv mitwirken?