"Bush hat aus der Geschichte nichts gelernt"

Arthur Schlesinger, der politische Berater von John F. Kennedy, über die Oktoberkrise und die aktuelle Außenpolitik der Regierung von George W. Bush

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Der Historiker Arthur Schlesinger beriet den US-Präsidenten John F. Kennedy in politischen Fragen. 1945 hatte er bereits mit The Age of Jackson den Pullitzer-Preis gewonnen. Zwanzig Jahre später erhielt er ihn erneut für sein Portrait der Kennedy-Administration, das im Original unter dem Titel A Thousand Days erschienen ist. Schlesinger ist 85 Jahre als. Harald Neuber sprach mit ihm während der Konferenz "Die Kuba-Krise - eine politische Vision 40 Jahre danach", die vom 11.-13. Oktober in Havanna stattfand und einige neue Einblicke vermittelte (Granaten auf ein Atom-U-Boot).

John F. Kennedy mit Arthur Schlesinger

Auf dem Höhepunkt der Oktoberkrise sandte John F. Kennedy am 27. Oktober 1962 über die brasilianische Botschaft in Havanna einen Brief an Fidel Castro. Damit sollte der Dialog wieder aufgenommen werden. Wieso schrieb die Regierung den Revolutionsführer damals nicht direkt an?

Arthur Schlesinger: Die Idee, das Schreiben über die Brasilianer zu schicken, war ein Novum für die damalige Diplomatie. Die Überlegung war, wie wir die gefährliche Funkstille durchbrechen konnten, ohne in den Augen der "Hawks" (Hardliner im Weißen Haus, d. Red.) das Gesicht zu verlieren, wenn wir einen Schritt auf Castro zugehen. Erst auf der Konferenz zum 40. Jahrestag der Oktoberkrise in Havanna hat der ehemalige Außenminister Robert McNamara unlängst von diesem Brief berichtet. Ich wusste davon bislang noch nicht einmal etwas, weil ich damals kein Mitglied des Beraterstabes "ExComm" war. Heute sind aber die Abschriften der Tonbandaufnahmen einzusehen, mit denen die Bedeutung dieses Schreibens klar belegt wird. Auch wenn der Brief Castro erst am 28. Oktober erreichte, also nach dem Einlenken der Sowjets, ist es ein beeindruckender Beweis dafür, dass Kennedy gegen alle Widerstände versuchte, eine militärische Eskalation zu vermeiden.

Auf der anderen Seite griff ein US-Kriegsschiff in den angespannten Stunden der Krise am 27. Oktober 1962 ein sowjetisches U-Boot an, das mit nuklearen Sprengköpfen beladene Torpedos an Bord hatte. Wusste das Weiße Haus von diesen Vorgängen?

Arthur Schlesinger: Wie gesagt, ich war kein Mitglied des ExComm. Allerdings ist diese Geschichte schon bekannt gewesen, sie wurde in Havanna jedoch durch die Aussagen der beiden Kommandanten, dem sowjetischen und dem amerikanischen, anschaulich geschildert. Nach den Aussagen von McNamara war dem diplomatischen Stab Kennedys das nicht bekannt. Das belegt die Verschiebung der Entwicklung auf die militärische Ebene.

Welche Bedeutung hat es, eine historische Konferenz mit Zeitzeugen aller Seiten zu organisieren? Und wieso fand diese Konferenz Mitte Oktober auf Kuba und nicht in den USA statt?

Arthur Schlesinger: Auch in den USA haben sich eine Reihe Konferenzen mit dem Thema befasst, die Kubaner haben aber schon vor zehn Jahren eine ähnliche Konferenz mit Beteiligten aller Seiten organisiert. Die kubanische Seite legt bei dieser Arbeit viel Gewicht auf die Beziehungen zwischen Kuba und der Sowjetunion. Das ist verständlich, denn Kuba fühlte sich damals - und fühlt sich offenbar noch immer - von den Sowjets übergangen. Damals fanden auf Kuba regelrecht Demonstrationen gegen die Sowjets statt, man fühlte sich als Bauernopfer im internationalen Schachspiel. Es passt durchaus zur aktuellen kubanischen Politik, sich einmal mehr von den Bindungen zur Sowjetunion loszusagen, um sich in eine andere politische Tradition zu stellen.

Der zweite Aspekt sind die Lehren aus einer solchen Krise. McNamara rief die Bedeutung der Diplomatie ins Gedächtnis. Auf der militärischen Ebene, sagte er, gebe es bedeutend mehr Varianten als in der Diplomatie bei ungleich größeren Gefahren. So konnte der US-Kommandant damals nicht wissen, dass das U-Boot nuklear bestückte Torpedos geladen hatte. Der sowjetische Kommandant hatte keine Ahnung, dass es sich bei den Projektilen, die sein U-Boot erschütterten, um Handgranaten handelte, die ihn zum Auftauchen bewegen sollten. Stellen Sie sich vor, einer der beiden hätte einen Schritt mehr getan. Sie hätten sich dann vor wenigen Tagen sicher nicht mehr unterhalten können, und wir beide auch nicht.

Dabei hat US-Präsident George W. Bush in einer Rede vor wenigen Tagen die damalige Vorgehensweise der Kennedy-Administration gerade als Beleg für ein präventives militärisches Vorgehen erwähnt. Wie kommentieren Sie das?

Arthur Schlesinger: Es zeugt von einer massiven, wenn nicht vorsätzlichen Fehlinterpretation der vorhandenen Informationen über die Oktoberkrise. Bush hat aus der Geschichte nichts gelernt. Als wir uns damals für die Seeblockade - ein noch recht moderates Mittel - entschieden, haben wir doch ganz bewusst den Terminus "Blockade" vermieden. Wir nannten es "Quarantäne", weil "Blockade" aus dem militärischen Vokabular stammt. Ziel von Anfang bis zum Ende war es, die Sowjets zum Rückzug der Raketen zu bewegen. Das sollte durch politische und diplomatische Mittel erreicht werden - durch friedliche Mittel.

Zum 40. Jahrestag der Krise ist in Ihrem Land eine Diskussion um die Lehren aus diesen Tagen entbrannt, nicht zuletzt auch im Hinblick auf einen möglicherweise bevorstehenden US-irakischen Krieg. Welche Perspektive geben Sie dieser Debatte?

Arthur Schlesinger: Nun, wie ich gesagt habe. Die Kennedy-Regierung hat in der Krise auf jeden Fall versucht, militärische Schritte zu vermeiden und die Situation zu entschärfen. Bushs Politik weist in die entgegengesetzte Richtung. Wenn die amtierende Administration nun versucht, die damaligen Geschehnisse als Rechtfertigung für ihre derzeitige Außenpolitik zu nehmen, beweist sie damit nur, dass ihre historische Kenntnis nicht besser als die Qualität ihrer Politik ist.