COVID in den Städten
Warum gibt es in New York City 21.000 Corona-Tote und in San Francisco nur 40?
In einer Zombieapokalypse infiziert ein Zombie pro Stunde zwei Menschen, die selbst zu Zombies werden. Wie viele Zombies gibt es nach 48 Stunden? Dies ist ein typisches Beispiel für eine Exponentialfunktion, die zum Mathematikstoff der 10. Klassen gehört. Zu den "Kompetenzerwartungen", die früher Lernziele hießen, gehört, dass Schüler Phänomene wie Zinseszins, Bevölkerungsentwicklung, radioaktiven Zerfall verstehen und von linearem Wachstum unterscheiden können. "Sie verstehen die Bedeutung der Exponentialfunktion zur Beschreibung von Wachstumsprozessen in Natur, Technik und Wirtschaft", so das Staatsinstitut für Schulqualität in München.
Im Frühjahr 2020 als unverkennbar war, dass viele Entscheidungsträger den Beginn der Pandemie verschlafen hatten, auch weil ihre Mathematikkompetenz nicht einmal auf Niveau der Mittelstufe lag, meinten manche, dass es unfair sei, so etwas zu behaupten. Hinterher sei man immer schlauer hieß es nun von denen, die nicht einmal hinterher schlauer waren, obwohl sie dies vorher hätten sein müssen. Zur Entschuldigung wurde vorgebracht, die Pandemie habe sich zu langsam abgezeichnet und dann zu schnell verbreitet - die typische Dynamik exponentieller Prozesse. Dabei gab es eine lange Serie von Warnzeichen, auf welche kritische Beobachter frühzeitig hingewiesen und etliche Entscheidungsträger frühzeitig reagiert hatten.
Selbst aus Zombiefilmen oder der "Zombieforschung", wenn schon nicht aus den eigenen Pandemieplänen, hätte man erfahren können, dass in einer Epidemie vor allem eines zählt: Reaktionsschnelligkeit. "Ein Ausbruch von Zombies ist wahrscheinlich katastrophal, es sei denn, es werden äußerst aggressive Taktiken gegen die Untoten angewendet", so eine Gruppe von Mathematikern, die einen fiktiven Zombieausbruch als heuristisches Instrument in Analogie zu einer Pandemie modelliert hat. Selbst aggressive Quarantänemaßnahmen böten nur eine geringe Chance, eine Zombieinfektion (oder jede andere Epidemie) auszulöschen. "Es ist von oberster Bedeutung", so die Mathematiker, "dass man sich schnell um Zombies kümmert, sonst sind wir alle in großen Schwierigkeiten."
In der Rückkopplungsschleife einer Pandemie wird die Risiko-Perzeption der Akteure zum Faktor, der die Dynamik verstärkt oder bremst. Als Gesundheitsminister Jens Spahn am 28.01.2020, am Tag, nachdem der erste Corona-Fall in Deutschland bestätigt worden war, zu Gelassenheit mahnt, gibt es auch andere Stimmen. "Das ganze Medizinsystem in Deutschland", sagt der Virologe Prof. Christian Drosten am selben Tag, "muss sich schon jetzt auf eine mögliche Pandemie vorbereiten. Wir müssen unsere Denkweise verändern von 'wir halten das Virus aus dem Land' zu 'es könnte eine Pandemie auf uns zukommen'." Andernorts redete man nicht nur, sondern setzte solch präventives Denken bereits in die Tat um.
"Wir müssen die Vorsorge verstärken"
Noch bevor nur ein einziger Fall einer Infektion mit dem neuen Coronavirus in der Stadt bestätigt wird, eröffnet die Bürgermeisterin von San Francisco, London Breed, am 27.01.2020 ein Notfallzentrum. "Es ist wichtig zu erkennen, dass es derzeit in San Francisco keine bestätigten Fälle gibt", erklärt ein Sprecher des Gesundheitsamtes von San Francisco während einer Pressekonferenz. "Wir bereiten uns aktiv auf die Möglichkeit bestätigter Fälle vor." Zwar sei das Ansteckungsrisiko für die Bewohner gering, man habe aber vorsorglich den Notfallplan der Stadt aktiviert.
Die Geschäftsleute im Chinatown von San Francisco beobachten bereits seit Ende Januar, dass die Kundenfrequenz nachlässt. Die Feierlichkeiten anlässlich des chinesischen Neujahrs gehen noch wie geplant über die Bühne. Die Neujahrsparade, ein Publikumsmagnet zu dieser Jahreszeit, ist gut, aber nicht ganz so gut besucht wie in den Vorjahren. Mitte Februar melden viele chinesische Restaurants Umsatzeinbußen von 50 Prozent und mehr. In der Stadt, in welcher etwa ein Fünftel der Bevölkerung chinesischer Abstammung ist, wird die Verschärfung der Corona-Krise höchst empfindlich registriert.
"Plötzlich behandeln die Menschen San Francisco wie einen Vorort von Wuhan, China", schreibt das Wirtschaftsmagazin "Barron's", nachdem führende Konzerne wie Facebook und Sony ihre Teilnahme an wichtigen Industriemessen in der Stadt absagen. Das Infektionsrisiko in San Francisco sei gering, beschwichtigt Bürgermeisterin Breed noch am 20.02.2020 vor Beginn der RSA Cybersecurity Konferenz, die zur Überraschung vieler nicht abgesagt wird. Im März wird sich herausstellen, dass mindestens zwei Teilnehmer der Konferenz, von denen einer schwer erkrankt, positiv auf das Coronavirus getestet wurden.
Doch bereits kurz darauf, am 25.02.2020 ruft die Bürgermeisterin den Notstand aus. Vorausgegangen war eine Warnung der Centers for Disease Control (CDC), die nun einen Ausbruch in den USA erwarteten. "Zwar gibt es unter den Einwohnern von San Francisco noch keine bestätigten Fälle", sagt Bürgermeisterin Breed, "aber die globale Lage ändert sich rasch, und wir müssen die Vorsorge verstärken." Da ein hohes Reiseaufkommen zwischen San Francisco und China bestehe, sei das Auftreten von COVID-19-Fällen zunehmend wahrscheinlich. Die Bevölkerung wird zu Wachsamkeit und guter Hygiene aufgerufen. Schulen sollen Vorkehrungen für etwaige Schließungen treffen. Private Unternehmen sollen ihre Regelungen für Heimarbeit und Krankheitsurlaub überprüfen.
Nachdem am 05.03.2020 die ersten beiden COVID-19-Fälle bestätigt werden, reagiert die Stadt prompt. Zur Eindämmung des Coronavirus empfiehlt sie einen ganzen Katalog von "social distancing"-Maßnahmen für die gesamte Bevölkerung: für Menschen über 60 und Personen mit Vorerkrankungen, für Unternehmen und deren Angestellte, für geplante Veranstaltungen, für Schulen, für Betreiber öffentlicher Verkehrsmittel, für Pflegeheime. Diese Empfehlungen, so das Büro der Bürgermeisterin, "sollen das normale Sozialverhalten unterbrechen, da das Virus unter normalen Umständen gedeiht."
Am 16.03.2020 schließlich folgt der Lockdown: Etwa sieben Millionen Menschen in San Francisco und den umliegenden Bezirken werden angewiesen, so weit wie möglich zu Hause zu bleiben und den Kontakt zu anderen zu vermeiden. Das Haus darf nur noch verlassen werden, wenn dies unbedingt notwendig ist, so zum Kauf von Lebensmitteln oder für Arztbesuche. Spaziergänge sind unter Beachtung von Abstandsregeln erlaubt. Reisen sind, mit wenigen Ausnahmen, verboten. Ein Verstoß gegen die Regeln, zu diesem Zeitpunkt die strengsten Maßnahmen dieser Art in den kontinentalen Vereinigten Staaten, ist strafbewehrt. Die Anordnung soll zunächst drei Wochen lang gelten, wird aber, mit einzelnen Änderungen, über zwei Monate in Kraft sein.
"Wir haben einen außerordentlichen Gesundheitsapparat"
Ebenfalls frühzeitig, bereits am 24.01.2020, äußert sich der Bürgermeister von New York City zu dem neuen Coronavirus. In einer Pressekonferenz erklärt Bill de Blasio, man nehme das Virus sehr ernst. Man müsse sich vorbereiten und sei sehr wachsam. Noch gebe es in New York keine Fälle, doch aufgrund der sehr schnellen internationalen Verbreitung des Virus müsse man davon ausgehen, dass es Fälle geben werde, "eher früher als später".
Bislang sei bekannt, so de Blasio, dass man sich nur durch einen ausgedehnten und nicht durch einen flüchtigen Kontakt das Virus zuziehen könne. Die Gesundheitsdienste seien darauf geschult, Symptome zu erkennen und Patienten zu evaluieren. Die Bewohner New Yorks könnten mit ihrem täglichen Leben fortfahren.
In einer Talkshow am 28.01.2020 erklärt Bill de Blasio, dass er vermute, dass das Virus New York bereits erreicht habe. "Wenn wir Pech haben, ist es eher wie SARS und bis jetzt sieht es wirklich eher wie SARS aus", so der Bürgermeister. Die traurige Realität sei, dass es Menschen aus Wuhan bereits eingeschleppt hätten. De Blasio weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass vor allem aus Europa stammende Infektionen seine Stadt zum Epizentrum machen werden. Am 02.02.2020, anlässlich des ersten Verdachtsfalles in der Stadt, versichert er: "Sie bekommen es nicht von einer Oberfläche. Sie bekommen es nicht, indem Sie jemanden streifen oder durch einen sehr vorübergehenden Kontakt, basierend auf dem, was wir jetzt wissen."
"Die Chinatowns von New York City sind open for business", sagt Bürgermeister de Blasio kühn während eines Medienevents am 13.02.2020 im Stadtteil Queens. Ähnlich wie in San Francisco ist auch in New York City während des chinesischen Neujahrs das Geschäft asiatischer Kleinunternehmer eingebrochen. Und die Direktorin des New Yorker Gesundheitsamtes erklärt, anscheinend ermutigt, dass sie noch keinen Coronafall in ihrer Stadt gefunden hat: "Derzeit ist das Risiko durch das neue Coronavirus in New York City gering, während unsere Bereitschaft als Stadt weiterhin hoch ist." Die New Yorker, so die Botschaft der Veranstaltung, sollen doch aus dem Haus gehen und einem asiatisch-amerikanischen Geschäft zum Valentinstag einen Besuch abstatten. Um auf Nummer sicher zu gehen, dass man seine Beschwichtigungen nicht missversteht, erklärt der Bürgermeister am 14.02.2020 auf dem Nachrichtensender MSNBC: "Wir wissen nicht genau, wie die Leute das bekommen. Wir kennen die volle Wirkung nicht", betont de Blasio. "Aber ich sage Ihnen eines, wir haben hier in New York einen außergewöhnlichen öffentlichen Gesundheitsapparat. … Und mir wurde klar, dass es wirklich darum geht, den Menschen in unserer Stadt zu sagen, dass wir damit umgehen können, aber man muss einige Grundregeln befolgen."
Am 25.02.2020 warnen die CDC, dass sie einen Ausbruch in den USA erwarten. Bill de Blasio verteidigt daraufhin in einer denkwürdigen Pressekonferenz am 26.02.2020 seine bisherige Linie: New York nehme das Virus sehr ernst. Bereits im Januar habe man die Gefahr erkannt. Doch bislang habe man noch keinen einzigen Corona-Fall in New York City bestätigt. In vielen Ländern gehe man nicht aggressiv genug vor. Doch New York sei aufmerksam und habe sich der Realität gestellt. "Dies ist mit ein Grund dafür", so de Blasio, "warum wir die Situation in dieser Stadt haben, die wir heute haben, die eindeutig besser ist als an vielen anderen Orten."
Noch am 02.03.2020, nachdem der erste Fall in New York bestätigt wurde, ermuntert de Blasio die Einwohner New Yorks per Twitter mit ihrem Alltag wie gewohnt fortzufahren, aus dem Haus und ins Kino zu gehen. Am 04.03.2020 berichtet er, die Kapazität in der Stadt liege bei einigen Dutzend Tests pro Tag, von denen man nicht annähernd alle brauche. Und die Chefin des Gesundheitsamtes erklärt: "Es gibt keinen Hinweis darauf, dass es ein Risikofaktor ist, in einem Auto zu sitzen, in der U-Bahn zu sein mit jemandem, der möglicherweise krank ist." Zu diesem Zeitpunkt ist seit über fünf Wochen erwiesen und allgemein bekannt, dass das Virus von Menschen ohne Symptome übertragen werden kann.
Es dauert noch Tage, bis der Groschen fällt. Den Notstand ruft Bürgermeister de Blasio am 12.03.2020 aus, als bereits 95 Fälle in New York City bestätigt sind. In einer Radio-Talkshow erklärt er nun, dass man geschockt sei und sich die Situation fast stündlich ändere. Der Lockdown erfolgt eine Woche später, nachdem erst noch geklärt werden muss, wer für eine solche Anordnung zuständig ist, die Stadt oder der Bundesstaat, am 20.03.2020 per Anordnung des Gouverneurs Andrew Cuomo mit dem Titel "New York State on PAUSE. Die Bevölkerung wird aufgefordert, zu Hause zu bleiben und nur aus dringendem Anlass das Haus zu verlassen. Zur Arbeit gehen dürfen nur noch Mitarbeiter "unverzichtbarer Dienste". Seit der ersten Pressekonferenz als es hieß, dass man wachsam sein müsse, sind knapp zwei Monate verstrichen.
Die vorher schlauer waren, sind es auch hinterher
Diejenigen Menschen, die bereits ab Ende Januar die Öffentlichkeit mieden und zu anderen auf Distanz gingen, ob in New York oder anderswo, haben recht behalten. Wahrscheinlich bereits Anfang Februar, dies zeigten Analysen, nachdem die Pandemie New York City voll erfasst und San Francisco weitgehend verschont hatte, hat sich das Virus in vielen amerikanischen Städten verbreitet. Anfang März, als in New York City nur ein Fall und in San Francisco fünf Fälle bestätigt waren, gab es in den beiden Städten womöglich bereits 20.000 Infektionen. Die Epidemie verbreitete sich rapide, doch unbemerkt.
Ende Mai 2020 hatte New York City über 21.000 Tote, davon weit über 16.000 bestätigte und fast 5.000 wahrscheinliche Fälle, zu beklagen. In San Francisco lag die Zahl bei 40 Toten. Bereinigt um den Bevölkerungsunterschied der beiden Städte hat New York mindestens die 40-fache Zahl an Toten. Die jeweiligen Eigenheiten der beiden Städten allein erklären eine solche Differenz wohl kaum. Zwar ist die Bevölkerungsdichte in New York höher. Auch ist der Anteil an Nutzern öffentlicher Verkehrsmittel in New York höher. Doch beide Städte haben auch Gemeinsamkeiten, wie einen signifikaten Bevölkerungsanteil mit Wurzeln in China. Warum also dieser haushohe Unterschied?
Der Grund dafür liegt wahrscheinlich in den systematischen Unterschieden der Herangehensweise zu Beginn des Ausbruchs. Die Behörden in San Francisco waren denen in New York mit jedem Schritt voraus. San Francisco erklärt den Notstand am 25.02.2020, New York City am 12.03.2020. San Francisco rät am 05.03.2020 zu "social distancing", New York erst eine Woche später. In San Francisco setzt man auf Prävention, in New York City reagiert man auf verzögert eintreffende Daten. Spätestens ab Ende Februar scheint San Francisco das Risiko sehr ernst genommen zu haben. Der New Yorker Bürgermeister dagegen stattete noch am 16.03.2020 seinem Fitness-Studio einen Besuch ab.
In einer sehr umfangreichen Analyse von "Propublica", einer Online-Plattform für Investigativjournalismus, heißt es, die Bürgermeisterin von San Francisco habe sehr schnell den begrenzten Nutzen erkannt, behördliche Maßnahmen auf die Zahl bestätigter Fälle zu stützen. Aufgrund des späten Einsetzens der Tests und ihrer geringen Verfügbarkeit konnten sie niemals ein genaues Bild der Existenz und Verbreitung der Krankheit liefern. In San Francisco setzte man trotz - oder gerade wegen - der unsicheren Datengrundlage relativ früh darauf, gewohntes Sozialverhalten zu unterbrechen. In New York City lautete die Parole, man solle weiter machen wie gewohnt, New Yorker seien "tough".
Monate später stellte sich heraus, dass bereits am 06.02.2020 in der Gegend um San Francisco ein Todesfall aufgetreten war, der mit der Virusinfektion in Zusammenhang stand. Da die Verstorbene sich nicht im Ausland aufgehalten hatte, weist alles auf eine lokale Übertragung hin. Dies wiederum bedeutet, dass das Virus vermutlich bereits im Januar in der Bay Area von San Francisco kursierte. Von den amerikanischen Behörden wurden jedoch erst am 26.02.2020 lokale Corona-Infektionen offiziell bestätigt. Der erste offizielle Corona-Tote wurde in den USA am 29.02.2020 gemeldet.
Zu lange wurden in New York, wie vielen anderen Orten, die Zahlen der bestätigten Infektionsfälle, die auf sporadischen und zu wenigen Tests basierten, mit dem tatsächlichen Stand der Epidemie verwechselt. Das Virus breitete sich unterdessen rapide aus, beschleunigt durch asymptomatische Überträger, die keine oder nur milde Symptome aufwiesen. Doch viele Behörden brüsteten sich geradezu ihrer Ignoranz: Sie erklärten, die geringen Zahlen offiziell bestätigter Fälle seien ein Beweis für eine erfolgreiche Eindämmung des Virus. Dabei bewiesen sie genau das Gegenteil.
Teil 1 dieser Geschichte der Anfänge der Corona-Pandemie: Auf der Suche nach der verlorenen Inkubationszeit; Teil 2: Tagebuch eines Gesundheitsministers.
Dr. habil. Thomas Schuster, ehem. Berater bei Roland Berger und ehem. Autor der Frankfurter Allgemeine ist Hochschullehrer für Kommunikations- und Medienwissenschaft. Seine Bücher "Staat und Medien. Über die elektronische Konditionierung der Wirklichkeit" und "Die Geldfalle. Wie Medien und Banken die Anleger zu Verlierern machen" sind bei S. Fischer und im Rowohlt Verlag erschienen.