Champs Elysees, Love Parade, Diana
Die Welt im Zeichen der Masse
Vor fast einem Jahr vereinte sich die britische Nation in der Trauer um Diana, der Prinzessin von Wales. Millionen Menschen gingen auf die Straßen Londons - mehr als bei den Siegesfeiern im Jahre 1945. Dieses Wochenende tanzte nahezu eine Million Menschen auf den Berliner Straßen und feierten Millionen auf den Straßen von Paris - wiederum mehr als bei der Befreiung im Jahre 1944. In dem zwischen diesen Ereignissen liegenden Jahr haben postmoderne Kultur- und Medientheoretiker weiter behauptet, daß dies unmöglich sei. Sie erzählten uns, daß die Welt ein fragmentiertes Chaos sei, daß es keine Massengesellschaft gebe, keine Einheit oder kein Zentrum, keine gemeinsame Identität. Und sie werden noch immer dasselbe sagen, wenn Hunderte von Millionen am 1. Januar 2000 gemeinsam die Jahrtausendwende feiern.
Die Medien- oder Kulturtheoretiker leben hingegen in einer Welt schwuler Medien, transsexueller Phänomene und obskurer Aspekte des Cyberspace. Sie beobachten und erklären, daß die Welt fragmentiert sei. Doch diese Welt gibt es nur in ihren Konferenzen und in Zentren für neue Medien. Obwohl in Amsterdam 80 Prozent der Bevölkerung der Niederlage der Nationalmannschaft zugesehen haben, war das wichtige Ereignis für das Medienzentrum De Waag eine Arbeit der Cyberkünstlerin Shu Lea Chang, die die Ermordung der transsexuellen Brandon Teena/Teena Brandon behandelt - eines der ersten Cyberkunstwerke, das von einem großen Museum erworben wird. Aber daran dachten die Amsterdamer natürlich nicht.
Die neue Kulturtheorie behauptete nie, daß sie sich auf die wirkliche Welt bezieht. Für sie existierte die wirkliche Welt nicht. Doch es gibt die Welt außerhalb der Kunstzentren. In Westeuropa ist das nicht die Welt des Cyberfeminismus oder der "Schwulentheorie", sondern die Welt der Gesellschaftstheorie aus den 30er, 40er und 50er Jahren. "Massengesellschaft", "Massenmedien" und "Organisationsmensch" - nicht Postmoderne, Chaos oder Fragmentierung.
Es ist auch die Welt der Nationen: die Einheit der Massenemotion ist die Nation. Wenn man eine Ikone des Jahres 1998 nennen will, dann ist das keine transsexuelle Website, sondern das Bild, das während Berichterstattung von der Weltmeisterschaft im Fernsehen immer wieder gezeigt wurde: Menschen, die sich ihre Nationalflagge auf ihre Gesichter gemalt haben. Die Straßen von Amsterdam waren sogar bei den Spielen im Viertelfinale leer. Die Niederlage der Holländer bewahrte mich davor, eine bedrückende Zurschaustellung der nationalen Vereinigung in der Hysterie sehen zu müssen. Stattdessen waren die Straßen von Paris mit der Trikolore, der französischen Nationalflagge, überschwemmt. Und ist die Love Parade national? Für jeden außerhalb von Deutschland sieht sie "typisch deutsch" aus. Jetzt plant Paris eine französische Version. In drei Jahren werden vielleicht Zagreb, Dublin oder sogar Minsk eine nationale Love Parade haben.
Das Problem ist nicht, daß solche Ereignisse die "Hochkultur" verdrängen, wie Konservative befürchten. Das Problem liegt in der Einheit. Eine Love Parade und eine kleine andere Veranstaltung. Ein großes Fest in Paris: keine Opposition, keine anti-nationalistische Demonstration. Wenn alle in Berlin zusammen die Oper besucht hätten, würde das eine Hochkultur für die Massen sein, aber es wäre ein ebensolches Monopol.
Anläßlich des Begräbnisses von Diana schrieb ich letztes Jahr, daß das Problem nicht darin liegt, daß die Welt total homogen ist, sondern daß das Spektrum der Möglichkeiten auf die Massenwünsche beschränkt wird. Die Gefahr ist eine Welt, in der niemand etwas macht, wenn nicht eine Million andere es auch machen. Massen mit Bierflaschen und orangefarbenen Hüten in Amsterdam, Massen mit Bierflaschen und rot-weißen Hüten in Zagreb und Massen mit Bierflaschen und blau-grünen Hüten in Sao Paulo machen eine einfache Wahrheit über Nationen deutlich: eine Vielfalt von 180 Kulturen ist keine große Vielfalt. (Und Amsterdam zeigte in diesem Monat, was eine "Innovation" des freien Marktes in diesem Kontext bedeutet: orangefarbene Telefonkarten.)
Wenn sich die Massengesellschaft, Massenereignisse und Massenemotionen verbreiten, ist das Problem nicht der Verlust der aristokratischen Kultur, sondern daß außerhalb von diesen Einheiten nichts mehr gibt. Das bedeutet: keine Innovation mehr. Niemals lockte eine Innovation am ersten Tag eine Million Fans an. Eine Welt der Massenkulturen belohnt Konformität und daher auch Konservatismus. Suche dir deine Flagge, dein Bier, dein Fest aus: das wirkliche Freiheit.
Eines ist gewiß: von den Kulturtheoretikern wird nichts Gutes kommen. Es ist sinnlos zu behaupten, daß die Fußballweltmeisterschaft nicht existiert oder daß Diana die "Gender-Grenzen in Frage stellte". Es ist sinnlos, die nicht existierende Postmoderne in Kunstgalerien oder Zentren für neue Medien zu diskutieren, es sei denn, man ist im Allgemeinen mit der Welt, wie sie ist, zufrieden.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer