Charlie-Hebdo-Anwalt: "Auf allen Feldern der Meinungsfreiheit gibt es eine Regression"
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Die Geisteshaltung der Terroristen habe vorläufig gewonnen - Vom Krieg der Köpfe
Es ist erfrischend zu sehen, mit welcher Zuversicht Richard Malka vom letztlichen Sieg der Meinungsfreiheit überzeugt ist. Er beteuert dies zeitweise grinsend im Interview mit France Inter. Das Frappierende daran ist, dass Malka die Behauptung, früher oder später werde sich die Meinungsfreiheit durchsetzen, in einer Augenblicksdiagnose platziert, die genau das Gegenteil beschreibt.
Für die Gegenwart stellt Malka eine "massive Regression" der Meinungsfreiheit fest. Er diagnostiziert einen von Angst regierten Geisteszustand, der sich an den Universitäten bemerkbar mache, wo man Debatten ausklammere, der zu Bücherverbrennungen führe und im Fall der Schülerin Mila (siehe Frankreich: Die Affäre Mila und die Blasphemie) zu unglaublichen 30.000 Todesdrohungen. Richard Malka ist Anwalt der Schülerin und er ist Anwalt von Charlie Hebdo.
Der Mann mit der heiteren Miene - zumindest im Gespräch mit France Inter - verleiht seiner Diagnose scharfe Kanten. Die Geisteshaltung der Terroristen ("l'état d'esprit"), die bei ihrem Attentat auf Charlie Hebdo ein Blutbad anrichteten, habe vorläufig gewonnen, sagt er und meint damit den Sieg einer inneren Zensur, die der Angst zuarbeitet.
"Seit dem Attentat hat sich die Zensur verändert"
Das Massaker der Brüder Kouachi habe sich gegen die Meinungsfreiheit des Magazins gerichtet, das Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hat. Seit dem Attentat habe sich die Zensur verändert. Sie komme nicht mehr vom Staat oder von der Justiz, sondern "von uns selbst". Und viele Anstöße dazu kämen aus einem politischen Milieu, das sich früher für die Meinungsfreiheit stark gemacht hat.
Es ist bizarr, aber der Appetit auf die Zensur, ist von rechts nach links migriert - unter dem Prinzip, dass "man niemand beleidigen darf". Wenn gilt, dass man niemanden beleidigen darf, muss man in Höhlen leben.
Richard Malka
Es soll der Klarheit halber erwähnt werden, dass Malka die wesentliche Unterscheidung zwischen Angriffen auf Personen und Ideologien voraussetzt. Es geht nicht um Muslime, sondern um Ideen, "Inhalte" und Einstellungen, die gegen die Freiheit des Ausdrucks gerichtet sind. Sein Standpunkt zum Streit über das Recht auf Blasphemie ist eindeutig. Dieses Recht nicht zu akzeptieren, bedeute, sich nicht "in ein Frankreich zu integrieren, das auf Freiheit setzt".
Die Einschränkung oder Auflage, die zuletzt Macron der Freiheit auf Blasphemie als Mahnung beigestellt hat, wonach der Respekt des anderen zu wahren sei, bewertet Malka in der Sicht auf die Entwicklung der letzten Jahre: Sie ist seiner Auffassung nach zu einem "Alibi für die Abschaffung des kritischen Geistes" geworden. Anklagen gegen Gott, wie man sie in der Literatur bei Dostojewski oder Voltaire finden könne, würden zu den Gipfeln der modernen Freiheit gehören. "Das kann man uns nicht wegnehmen."
Wie berichtet, führt der Auftakt des Prozesses gegen Hintermänner (und einer abwesenden Frau) der Terroranschläge auf Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt Hypercacher im Januar 2015 zu einer Debatte darüber, wie es um die Meinungsfreiheit steht. Mit Erstaunen wurde ein Wandel der Einstellung unter jüngeren Französinnen und Franzosen festgestellt (Charlie Hebdo: "Wenn man die Meinungsfreiheit verteidigen will, muss man aufhören, jung zu sein").
Weniger Gewalt, mehr ideologische Kämpfe
Das ist nicht die einzige Diskussion, die der Prozess neu in Gang setzt. Diskutiert wird auch die Einschätzung der gegenwärtigen Gefahr neuer Anschläge. Dies wird verbunden mit einer Debatte darüber, wie es um die Radikalisierung von Muslimen in Frankreich steht. Als vorläufiges Fazit kann man über die Lager hinweg eine Einigkeit darüber feststellen, dass Gewalt und Hass nicht mehr den Umfang haben wie noch vor fünf Jahren. So lautet auch die Lageeinschätzung, wie sie der über Frankreich hinaus bekannte Spezialist für "politischen Islam", Gilles Keppel, äußert.
Damit steht er im Expertenkreis nicht allein. Auch die Reaktionen auf die neuerliche Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen, einer neuen Karikatur und den bekannten früheren, durch Charlie Hebdo zum Prozessauftakt, fielen weniger gewalttätig aus als in früheren Jahren.
Zwar gab es die erwarteten scharfen Verurteilungen der Kairoer Al-Azhar-Moschee, einer relevanten muslimischen Autorität, wie auch aus dem Außenministerium in Pakistan, von Muslim-Gruppen in Malaysien und vom Sprecher des türkischen Außenministeriums, aber es gab, anders als früher keine gewalttätigen Ausschreitungen und Tumulte, die Schlagzeilen machten.
(Nachtrag: Die Proteste gegen die Veröffentlichung der Karikaturen gewannen erst nach dem Freitagsgebet an Wucht. Auch in der Islamischen Republik Iran gab es eine große Erregungswelle gegen die von Carlie Hebdo praktizierte Meinungs- und Pressefreiheit, die den Klerikern und ihren Anhängern gegen den Strich geht.).
Außer Debatte steht, dass Mitglieder und Sympathisanten des IS anders 2015 mit dem Ende des Kalifats auch Kapazitäten eingebüßt haben, die zur Vorbereitung der großen Anschläge in Frankreich in diesem Jahr genutzt wurden. Was al-Qaida betrifft, so gebe es da zwar einen anderen Ansatz, der längerfristiger arbeite und plane, wie der Experte Wassim Nasr betont, aber dem kann entgegengehalten werden, was Gilles Keppel konstatiert: Die Anti-Terror-Einrichtungen in Frankreich haben in den letzten Jahren dazu gelernt, Anschläge werden schwieriger.
Das räumt übrigens auch Wassim Nasr ein, der sich aber vorstellen kann, dass kleinere Terrorakte, etwa Messerattacken, wie sie vom IS reklamiert werden, wieder zunehmen würden, sobald die Reisebeschränkungen durch die Corona-Epidemie wieder gelockert würden und Touristen "weiche Ziele" abgeben. Derzeit seien beide Terrororganisationen hauptsächlich damit beschäftigt, ihre Präsenz im Nahen Osten, in Afrika und Asien auszubauen.
Keppel argumentiert mit einer neuen Gefahr, die weniger von spektakulären Gewalttaten bestimmt ist, sondern vom "Krieg der Köpfe". Seiner Einschätzung nach geht es nun mehr um ideologische Kämpfe. Bei diesen dominiere nicht mehr die Gewalt, kennzeichnend sei vielmehr eine "Dissidenz zur Identität der Gesellschaft".
Subversive Ideologie
Hier wird sofort erkennbar, dass Keppel damit in eine Diskussion einsteigt, die von Grabenkämpfen und Empfindlichkeiten geprägt ist. Keppel nimmt die oben erwähnte Einstellungsänderung von jüngeren Franzosen als ein Indiz für seine These einer subversiven Ideologie, die die französischen Territorien unterwandert. Dass nun weniger Jugendliche als vor Jahren die Attentäter eindeutig verurteilen, führt er auf eine Kluft zurück, die sich zwischen ihnen und einem gesellschaftlichen Zusammenhalt aufgetan hat.
Das ist ziemlich allgemein gehalten und entsprucht der Rede von den Spaltungen, die überall zu hören ist. Er führt dafür mehrere großräumige Gründe an, etwa die Mischung von virtueller und realer Welt - aber eben auch Grauzonen, wo er den Einflussbereich islamistischer Netzwerke betont. Er spricht von Organisationen und Verbindungen, die einen kulturellen Bruch befördern.
Sein Verweis auf Bücher, die unter der Ägide des Soziologen Bernard Rougier veröffentlicht wurden, wo es um Salafismus in Frankreich und zuletzt um die "Eroberung französischer Territorien durch den Islamismus" geht, konkretisiert seine Einschätzung etwas.
Um es kurz zu fassen: Bernard Rougier und seine wissenschaftlichen Mitarbeiter ziehen aus Recherchen in Toulouse, Argenteuil (Val-d’Oise) und Champigny (Val-de-Marne) das Fazit, dass es ein "islamistisches Ökosystem" gebe, das über Netzwerke, Vereine, darunter auch Sportvereine, und andere lokale Assoziationen beträchtlichen Einfluss auf muslimische Bewohner ausübt.