Chemiewaffe: Der Einsatz von Tränengas nimmt weltweit zu
Schizophren: Als Kriegswaffe verboten, zur Bekämpfung von Protesten ist die chemische Waffe erlaubt und völlig unreguliert. Ein Bericht fordert endlich ein Verbot, da der Missbrauch allgegenwärtig ist
Tränengase werden neben Pfeffersprays regelmäßig von Sicherheitskräften in demokratischen und autoritären Staaten beim Vorgehen gegen Demonstrationen und Protesten eingesetzt. Verwendet werden vornehmlich Sprühgeräte, Granaten oder Wasserwerfer. Tränengase wie die häufig verwendeten Gase Chloracetophenon (CN) und 2-Chlorbenzyliden-malonsäuredinitril (CS) oder deren Vorgänger Chloraceton werden wie andere Augenkampfstoffe in der Liste der chemischen Kampfstoffe der OPCW aufgeführt.
In den USA ist der Einsatz von Tränengas in der letzten Zeit aufgrund der antirassistischen Proteste oder davor in Frankreich, Chile oder Hongkong explodiert. Amnesty hat kürzlich in einem Bericht auf Missbrauch in vielen Ländern hingewiesen und diesen dokumentiert.
Tränengas wurde durch die Windschutzscheibe eines PKWs, im Inneren eines Schulbusses, bei einem Trauerzug, in Krankenhäusern, Wohnhäusern, U-Bahnen, Einkaufszentren und selbst in nahezu leeren Straßen abgefeuert. Sicherheitskräfte haben Tränengaskanister auch direkt auf Personen abgefeuert, was zu Todesopfern führte, sowie aus mit hoher Geschwindigkeit vorbeirasenden Lastwagen und Jeeps und über Drohnen. Zu den Betroffenen gehörten Klimaprotestler_innen, Schüler_innen, medizinisches Personal, Medienschaffende, Migrant_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen, darunter Mitglieder der Bewegung "Bring Back Our Girls in Nigeria".
Amnesty International
Aber der Einsatz ist trotz gesundheitlicher Risiken völkerrechtlich vom Übereinkommen zum Verbot chemischen Waffen gestattet.
Verboten sind Herstellung, Verwendung und militärischer Einsatz von Chemiewaffen, Bestände müssen vernichtet werden. Aber nicht ganz. Die Vertragsparteien wollten sich aber eine wirksame Waffe nicht aus der Hand nehmen lassen, um soziale Unruhen mit sogenannten nichttödlichen Waffen unter der Schwelle von Schusswaffen eindämmen und ausschalten zu können. Zu den erlaubten Zwecken des Einsatzes von toxischen Chemikalien gehört die "Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung einschließlich der innerstaatlichen Bekämpfung von Unruhen".
Grauzone zur Machterhaltung
Militärisch darf der Einsatz in der sybillinischen Formulierung "nicht von den toxischen Eigenschaften der Chemikalien als Mittel der Kriegführung abhängen". Beides könnte die Entwicklung neuer chemischer Waffen erlauben und ermöglicht den Einsatz chemischer Waffen. Und völlig unklar bleibt die Grenze zwischen dem Einsatz von Tränengas als einer Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und als Mittel der Kriegsführung? Die USA erlauben nicht nur Sicherheitskräften, sondern auch dem Militär den Einsatz von Tränengas bei Unruhen und Protesten, Aufruhr von Kriegsgefangenen oder zum Schutz von Fahrzeugen in Gebieten, die vom US-Militär kontrolliert werden.
Als geeignet erscheinen nichttödliche Kampfmittel, die Menschen kurzzeitig handlungsunfähig machen. Erlaubt ist eine nicht in einer der OPCW-Listen genannte Chemikalie, "die beim Menschen spontan sensorische Irritationen oder handlungsunfähig machende Wirkungen hervorrufen kann, welche innerhalb kurzer Zeit nach Beendigung der Exposition verschwinden", fraglich aber ist, ob innerhalb eines Landes auch Chemiewaffen aus der Liste 1 verwendet werden dürfen. Allerdings sind nichttödliche Waffen keineswegs ungefährlich und mitunter auch tödlich, was sich immer wieder beim Einsatz von Elektroschockwaffen zeigt. Fraglich ist auch, was kurze Zeit und verschwinden bedeuten. Man sollte meinen, verschwinden bedeutet, dass keine längerfristigen Verletzungen und Schäden bleiben.
So heißt es in der deutschen Ausführungsverordnung zum Übereinkommen zum Verbot chemischer Waffen:
Erlaubt ist … der Einsatz von Mitteln zur Bekämpfung von Unruhen im Sinne von Artikel II Nr. 7 des Übereinkommens zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die Polizeien des Bundes und der Länder, durch die Bundeswehr bei der Anwendung von Maßnahmen nach dem Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der Bundeswehr und verbündeter Streitkräfte sowie zivile Wachpersonen oder durch die Bundeswehr bei Einsätzen im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit (Artikel 24 Abs. 2 des Grundgesetzes) sowie die Ausbildung zu einem solchen Einsatz.
Einsatz, Handel und Herstellung ist praktisch unreguliert
Wissenschaftler der University of Toronto fordern nun mit dem Bericht The Problematic Legality of Tear Gas Under International Human Rights Law, dass Tränengase, die durchaus gefährlich sind und ungerichtet wirken, also jeden in der Nähe, auch friedliche Demonstranten und Zuschauer, betreffen, als Chemiewaffen endlich verboten werden sollten. Die Sicherheitskräfte hätten die Genehmigung genutzt, um den Einsatz von Tränengasen zu missbrauchen: "Nach internationalem Recht muss jeder Einsatz von Gewalt von den Sicherheitsbehörden den Prinzipien der Notwendigkeit und Angemessenheit gehorchen, aber Tränengas wird kaum jemals in Übereinstimmung mit diesen Prinzipien verwendet", sagt Maija Fiorante.
Verkauf und Handel sind praktisch unreguliert, unklar ist, welche Chemikalien verwendet werden, wie giftig diese sind oder ob sie jemals auf Sicherheit getestet werden. All das interessiert die Regierungen nicht, die ein wirksames Mittel nicht aus der Hand geben wollen, Proteste zu bekämpfen. Vielfach wird damit auch Meinungs- und Versammlungsfreiheit verletzt und Angst ausgeübt.
Zudem gibt es eben nicht nur kurzzeitige Wirkungen (Atembeschwerden, Schwindel, Brechreiz, Beeinträchtigung der Atemwege und der Augen oder Brustschmerzen), sondern auch langfristige wie Erblindung, chemische Verbrennungen in Mund und Lungen sowie Atembeschwerden, die auch zum Tod führen können, vor allem bei Vorerkrankten.
Das Pentagon hat 2014 bei einer Studie über die gesundheitlichen Auswirkungen beim Einsatz von Tränengas herausgefunden, dass bei den Soldaten vermehrt Atemwegserkrankungen wie Grippe oder Erkältung auftreten. Daraufhin wurde der Einsatz von Tränengas reduziert und werden die Soldaten nach Einsatz einem Gesundheitscheck unterzogen. Die Sorge besteht derzeit, dass Tränengas beim Vorgehen gegen Protestierende während der Corona-Pandemie die Verbreitung und Ansteckung verstärken kann. Im Juni hatten mehr als 1200 Mitarbeiter im Gesundheitswesen in einem offenen Brief gefordert, deswegen die Verwendung von Reizgasen zu stoppen.
Der Bericht weist darauf hin, dass eigentlich nichts geregelt wird - nicht der Einsatz, aber auch nicht die Zusammensetzung erlaubter Gase und deren Toxität oder welche Kanister benutzt werden dürfen. Unternehmen müssen nicht einmal ihre Tränengase auf Sicherheit testen und können aufgrund der Grauzone direkt von Repression und Menschenrechtsverletzungen profitieren. Erwartet wird, dass der globale Markt weiter wachsen wird, weswegen eine internationale Regelung immer dringender werde. Gefordert wird ein Verbot:
Ein Verbot von Tränengas unter internationalen Menschenrechten wird die Polizei dazu anhalten, ihre Bemühungen um Deeskalationstaktiken und weniger schädlichen Strategien zur Bekämpfung von Unruhen zu verstärken.
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