Chinas digitale Revolution: Mythen auf dem Prüfstand
Bei der Digitalisierung hat die Volksrepublik große Fortschritte gemacht. Über diese Leistungen herrschen hierzulande vielfach falsche Vorstellungen. Woran das liegt.
Patentdiebstahl, Aggression nach außen, der Staat schreibt genau die wirtschaftliche Entwicklung vor – manche Vorstellungen über China sind hierzulande sehr einseitig. Einem eindimensionalen China-Bild widerspricht Timo Daum, IT-Experte. Das beginne schon beim Datenschutz.
Im Jahr 2021 ist in China ein neues Gesetz in Kraft getreten, das erstmals die Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Daten umfassend regulieren soll. Das Personal Information Protection Law (PIPL) enthält das Prinzip der Einwilligung in die Verwendung und Übermittlung persönlicher Daten, Folgenabschätzungen für Privatsphäre und Sicherheit und den Umgang mit Datenschutzverletzungen.
Big Data und KI: Geheimnisse hinter dem Erfolg von Alibaba und Co.
Der Hintergrund wird im Westen kaum dargestellt. Plattformen wie Alibaba, WeChat und TikTok können inzwischen mit der Konkurrenz aus dem Silicon Valley bei Nutzerzahlen, Datenvolumen und Umsätzen Schritt halten. Der Schlüssel zum Erfolg von Firmen wie Alibaba ist das "Planning": ein mit Big Data gefütterter und sich ständig mittels künstlicher Intelligenz korrigierender Planungsprozess.
So sind in den vergangenen Jahren mit den Digitalkonzernen mächtige "Daten-Verarbeiter" in China aktiv geworden. Ihren Machtzuwachs beobachtet die Regierung in Beijing aufmerksam und setzt Grenzen, wenn sie es für angebracht hält. 2020 hat sie kurzfristig den Börsengang der Ant Financial Services Group abgesagt, einer Tochtergesellschaft der chinesischen Alibaba Group.
Ausführlich schildert Daum die Entwicklung Chinas in seiner neuen Publikation "Big Data China: Technologie – Politik – Regulierung", Mandelbaum-Verlag. Es ist eine Einladung, genauer hinzusehen.
Ziele und Herausforderungen: Chinas Streben nach Globaler Führung in der KI
Das Verhältnis der chinesischen Regierung zu den mächtigen Digitalkonzernen ist kompliziert. Denn ohne sie sind viele Ziele nicht zu erreichen: Bis 2030 will China weltweit führend bei Künstlicher Intelligenz (KI) sein. Die Chancen dafür stehen – laut Daum – nicht schlecht.
Zum einen kann China mit seinem Staatskapitalismus 3.0 aufwarten, der Entwicklungen steuert. Ein wichtiger Grund ist aber der Vorsprung bei den Daten: 1.067 Millionen Chinesinnen und Chinesen verfügten Ende 2022 über einen Internet-Anschluss, viele von ihnen sind Digital Natives, Apps werden mobil häufig genutzt – ideale Voraussetzungen für datenextraktive Geschäftsmodelle.
Daum sieht China als "systemische Alternative zum Neoliberalismus des Westens" – ohne jedoch für das chinesische Modell zu plädieren. Die digitale Sphäre spiele eine Schlüsselrolle für das langfristige Ziel Beijings, eine technologische Führungsmacht mit mittlerem Wohlstand für alle zu werden.
Chinas Umgang mit seinen Technologie-Giganten
Der Staat investiere deutlich mehr in den digitalen Sektor als andere Länder und sei – anders als der Westen – in der Lage, die großen Digitalkonzerne zu zähmen. So sei es gelungen, eine kapitalistische Dynamik in Gang zu setzen, die sich in Produktinnovationen niederschlage: "Die Chinesen sind heute experimentierfreudiger als wir". Daum warnt vor einfachen Vorstellungen von China.
Vor Mythen warnte auch die Sinologin Kimiko Suda. Das Verhältnis zu China sei hierzulande von den Schlagworten "Partner, Wettbewerber, systemischer Rivale" geprägt.
"Partner" bezieht sich auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit: China ist ein großer potenzieller Wachstumsmarkt, zum Beispiel für deutsche Autos. Und chinesische Unternehmen sind wichtige Lieferanten von Mineralien für die Halbleiter-, Telekommunikations- und Elektroautoindustrie sowie von Wirkstoffen für Medikamente. "Es hat sich teilweise, wie die Pandemie gezeigt hat, eine eher einseitige Abhängigkeit Deutschlands entwickelt". Gleichzeitig stehen deutsche und chinesische Unternehmen beim weltweiten Absatz von Produkten im Bereich der Elektromobilität in starkem Wettbewerb.
Die jüngst verkündete "China-Strategie" der Bundesregierung sei in dieser Hinsicht "nicht neu", so Suda. "Auch wenn Annalena Baerbock immer wieder die Menschenrechtslage in China und die Unterschiede hinsichtlich der »Werte« der Bundesrepublik und der Volksrepublik erwähnt, geht es primär um den wirtschaftspolitischen Aspekt, dass deutsche Unternehmen ohne Risiken und Verluste in China einkaufen, investieren, produzieren und ihre Produkte auf dem chinesischen Markt verkaufen können."
Wahrnehmung des technologischen Fortschritts und deutsche Selbstbilder
Suda ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsverbund "Institutionen und Rassismus" am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Sie beobachtet seit einigen Jahren die Vorstellung: "jetzt kommen Massen von Investor:innen aus China und kaufen alles auf", die einen Vorläufer in den 1980er-Jahren habe.
Damals galten Auslandsinvestitionen aus Japan als Bedrohung. Heute sieht Suda Anklänge an das alte kolonial-rassistische Schlagwort von der "Gelben Gefahr". "Wenn US-amerikanische oder skandinavische Unternehmen in Deutschland investieren, gibt es keine vergleichbare Konstruktion eines Feindbilds der "fremden Horden", die alles an sich reißen wollen".
Die Wissenschaftlerin sieht "einen gewissen Bruch in der deutschen Wahrnehmung Chinas". Lange habe es geheißen, das Land hole als "Schwellenland" "westliche Entwicklungen" bei der Technisierung nach und benötige dringend "Know-how" und "gute Ratschläge" aus Europa.
Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass China gerade dabei ist, hauptsächlich in einigen technologischen Bereichen zu "überholen". "Das kratzt am deutschen (kolonialen) Selbstbild. Und da auf wirtschaftlicher und technischer Ebene keine unhinterfragbare Überlegenheit Deutschlands mehr besteht, ist letztendlich noch das politische System übrig, um undifferenziert Überlegenheit zu suggerieren", kritisiert Suda.
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