Kann KI zentrale menschliche Fähigkeiten und Vermögen ersetzen?

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Urteilskraft gehört zu den wichtigen menschlichen Vermögen. Was Intelligenz bedeutet und was eine Technologiepolitik für das gute Leben beachten muss.

Maschinen und Apparate, die auf Basis der sog. Künstlichen Intelligenz (KI) operieren, können die Menschen bei manchen Arbeiten (z. B. Auswertung von Daten) entlasten.

Dieser Artikel fragt, ob es möglich ist, zentrale menschliche Fähigkeiten an KI-basierte Technologien abzugeben, zu übertragen oder sogar ihnen anzuvertrauen, und, wenn ja, ob wir das befürworten wollen.

Der Mangel an Urteilskraft

"Papa, die Intelligenz habe ich von dir."

Der Vater geschmeichelt: "Das freut mich! Wie kommst du darauf?"

"Na, die Mama hat ihre ja noch!"

Ulrich Schnabel, Unsere neue Denkaufgabe

Die KI scheitert am Verständnis dieser Mehrdeutigkeit und dieses Witzes. Vermeintlich intelligente Systeme "kennen nur eindeutige Einzelelemente 0 oder 1 – für alles, was mehrdeutig, schillernd oder vage ist, eine atmosphärische Anmutung hat, fehlt ihnen der Sinn. Das Verhältnis zwischen Vordergrund und Hintergrund, Gegenstand und Kontext existiert für sie nicht" (Thomas Fuchs, 2020: Verteidigung des Menschen. Siehe Literaturangaben am Ende des Artikels).

Donald Trump twittert häufig. Die KI vermag nicht festzustellen, ob er schwindelt oder es ernst meint. Um das unterscheiden zu können, bedarf es der Urteilskraft. Zusätzlich wird eine Analyse des Charakters von Trumps erforderlich. Sie überfordert die KI. Vergleichsfälle sind schwer aufrufbar. "Verlogenheit, Heuchelei und Bluff kann eine Maschine nicht begreifen" (Koenig 2022, 118).

Auch auf Finanzmärkten stellt sich die Frage nach dem Stellenwert von menschlicher Urteilskraft. Bleiben die Bedingungen für Investitionen stabil und der Aktienhandel ruhig, so verlaufen die Börsenaktivitäten mittlerweile zum großen Teil automatisiert. Problematisch wird es, wenn "unvorhergesehene Ereignisse eintreten, Krisen oder Innovationen (tail events), oder aber wenn es um Langzeitplanungen geht" (Ebd.).

Entscheidungen über Geldanlagen und Investitionen werden keineswegs vollständig an Computer delegiert. Die erforderlichen Daten bleiben oft unvollständig oder ungenau. Finanzanalysten interessieren sich nicht zuletzt für die Mentalitäten und Stimmungen von entscheidenden Akteuren.

Die KI wird nur die Berufe verschwinden lassen, zu deren Ausführung keinerlei Kontextverständnis, keine Interaktion mit der äußeren Umwelt, keine auf Menschenkenntnis gegründete Initiative erforderlich ist.

Gaspard Koenig, Das Ende des Individuums

Frank Knight unterscheidet zwischen Risiko und Ungewissheit. Beim Risiko sind alle denkbaren Ergebnisse sowie ihre Konsequenzen und Wahrscheinlichkeiten prognostizierbar. Bei der Ungewissheit ist "die Zukunft nicht berechenbar und Überraschungen geschehen" (Gigerenzer 2021, 59).

In den Situationen der Ungewissheit reicht laut Knight "Rechenleistung nicht aus; stattdessen brauchen wir Urteilsfähigkeit, Intelligenz, Intuition und den Mut, Entscheidungen zu fällen" (Ebd.). Urteilskraft gehört zu den menschlichen Vermögen, die der KI fehlen.

Sinnhafte Orientierung

Wer meint, alles berechnen zu können, scheitert bereits an einem elementaren Geschehen. Eine solche Person müsste über die Frage "Wollen wir Eltern werden oder nicht?" mit der quantitativen Abwägung von Belastungen und Befriedigungen entscheiden.

Diese utilitaristische Herangehensweise hat jedoch Grenzen. Entscheidende Momente entziehen sich der Berechenbarkeit. Eltern sind bspw. der Auffassung, Kinder seien wichtig für die Bedeutung und den Sinn ihrer Lebensgeschichte.

Wenn Menschen nicht in resignativer Stagnation verharren, streben sie etwas an.

Künstliche Systeme durchlaufen nur Zustände, es geht ihnen um gar nichts. Kein Fühlen oder Streben motiviert und begleitet ihre Prozesse. Ein Torpedo ist zwar mit einem Zielsuchprogramm ausgestattet, das die Abweichung vom programmierten Ziel minimiert und so den Kurs fortlaufend anpasst. (…)

Nur bewusste Wesen bewegen sich im Raum möglicher Zukunft und erleben ihre Bewegung selbst als zielstrebig.

Thomas Fuchs, Verteidigung des Menschen

Der Computer "ist sich selbst nicht vorweg. Nur bewusstes Erleben nimmt die Zukunft vorweg und ist protentional – wünschend, strebend, erwartend oder befürchtend – auf Mögliches gerichtet" (Fuchs, 2020, 47).

Im Unterschied zu Maschinen orientieren sich Individuen an Geschichten bzw. rufen sich "Szenen der Vergangenheit oder der mutmaßlichen Zukunft vor Augen, um sie zu einem Sinnzusammenhang zu verknüpfen" (Precht 2020, 34).

Dieser Bewusstseinszustand ist für das Selbstverhältnis von Individuen zentral. Die KI kennt ihn nicht. Die Orientierung in einem endlichen Leben mit Vergangenheit und Zukunft bildet eine Aufgabe, die sich für die KI erst gar nicht stellt.

Im eigenen Leben Erfahrungen gemacht, über sie reflektiert zu haben und dadurch gereift zu sein, all das lässt sich nicht durch "in Laboren gleichförmig programmierte Maschinen" (ebd., 142) "leisten".

Wer meint, das Lernen von Maschinen könne dies in Zukunft unnötig machen, hat keinen Bezug zu der in tätiger, sinnlicher und geistiger Auseinandersetzung erworbenen Lebensweisheit und zu den menschlichen Vermögen, die sich nur so bilden.

Sensomotorische Fähigkeiten

Was die KI im Schachspiel vermag, ist bekannt. Zugleich ist "dasselbe Programm nicht in der Lage, das Schachbrett aus dem Regal zu nehmen und die Figuren aufzustellen" (Gigerenzer 2021, 124). Der Robotik-Experte Hans Moravec stellt fest, es sei "vergleichsweise einfach, Computer mit der Leistungsfähigkeit von Erwachsenen Mathematikaufgaben lösen, Intelligenztests bewältigen oder Schach spielen zu lassen".

Es sei bislang "hingegen schwer oder unmöglich, sie in Hinblick auf Wahrnehmung und Bewegung mit den Fertigkeiten eines einjährigen Kindes auszustatten" (Brynjolfsson, McAfee 2014, 40). Die Zeitschrift Economist berichtet 2016 über einen vom Pentagon gesponserten Roboterwettbewerb:

Sie fielen aufs Gesicht und sie fielen auf den Rücken. Sie stürzten wie Kleinkinder, falteten sich wie billige Anzüge zusammen oder gingen wie eine Tonne Ziegelsteine zu Boden.

The Economist, Humanoid Robots: After the Fall, 2015

Die Wahrnehmung von Qualitäten

Bereits das subjektive Ansprechen auf die Farbe Karminrot, "der Geschmack von Schokolade oder der Duft von Lavendel" stellen Erfahrungen dar, in denen Qualitäten wahrgenommen werden. Sie lassen sich nicht in "Daten und Informationen" repräsentieren (Fuchs 2020, 104).

Das gilt auch für Situationen, die das Leben reich machen. Ein Individuum erlebt Freude, wenn es sich seine gelungene Arbeit vergegenwärtigt. Es erfährt Anerkennung durch andere und durch sich selbst. Es ist dankbar für eine langfristige gute Zusammenarbeit, die solidarisch ist und produktive Auseinandersetzungen einschließt.

Menschen erfahren persönliche Beziehungen als für sie wesentlich. All das lässt sich nicht "als eine definierte Konfiguration von Einzeldaten wiedergeben oder gar in digitale Zeichen zerlegen" (Ebd., 27).

Ein Beispiel für den naturwissenschaftlichen Reduktionismus bildet der Satz von Max Planck: "Wirklich ist, was sich messen lässt" (Max Planck). Wir ziehen demgegenüber eine Unterscheidung von Albert Einstein vor: "Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden kann, zählt!"

Bereits in den modernen Naturwissenschaften gibt es eine starke Tendenz zur "Entwirklichung aller Stoffe und Kräfte in funktionale Beziehungen einiger ‚universeller Konstanten’ (Max Planck), auf die sie die Physik reduziert" (Wagner 1966, 96). Wenn es nach dem Szientismus ginge, würde die imponierende "Ersatzwelt forscherlicher Errungenschaften" (ebd., 37) die Lebenswelt ins Abseits drängen.

Die KI radikalisiert dies durch das Bestreben, Phänomene auf Informationen zu reduzieren bzw. aus ihnen zusammensetzen zu wollen. (Zur Problematik des Informationsbegriffs vgl. Fuchs 2020, 29ff.). Die KI liefert die Präzision einer Welt aus dritter Hand.

Was Intelligenz bedeutet

Diese Welt ist "nicht sehr komplex, dafür aber auffällig geordnet. Sie besteht aus ganzen Zahlen, binären Sequenzen, einer festgelegten Logik, präzisen Definitionen und Algorithmen. [...] Sie ist übersichtlich angeordnet, wohldurchdacht, mathematisch beschreibbar, effizient und auf ihre Weise optimal" (Precht 2020, 37f.).

Ein charakteristisches Moment humaner Existenz, das in der KI nicht vorkommt, ist die subjektive Binnenperspektive. Im Unterschied zur Außenperspektive ist "jede subjektive Erfahrung an eine zentrierte Perspektive gebunden, die sich nicht in einer objektiven, physikalischen Beschreibung rekonstruieren lässt" (Fuchs 2020, 182). "Bewusstsein ist überhaupt nicht das geistlose Durchlaufen von Datenzuständen – es ist Selbstbewusstsein" (ebd., 37) oder "Selbstgewahrsein" (Ebd., 104).

Bereits die Rede von der "künstlichen Intelligenz" reduziert den Begriff der Intelligenz bzw. ersetzt sie durch etwas anderes. Das lateinische Wort "intellegere" bedeutet "einsehen, verstehen, begreifen". Eine künstliche Intelligenz müsste in der Lage sein, "sich selbst [...] aus einer übergeordneten Perspektive zu sehen."

Das "Heraustreten aus seinem Mittelpunkt" ist eine "entscheidende Voraussetzung" für Intelligenz (Ebd., 43). Im Unterschied zur menschlichen Intelligenz versteht ein Übersetzungsprogramm die Worte nicht, die es übersetzt.

Solche Computer führen "nur blind Programme aus, die man als 'klug entwickelt' bezeichnen kann" (Ebd., 44). "Immer präzisere Mustererkennung und immer leistungsfähigere Statistiksysteme schaffen noch lange keine echte Intelligenz" (Precht 2020, 25).

"Ausgeblendet bleibt" in der KI "das Charakteristische des Lebens [...] nämlich das Erleben oder die Innerlichkeit: Empfinden, Fühlen, Streben, Wahrnehmung, Denken. Lebendiges geht nicht in einem von außen beobachtbaren System auf" (Fuchs 2020, 31).