Kann KI zentrale menschliche Fähigkeiten und Vermögen ersetzen?

Seite 2: Neuroreduktionismus

Was "uns erst zu fühlenden und wollenden Wesen macht, lässt sich informationstheoretisch gar nicht erfassen" (Fuchs 2020, 105). Dieser These widersprechen manche Ideologen, die sich auf die Neurowissenschaft stützen. Die neurowissenschaftliche Beschreibung von Hirnprozessen ist jedoch nicht zu verwechseln mit der Erklärung oder dem Verstehen von psychischen Prozessen.

Letztere sind "nicht einfach bloß physikalische Zustände unseres Gehirns".

Menschen sind mehr als "bloß ein Körper mit seinem brausenden Nervensystem". Erforderlich ist eine

"Doppelaspekt-Theorie. Man nennt sie so, da sie besagt, dass mein Hineinbeißen in eine Tafel Schokolade in meinem Gehirn einen Zustand oder Vorgang mit zwei Aspekten hervorruft: einen physikalischen Aspekt, der die vielfältigen chemischen und elektrischen Reaktionen einschließt und einen psychischen Aspekt – der Geschmacksempfindung von Schokolade" (Nagel 2004, 26, 27, 30f.).

Weit verbreitet bei Neuro-Ideologen sind die Fehlschlüsse, ein Teil (das Gehirn) mit dem Ganzen (dem menschlichen Subjekt) sowie "Bewusstseinstätigkeiten mit lokalen Gehirnaktivitäten" zu identifizieren (Fuchs 2020, 188).

Wer schießt den Elfmeter?

Geert Keil macht auf einen wichtigen Unterschied aufmerksam. Die neurowissenschaftliche Aufmerksamkeit dafür, welche Gehirnareale aktiv sind, wenn jemand etwas Bestimmtes tut, ist das eine.

Etwas ganz anderes ist die These, "dass in Wirklichkeit nicht ich denke, sondern mein Gehirn". Diese These ist "nicht schlüssiger als die Auffassung, dass in Wirklichkeit nicht ich den Elfmeter schieße, sondern Teile von mir. (…) Die Frage, womit eine Person denkt, ist (…) nicht von grundsätzlich anderer Art als die, womit sie (…) einen Elfmeter schießt. Solche Fragen sind verblüffend schwierig zu beantworten: Schießt man einen Elfmeter mit dem Fuß? Oder doch eher mit dem Bein?" (Keil 2009, 141).

Manche Neurowissenschaftler verneinen die Willensfreiheit. "Nicht das Ich, sondern das Gehirn hat entschieden" (Roth 2004, 77). "Wir sind determiniert. Die Hirnforschung befreit von Illusionen" (Roth 2004a, 218).

Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen. (…) Keiner kann anders, als er ist.

Wolf Singer

Diese Ideologen meinen zu Unrecht, es handele sich um eine Kausalbeziehung, wenn sie von einer "Beziehung zwischen einem mentalen Ereignis und seinem zeitgleichen neuronalen Korrelat oder Substrat" sprechen (Keil 2020, 95). Zur Klärung, was Willensfreiheit heißt, und zur Auseinandersetzung mit deren Verabschiedung durch manche Neurowissenschaftler vgl. den lesenswerten Text von Keil 2020 sowie Fuchs 2020.

Zur Klärung der Frage, inwieweit die KI menschliche Vermögen ersetzen kann, sind die genannten Unterscheidungen instruktiv. Wären psychische Prozesse reduzierbar auf physikalische Zustände unseres Gehirns, so wäre man damit einen Schritt näher auf dem Weg zur posthumanistischen Utopie.

Sie besteht darin, psychische Prozesse an Maschinen auslagern sowie eine Datenkopie des individuellen Gehirns erstellen und die Daten auf so etwas wie die "Festplatte" eines anderen Gehirns verschieben zu können.

Die technomorphe Formierung menschlicher Sinne und Fähigkeiten durch KI

Die KI ist nicht nur insofern problematisch, als sie zentrale menschliche Vermögen zu marginalisieren droht. Auch dort, wo der KI wohlwollend zugeschrieben wird, Menschen von unerwünschtem Arbeitsaufwand zu befreien, führt sie zu Problemen.

Die Nutzung von Chatbots ("Sprachassistenten"), die in der Lage sind, einen menschlichen Gesprächspartner nachzuahmen, findet häufig im Online-Kundenservice statt. Im Kontakt mit Chatbots werden die Kunden daran gewöhnt, "eine stärker standardisierte Sprache zu verwenden, um ihre Chancen zu erhöhen, verstanden zu werden. Die Menschen [...] machen sich zu Robotern. Nicht umgekehrt" (Koenig 2022, 62).

Die Nutzung von KI-basierten Navigationshilfen senkt die Anforderungen an das Gedächtnis und den Orientierungssinn. Beide werden in geringerem Maße beansprucht, aber damit auch weniger trainiert.

Offenbar scheint besser im Gedächtnis zu haften, was man sich bewusst erarbeitet. Eine Route, die man im Auto vom Navi geführt verfolgt, kann sich nicht als Erinnerung festsetzen. Sie bleibt rein oberflächlich.

Thomas Wehrs, Störfall Mensch

iMessage bietet Wortvorschläge an: Wenn die Tochter sich bei der Mutter für den Kuchen bedanken will und schreibt: "Der Kuchen war ...", so bekommt die Anwenderin verschiedene Adjektive vorgeschlagen (lecker, zu gut, super usw.). "Warum sollte sie sich gerade jetzt mit dem Herumsuchen in den Feinheiten der [...] Sprache langweilen? (...) Wie wächst man in einer Welt auf, in der die Worte für uns ausgesucht werden?" (Koenig 2022, 152).