Christian Lindner verteidigt Schuldenbremse auf Kosten der Gesamtwirtschaft

Bild Christian Lindner: Sandro Halank, Wikimedia Commons / CC-BY-SA-4.0 / Grafik: TP

Der Finanzminister übersieht Verflechtung der Wirtschaftssektoren. Seine Sparlogik führt zu Rezessionen. Warum die Schuldenbremse jetzt ein Fehlgriff ist? Eine Analyse.

In einem Gastbeitrag für den Spiegel verteidigt Bundesfinanzminister Christian Lindner die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse, die es dem deutschen Staat weitgehend verbietet, neue Schulden aufzunehmen, sofern keine außergewöhnliche Notsituation oder Naturkatastrophe vorliegt. Bei seiner Argumentation vernachlässigt der Bundesfinanzminister die gegenseitige konjunkturelle Abhängigkeit der vier volkswirtschaftlichen Sektoren.

Das beruht vermutlich auf der Auffassung, dass Konjunktur und langfristige Entwicklung einer Volkswirtschaft nicht viel miteinander zu tun hätten. Diese Fehleinschätzung teilt Christian Lindner mit vielen Makroökonomen. Sie führt zu einer systematisch schlechteren Wirtschaftspolitik.

Der Bundesfinanzminister unterschlägt die Rolle der Fiskalpolitik, die sich allein aus der schieren Größe des Staatssektors ergibt. Das Ausgabeverhalten des Staates hat unmittelbare konjunkturelle Wirkung und dadurch mittelbare auf die langfristigen Entwicklungsmöglichkeiten des Landes. Gerade in einer gesamtwirtschaftlich instabilen Situation wie der aktuellen ist der Impuls, den der Staat durch die Veränderung seines Haushaltssaldos setzt, von großer Bedeutung.

Einnahmen-Ausgaben-Logik: ohne Verschuldung keine Ersparnis

In jeder monetären Marktwirtschaft gilt nämlich jederzeit: Die Ausgaben des einen sind die Einnahmen anderer und umgekehrt. Weil das so ist, liegt ein unauflöslicher, logisch zwingender Zusammenhang zwischen Sparen und Verschulden vor: Jedem Sparen steht immer ein Sich-Verschulden in gleicher Größenordnung gegenüber. Denn Sparen heißt, weniger Ausgaben zu tätigen als Einnahmen zu erhalten. Und das erfordert spiegelbildlich, dass jemand mehr ausgibt, als einnimmt, sich also verschuldet.

Diese Logik zu Ende buchstabiert, liefert folgende zentrale Erkenntnis: Wenn alle Wirtschaftssektoren gleichzeitig versuchen, ihre Ersparnisse zu erhöhen oder ihre Verschuldung zu verringern, können diese Pläne nie alle gleichzeitig aufgehen. Dehnt kein Sektor seine Verschuldung aus – ob freiwillig oder unfreiwillig sei dahingestellt –, senken die Sparversuche aller die Gesamtausgaben und damit automatisch auch die Gesamteinnahmen. Das heißt, die insgesamt erbrachte Wirtschaftsleistung geht zurück, die Wirtschaft rutscht in eine Rezession, und die Sparpläne erfüllen sich nicht.

Einhaltung der Schuldenbremse in der aktuellen Konjunkturflaute erzeugt Rezession

In Zeiten wie den gegenwärtigen, in denen die konjunkturelle Entwicklung auf des Messers Schneide steht, agieren die Wirtschaftssubjekte in beiden privaten Sektoren einer Volkswirtschaft vorsichtiger: Sie warten ab, planen zurückhaltender, geben ihr Geld zögerlicher aus, wünschen zu sparen.

Geht die öffentliche Hand in einer solchen Lage nicht mit Ausgaben mutig voran, sondern versucht selbst zu sparen, wie das Christian Lindner unter Berufung auf die Schuldenbremse propagiert, haben die Privaten noch weniger Anlass, eine Trendwende in der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu erwarten. Dann ist es einzelwirtschaftlich rational, die individuellen Investitions- und Konsumpläne nicht in Richtung Expansion zu revidieren, sondern eher noch vorsichtiger zu agieren. Damit ist die Rezession vorprogrammiert, die der Staat hätte abwenden können und müssen.

Trügerische Hoffnung auf Kaufkraftsteigerung

Die Regierung baut in ihrer Herbstprojektion ähnlich wie die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrer aktuellen Gemeinschaftsdiagnose auf das Zusammenspiel deutlicher Lohnerhöhungen und sinkender Preissteigerungsraten. Der sich daraus ergebende Zuwachs an Kaufkraft soll den privaten Konsum ab dem vierten Quartal beflügeln.

Bis in den Sommer hinein sind die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte allerdings langsamer gestiegen als die Verbraucherpreise, was eine Realeinkommenseinbuße bedeutete. Im dritten Quartal hat laut Statistischem Bundesamt hauptsächlich der private Verbrauch zum Rückgang des Bruttoinlandsprodukts beigetragen.

Auch wenn sich die Größenordnung der Zuwachsraten von verfügbarem Einkommen und Verbraucherpreisniveau in nächster Zukunft so umkehrt, dass die Kaufkraft tatsächlich zunimmt, dürften die Verbraucher skeptisch bleiben:

Die für die unteren Einkommensgruppen besonders bedeutsamen Nahrungsmittelpreise steigen weiterhin schneller als die Preise anderer Güter; der Nahostkonflikt sät Zweifel an einem sich fortsetzenden Rückgang der Energiepreise; die Verschlechterung der Daten zu Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und offenen Stellen verunsichern die Arbeitnehmer. Die Hoffnung auf eine vom privaten Verbrauch ausgelöste Trendwende ab dem vierten Quartal oder zumindest zum Jahreswechsel ist daher unrealistisch.

Geldpolitische Restriktion

Die Tendenz zum Abwarten aufgrund der Energiekrise und handwerklicher sowie Kommunikationsfehler der Regierung bei Gesetzesvorhaben wurde von der raschen und umfangreichen Erhöhung der Leitzinsen von Juli 2022 bis September 2023 verstärkt.

Die restriktive Geldpolitik verteuert die Finanzierung privatwirtschaftlicher Investitionen und senkt durch das Ausbremsen der Investitionsgüternachfrage die Auslastung und damit die Rentabilität des vorhandenen Kapitalstocks – ein fatales Signal, das einen sich selbst verstärkenden Prozess in Gang setzt.

Der Einbruch etwa im Wohnungsbau, der ein Drittel aller Anlageinvestitionen ausmacht, wird vom amtlich gemeldeten Zuwachs der Ausrüstungsinvestitionen einschließlich der öffentlichen Investitionen in die Bundeswehr nicht aufgewogen.

Auslandsüberschussnachfrage als Retter in der Not?

Der einzige Ausweg, der sich angesichts der geld- und fiskalpolitischen Restriktion bietet, um eine Abwärtsspirale der Gesamtwirtschaft zu verhindern, besteht in einer deutlich wachsenden Überschussnachfrage des Auslands nach deutschen Gütern. Auf diesen Ausweg zu setzen ist nicht nur wagemutig, weil auch die Investitionsbereitschaft in anderen Ländern unter dem weltweit gestiegenen Zinsniveau und den geopolitischen Spannungen leidet.

Auf ihn zu setzen ist obendrein rücksichtslos gegenüber den Ländern, die im internationalen Handel unterliegen und zugleich eine deutlich höhere Arbeitslosigkeit aufweisen als Deutschland. Denn kommt es zu steigenden deutschen Handelsüberschüssen, fehlt den Defizitländern auch dieses Stück zusätzlicher Nachfrage, um ihr eigenes Arbeitsplatzangebot zu erhöhen oder wenigstens zu sichern.

Zudem ist zu fragen, mit welchen Mitteln die deutsche Wirtschaft die für steigende Überschüsse notwendige Steigerung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit erreichen wollte. Wenn das über die Lohnpolitik bewerkstelligt würde, schadete es der inländischen Nachfrage – dann wäre in der Summe nichts gewonnen, es liefe eher noch schlechter.

Konzentrierte sich eine Lohnzurückhaltung auf die unteren Lohngruppen wie in den 2000er-Jahren, gefährdete die Zunahme der internationalen Wettbewerbsfähigkeit obendrein den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Versuchte der Staat, die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen durch eine Verbesserung der "Standortfaktoren" – zum Beispiel durch Steuerentlastungen und Subventionen für Unternehmen oder die Reduktion der Sozialabgaben – zu steigern, ginge das dank Schuldenbremse zulasten des öffentlichen Güterangebots und der Transferempfänger.

Der Bundesfinanzminister nennt das "Prioritätensetzung". Die Abwendung einer inländischen Nachfrageschwäche hat da offenbar ebenso wenig Priorität wie der gesellschaftliche Frieden.

Schuldenbremse gesamtwirtschaftlich falsch konzipiert

Statt sich also vehement gegen die drohende Abwärtsspirale zu stemmen, liefern Fiskal- und Geldpolitik negative Impulse. Die Regierung hofft, dass der Privatsektor selbst die Rolle des Stabilisators mittels zulegenden privaten Verbrauchs übernimmt.

Der Bundesfinanzminister beruft sich auf die Schuldenbremse, um fiskalpolitische Restriktion durchzusetzen. Bei der Verteidigung der Schuldenbremse interessiert sich Christian Lindner nicht für die unmittelbaren Einnahmen-Ausgaben-Beziehungen zwischen einerseits den drei inländischen Sektoren selbst und andererseits zwischen ihnen und dem Ausland, obwohl sie der einzig angemessene gesamtwirtschaftliche Rahmen sind, innerhalb dessen man die Wirkung der Schuldenbremse sinnvoll diskutieren kann.

In Hinblick auf die Schuldenbremse sieht er den Staat offenbar als einen Finanzmarktteilnehmer unter anderen, der sich so rational verhalten sollte wie ein Unternehmen – und das heißt, so einzelwirtschaftlich prozyklisch und ohne jedes Bewusstsein für die Aufgabe, die die Wirtschaftspolitik nun einmal hat: die Gesamtwirtschaft auf einem einigermaßen ruhigen und prosperierenden Pfad zu halten, sodass sie weder überbordet noch abstürzt.

Dem Bundesfinanzminister ist nicht klar, dass eine Marktwirtschaft ein permanent in Bewegung befindliches, in sich grundsätzlich instabiles System ist, weil in ihm laufend Anpassungsprozesse stattfinden, die darauf beruhen, dass sich die einzelnen Akteure am Verhalten aller anderen orientieren. Verstärkt der Staat die prozyklische Tendenz der Privaten durch eigenes Parallelverhalten, heizt er die Instabilität noch an.

Die Schuldenbremse ist nicht deshalb falsch, weil der Staat nie sparen sollte. Sie ist falsch, weil sie die Bedingungen, wann der Staat sparen und wann er sich verschulden sollte, unabhängig vom sich abzeichnenden Verhalten der anderen volkswirtschaftlichen Sektoren festlegt. Sie zeichnet sich durch einen gesamtwirtschaftlichen Autismus aus, der die Wirtschaftspolitik ausgerechnet in instabilen Zeiten systematisch daran hindert, ihrer Aufgabe rechtzeitig gerecht zu werden.

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