Christmette und Liebestod
Seite 3: Jungfräuliches Pin-up Girl
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Der Star der Lokalität, Jackie Lamont, singt gerade das (von Frank Loesser extra für den Film geschriebene) Lied "Spring Will Be a Little Late This Year", und Deanna Durbin absolviert diesen ersten Gesangsauftritt mit einer distanzierten Ausdruckslosigkeit, die so gar nichts mit der gekünstelten Emphase zu tun hat, mit der im Schlager die großen Gefühle simuliert werden. Die Musik in Christmas Holiday ist weder Beiwerk noch Generator von aufgesetzten, in der Inszenierung nicht enthaltenen Emotionen. Sie ist ein integraler Bestandteil der Handlung, kommentiert sie und charakterisiert die handelnden Personen. Durbin, der später vorgehalten wurde, sie sei von der Rolle überfordert gewesen und an ihr gescheitert, erledigt die Aufgabe mit Bravour. Hier ist sie die Frau, die ihre Gefühle auf ein Minimum reduziert, weil die Situation, in der sie sich befindet, nur so auszuhalten ist. Die zeitgenössischen Kritiker nahmen dankbar den Vorschlag auf, dass sie eine Hostess oder eine Tischdame sein könnte, aber es war trotzdem allen klar, womit sie ihr Geld verdient. Bosley Crowther, der Chefkritiker der New York Times, hatte bereits Phantom Lady verrissen und bestrafte Siodmak nun mit so viel Verachtung, dass er nicht einmal mehr seinen Namen nannte. "Es ist wirklich grotesk und hanebüchen, was sie Miss Durbin in diesem Film angetan haben", zürnte er. "Stellen Sie sich ein süßes Schulmädchen vor, das die Rolle der Sadie Thompson in Rain spielt!" Sadie Thompson ist eine Prostituierte in einem Bühnenstück, das auf einer Geschichte von William Somerset Maugham basiert und 1928 von Raoul Walsh verfilmt wurde, mit Gloria Swanson als Sadie (nicht zu verwechseln mit dem enttäuschenden Remake mit Rita Hayworth). Hanebüchen ist allenfalls Crowthers Kritik. Wenn Durbin das Lied vom langen Winter singt ist sie die Hure, die ihre Gefühle eingefroren hat, weil die Begegnung mit den Freiern anders nicht zu ertragen wäre.
Ich könnte hier schreiben, dass das der erste echte Knaller des Films ist. Siodmak überrascht (und schockiert) das Publikum, indem er Deanna Durbin, die Verkörperung eines besseren, den alten Werten lebenden Amerika als singende Hure präsentiert. Allerdings bin ich mir nicht sicher, wie groß die Überraschung tatsächlich war. Nicht jeder war so zögerlich wie Felix Jackson, der mit List und Tücke der PCA ihr Okay abrang und dann um den guten Ruf seiner Verlobten fürchtete (oder vielleicht auch nur um die zukünftigen Vermarktungsmöglichkeiten). Solchen Bedenken zum Trotz rührte die Universal kräftig die Werbetrommel, und weil sich bald herumsprach, was einen in dem Film erwartete, strömte das Publikum in Scharen in die Kinos, um das Singing Sweetheart - je nachdem - als Prostituierte im Bordell oder als Sängerin in einer anrüchigen Tanzbar zu sehen. Zumindest Siodmak dürfte es sehr bewusst gewesen sein, dass das gar nicht weit entfernt von den Freiern in Maughams Roman war, denen es einen Kick gibt, mit "Olga" zu schlafen, der nur in der Phantasie existierenden Großfürstin aus dem Zarenreich. Christmas Holiday wurde Deanna Durbins größter Hit.
Heutige Kommentatoren im Internet haben zu bemängeln, dass sie als Jackie Lamont nicht sexy genug sei. Das kommt auf den Standpunkt an. Um halbwegs nachvollziehen zu können, wie Durbins erster Auftritt damals wirkte, sollte man vor Christmas Holiday eine Handvoll der klinisch reinen Familienkomödien mit Musik sehen, die das ewige Sweetheart zum Star gemacht hatten: angefangen mit Three Smart Girls über First Love bis zu Nice Girl?, und It Started with Eve nicht zu vergessen, weil Durbin da eine Garderobenfrau (englisch: hat-check girl) spielt, die genauso heißt wie die verschwundene Frau mit Hut in Phantom Lady. So, wie sie im schulterfreien Abendkleid in diesem Bordell steht und ihr Lied singt, trennen sie Welten von Rita Hayworth oder Lana Turner. Wäre es ihr Ziel gewesen, eine glamouröse Sexgöttin zu erschaffen, hätten Siodmak und sein Kameramann Woody Bredell das sicher besser hingekriegt. Darauf legten sie es aber gar nicht an. Es ging ihnen vielmehr darum, die in den Kinosaal mitgebrachten Phantasien zu aktivieren, den Zuschauer zur Herstellung eigener Wunschbilder zu ermuntern, statt ihn mit einem Overkill an Erotik zu konfrontieren, der dafür kaum mehr Platz lässt. Die Herausgeber des Magazins Yank, das die Moral der kämpfenden Truppe mit Photos leicht bekleideter Frauen stärkte, hatten das begriffen, als sie Deanna Durbin als Pin-up Girl des Monats Januar 1945 auswählten - nicht im Badeanzug, sondern in einem der Abendkleider, die sie auf den PR-Photos zu Christmas Holiday trug.
Richard Whorf, als Reporter Fenimore der Zyniker im Stück (und im Nebenberuf als PR-Mann für die Maison Lafitte tätig), nuschelt einmal etwas über die GIs, die nur ein paar Dollar und das Bild von einem Mädchen im eng anliegenden Pullover in der Tasche haben. Das ist so deutlich, wie man in einem amerikanischen Film des Jahres 1944 sein konnte. Die Männer mit der dicken Brieftasche können sich die Frauen in Madame de Merodes Bordell leisten. Die anderen müssen mit einem Pin-up-Photo vorlieb nehmen. Manche Stars und Starlets führten damals eine seltsame Doppelexistenz. Auf der Leinwand gaben sie die jungfräuliche Unschuld. Als Pin-up für den Spind oder andere Verwendungszwecke, mit denen sich der GI seiner Männlichkeit versicherte, versprachen sie (in patriotischer Pflichterfüllung) etwas, das die Jungfrau schlecht einlösen konnte. Siodmak hatte für solche Schizophrenien wenig übrig. Filme mit bürgerlichem Familienglück, weiblicher Reinheit und Gefühlsduseleien bei der Weihnachtsfeier, sagt Christmas Holiday, haben wir lange genug gehabt, während in Übersee getötet und gestorben wurde. Es wird Zeit, eine dunkle Seite der Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen, von der wir lieber nichts wissen möchten. Schauen wir also, wie das ist, wenn aus der Jungfrau eine Hure wird und Deanna Durbin in eine Welt gerät, deren Existenz sie bisher, als makelloses Kunstprodukt und Verkörperung eines seine Unschuld konservierenden Amerika, das es so nie gegeben hat, beflissentlich ignorierte.
Die Jungfrau Maria trifft Maria Magdalena
Nicht viele in Hollywood waren so bissig wie Robert Siodmak. Fenimore zieht sich mit Madame de Merode (Gladys George, die Witwe von Humphrey Bogarts ermordetem Partner in The Maltese Falcon) diskret in deren Büro zurück, um dort - im Off - besoffen einzuschlafen. Vorher gibt er der Puffmutter noch zwei Lieutenant Mason zugedachte Eintrittskarten für die Christmette. Mason hat eigentlich keine Lust, aber Jackie will unbedingt da hin, und weil der Lieutenant ein Kavalier ist geht er mit der Prostituierten/Sängerin in die Kirche (gedreht wurde in der alten Kathedrale in Downtown Los Angeles, in der man Partys feiern kann, seit sich die Diözese nach dem Erdbeben von 1994 von ihr trennte). Da wäre nun genügend Raum für allerlei Erbauliches. Siodmak bietet einen Zusammenschnitt der Veranstaltung, ein Best of mit Gebeten und sakraler Musik gewissermaßen, denn schließlich ist das ein Weihnachtsfilm. In seiner Autobiographie behauptet er frech, er habe dem Kardinal einige Verbesserungsvorschläge gemacht, und dieser habe die modifizierte Inszenierung gleich ausprobieren wollen, weil er es so auch gelungener fand. Durch devotes Verhalten der katholischen Kirche und ihren Riten gegenüber fiel Siodmak nicht auf. Von einem vor den Nazis geflohenen Juden, dessen Familie nicht nur unter dem Antisemitismus gottloser Nazis zu leiden hatte, sollte man das auch nicht unbedingt erwarten.
Im Verlauf der Messe kriegt Jackie einen Weinanfall wie Lydia im Roman. Einige der umsitzenden Gläubigen sind pikiert. Lieutenant Mason stellt sich vor die unter Tränen zu Boden gesunkene Frau und man fragt sich unwillkürlich, ob er das macht, um sie zu schützen oder um die Blicke der die Geburt ihres Erlösers feiernden Christen nicht mehr als nötig auf sich zu ziehen. Sein Militär-Trenchcoat schiebt sich ins Bild wie der Vorhang, den man zuzieht, damit das Publikum ein peinliches Spektakel nicht mehr länger sehen muss. Später, in einem Restaurant, wird Jackie dem Lieutenant sagen, dass sie nicht aus dem Grund geheult hat, den er vermutet (aus Reue über ihr sündiges Leben), sondern weil sie ganz allein ist und gehofft hatte, in der Kirche Teil einer Gemeinschaft sein, ein Gefühl der Zugehörigkeit erleben zu können. Wie um zu bestätigen, dass das eine Illusion war, ging vorher, in der Kathedrale, ein Priester vorbei, um die stumme, von Mason sofort verstandene Botschaft auszusenden, dass man das Gotteshaus verlassen möge, weil geschlossen wird. Erst braucht man eine Eintrittskarte, um hineinzukommen, wenn man einmal drin ist, hat man die Verhaltensregeln zu beachten und peinliche Gefühlsausbrüche zu unterlassen, und die Öffnungszeiten sind sakrosankt. Die schöne Idee von der christlichen Heilsbotschaft und der Religion der Nächstenliebe ist damit abgehakt. Wer in den Sternen am Firmament, mit denen der Weihnachtsurlaub endet, eine christliche Symbolik entdecken will, tut das auf eigene Verantwortung.
Siodmak-Filme sind von der Überzeugung getragen, dass man die Gegenwart nicht verstehen kann, ohne die Vergangenheit zu kennen. Darum sagt die Hure ihrem Kavalier, dass "Jackie Lamont" ein angenommener Name ist. In Wirklichkeit heißt sie Abigail Manette, geborene Martin und ist die Frau des Mörders Robert Manette, dessen Todesurteil in lebenslange Haft umgewandelt wurde und der seit zweieinhalb Jahren in Angola einsitzt, dem berüchtigten Staatsgefängnis von Louisiana. Mason wirkt fragend, scheint von einem Robert Manette noch nie etwas gehört zu haben. Also erzählt ihm Abigail jetzt ihre Geschichte. Das geschieht in mehreren Rückblenden - ein Verfahren, das Drehbuchautor Mankiewicz zusammen mit Orson Welles bereits in Citizen Kane erprobt hatte. Dort berichten mehrere Figuren von ihrer Begegnung mit Charles Foster Kane, und so entsteht das vielschichtige, Widersprüche zulassende Portrait einer komplexen Persönlichkeit. In Christmas Holiday ist es nur Abigail alias Jackie, die erzählt, aber sie tut es nicht in der chronologischen Reihenfolge der Ereignisse.
Das ist ein geschickter Kunstgriff, der bei den Kritikern auf Ablehnung und Unverständnis stieß. Crowther gab die Richtung vor, als er erklärte, die Rückblenden seien ermüdend und zu lang. Weiter darüber nachzudenken hielt er für verzichtbar. Seine Kritikerkollegen sahen es offenbar genauso. Das ist schade, weil in der Erzählstruktur eine der wichtigsten Aussagen des Films enthalten ist. Das Propagieren einer manichäischen Weltsicht war Siodmaks Sache nicht, auch nicht zu einer Zeit, als amerikanische Soldaten gegen die Truppen eines Regimes in den Krieg zogen, das einem sehr wohl wie die Verkörperung des Bösen auf der Welt erscheinen konnte. Die Binnen- und die Rahmenhandlung spiegeln sich auf eine Weise, die eine saubere Trennung zwischen den Guten und den Bösen sehr schwierig macht. Versinnbildlicht wird das in der Gestalt von Deanna Durbin, die in der Rahmenhandlung eine Hure ist und in der Binnenhandlung ihre alte Leinwand-Persona verkörpert, das süße Mädel von nebenan und die Unschuld vom Lande (Abigail Martin kam mit 16 aus Vermont nach New Orleans).
Die Provokation war nicht, dass Durbin in Christmas Holiday eine Prostituierte spielt. Das hätte man unter "einmalige Verirrung" oder "Fehlbesetzung" abhaken können. Die Provokation war, dass sie in ein und demselben Film die Jungfrau und die Hure ist und man nicht genau weiß, wo die eine aufhört und die andere anfängt. Heutige Programmgestalter lösen das Problem auf ihre Weise. Bei Durbin-Retrospektiven wird Christmas Holiday meistens weggelassen. Dabei ging es Siodmak nicht darum, das makellose Image des einstigen Kinderstars zu beschmutzen und damit Kasse zu machen, das süße Mädel in die Kleider von Sadie Thompson zu stecken. Er rüttelt vielmehr an einer uralten, tief in unserer Kultur verwurzelten Figurenkonstellation, ohne die viele Filmplots nicht funktionieren würden: die ziemlich gnadenlose Einteilung der Frauen in Jungfrauen oder Huren. Abigail Martin alias Abigail Manette alias Jackie Lamont ist beides, sagt Christmas Holiday: die Jungfrau Maria und Maria Magdalena. Siodmak führt da etwas fort, das er schon in Phantom Lady thematisierte, beim Auftritt von Ella Raines als Hure Jeannie.
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