Cognitive Warfare – die Nato und das "gehackte" Individuum

Unsere Datenspuren im Internet dienen als Anhaltspunkt für die Einflussnahme auf Gedanken und Gefühle. Symbolbild: Gerd Altmann auf Pixabay (Public Domain)

"Fortschrittlichste Form der Manipulation": Wie der Militärpakt das Bewusstsein jedes einzelnen Menschen zum neuen Schlachtfeld erklärt.

Die seit Jahren steigenden Rüstungsausgaben der Nato-Länder haben 2021 ein neues Rekordniveau erreicht. Gleichzeitig mit der Militarisierung steigt die Verfügbarkeit verschiedener, sich teils widersprechender Informationen – was dazu führt, dass immer mehr Menschen ihre Regierungen und auch die Nato kritisch hinterfragen. Für diese ist das eine gefährliche Entwicklung, denn mit dem schwindenden Vertrauen verringert sich auch deren Macht.

Zugleich verfolgen geopolitische Gegenspieler wie Russland und China eigene Interessen – und mit dem Verweis auf deren Propaganda führt die Nato ihren eigenen Informationskrieg.

"Cognitive Warfare" oder Gedankenkrieg gibt es freilich von Seiten der Nato nach ihrer Lesart nur als Reaktion. Als "Countering Cognitive Warfare" wird das eigene Vorgehen beschrieben. Diese neue Art der Kriegsführung sei nötig, da auch Russland und China ihrerseits "Cognitive Warfare" betreiben, argumentiert die Nato – sie selbst müsse den feindlichen Gedankenkrieg neutralisieren.

Dennoch richtet sich ihr Fokus nicht nur auf Verteidigung, sondern auch auf Angriff, und nicht nur auf eine fremde, sondern auch die eigene Bevölkerung. So möchten Nato-Strategen die "menschliche Sphäre" zum Schlachtfeld machen und Gedanken und Gefühle lenken. Das bedeutet, dass der Verstand jedes einzelnen Menschen im Visier der neuen Kriegsführung steht.

Steigende Ausgaben für Rüstung und PR

Rüstungsausgaben und Werbekosten erreichen ein neues Rekordniveau. Die Militärausgaben aller Länder des Nato-Bündnisses steigen seit mehreren Jahren an und erreichten im Jahr 2021 mit rund 1,175 Billionen US-Dollar einen neuen Höchststand. Alleine die USA gaben über 800 Milliarden für ihren Rüstungsetat aus, damit gibt die US-Regierung für ihr Militär mit Abstand am meisten Geld aus. China liegt auf Platz zwei mit 293 Milliarden US-Dollar.

Auch die deutsche Regierung unter dem Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Rüstungsausgaben erhöht und im Februar 2022 beschlossen, 100 Milliarden "Sondervermögen" für die Bundeswehr auszugeben. Dafür musste im Juni das Grundgesetz geändert werden, sonst dürfte die Regierung solche Rüstungsausgaben gar nicht beschließen.

Natürlich möchten westliche Regierungen und die Nato nicht, dass diese hohen Rüstungsausgaben und die voranschreitende Militarisierung von der Öffentlichkeit allzu scharf hinterfragt werden. Wie die Nato wahrgenommen wird, "ist immer relevant und kann einen direkten Einfluss auf den Erfolg von Nato Operationen haben", schreibt der Nato-Think-Tank StratCom.

Daher investieren sowohl Regierungen als auch die Nato massiv in "strategische Kommunikation" und damit in die Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Im Gegensatz zu den Rüstungsausgaben ist der Bereich der Public Relations oder Propaganda vergleichsweise billig, wie StratCom in einer Studie kürzlich herausfand. Dennoch gab die deutsche Bundesregierung 150 Millionen Euro für Werbung allein im Jahr 2020 aus.

Das "zivile Budget" der Nato, das ebenfalls zum Teil in PR fließt, ist mit 289,1 Millionen Dollar für das Jahr 2022 noch höher angesetzt.

Schwindendes Vertrauen in Regierungen, Institutionen und die Nato

Seit einigen Jahren zeigt sich jedoch, dass die Bemühungen der Regierungen und der Nato um das Vertrauen der Menschen immer weniger Erfolg haben. Das liegt auch daran, dass sich gleichzeitig mit einem Voranschreiten der Militarisierung immer mehr Menschen unabhängig und eigenständig informieren.

Das führt dazu, dass diese Menschen beginnen, die hohen Rüstungsbudgets ihrer Regierungen zu hinterfragen und daran zu zweifeln, dass immer mehr Geld für die Nato zu mehr Frieden auf dieser Welt führen soll. "Das Vertrauen in die Nato ist in Frankreich, Deutschland und den USA stark zurückgegangen", schreibt die europäische Nachrichtenseite Euractiv unter Bezugnahme auf eine Studie aus dem Jahr 2020.

Diese ergab nicht nur, dass das Vertrauen in die Nato in einigen Ländern stark gesunken ist, sondern dass auch immer weniger Menschen möchten, dass ihr Land ein von Russland angegriffenes Nato-Mitglied verteidigen sollte.

Damit stellen die Menschen aber den für die Nato ganz zentralen Artikel 5, welcher den Bündnisfall regelt, in Frage, was für die Nato eine potentielle Gefahr darstellt. Mit dem Bündnisfall ist gemeint, dass ein Angriff auf ein Land, das Mitglied der Nato ist, als Angriff auf alle Nato-Länder angesehen wird, und dass alle Nato-Länder dem angegriffenen Land in einer "kollektiven Verteidigung" gemeinsam beistehen.

Die Regierungen leiden unter einem ähnlichen Vertrauensverlust. So beobachtete das jährlich konstatierte das "Trust Barometer" von Edelman, einer sehr großen PR-Agentur, bereits im Jahr 2017 eine "Kernschmelze des Vertrauens". Im Jahr 2021 fand Edelman heraus, dass in fast jedem der untersuchten Länder das Vertrauen der Bevölkerung in die jeweilige Regierung zurückging.

Die Corona-Krise scheint diesen Trend noch verstärkt zu haben, wie Klaus Schwab, der Vorsitzende des Weltwirtschaftsforums WEF, vor kurzem feststellte: "Heute aber haben viele Menschen das Vertrauen in Institutionen und deren Führungskräfte verloren" erklärte er – und fügte hinzu, dass einige daher "mit dem Finger auf unfähige politische Führer" zeigten oder "Vorstandsvorsitzende" beschuldigten.

Dieser Mangel an Kriegsbereitschaft und Vertrauen ist auch für die Nato ein großes Problem. "Es gibt weniger Vertrauen in unsere Institutionen" beklagte sich der Generalsekretär der Nato, Jens Stoltenberg, in einer Rede im Dezember 2021.

Für ihn steht fest, dass der Grund für den Vertrauensverlust nicht etwa illegale Angriffskriege oder die immens hohen Militärausgaben der Regierungen sind. "Bösartige Cyberwaffen" und "Propaganda und Desinformation" von "autoritären Regimen" sind schuld, gibt sich Stoltenberg sicher.

Wer genau damit gemeint ist, wird in der Rede nicht klar, aber schuld sind fremde Mächte. Für die Nato stellt dieser Vertrauensverlust eine elementare Gefahr dar – weil, wie StratCom schreibt, von der Meinung der Öffentlichkeit am Ende der Erfolg ihrer Operationen abhängen kann.

Die Nato macht sich daher große Sorgen um die "heimtückische Gefahr" von "aufrührerischen Erzählungen", die das Vertrauen der Bürger in die demokratischen Institutionen beschädigen könnten.

Das möchte die Nato nicht länger hinnehmen und reagiert. Dafür eskaliert sie einmal mehr die Spirale aus Angst, Gewalt und Wettrüsten und bereitet sich auf den Kriegseinsatz auf einem scheinbar völlig neuen Schlachtfeld vor: der "menschlichen Sphäre".

Damit führt die Nato ihre bisherige Propaganda und den sogenannten Informationskrieg konsequent weiter und entwickelt neue, noch extremere Manipulationstechniken.

Die "Hyper-connectivity" als Chance

Diese Manipulationstechniken fasst die Nato unter dem Begriff "Cognitive Warfare" zusammen und nutzt dabei die Tatsache, dass immer mehr Menschen das Internet immer öfter nutzen, auch zu ihrem Vorteil aus.

Die "Informationsrevolution" hat folglich für die Nato nicht nur Nachteile, sie hat auch Vorteile und schafft ganz neue Möglichkeiten zur Beeinflussung der Menschen. Der Grund liegt darin, dass wir alle intensiv das Internet nutzen, ob mit dem Smartphone, über Apps, den PC oder Laptop. Und ganz egal, ob wir dabei einen Zeitungsartikel lesen, shoppen oder nur den Wetterbericht abrufen, wir hinterlassen dabei eine für uns unsichtbare Spur und geben Informationen über uns preis, die ein geschulter digitaler Spurenleser sammeln und auswerten kann.

Uns ist dabei oft nicht bewusst, dass wir durch das Internet viel durchschaubarer werden und viel mehr Informationen über uns selbst offenlegen, als wir denken.

Die US-Wirtschaftswissenschaftlerin und emeritierte Professorin Shoshana Zuboff erklärt das wie folgt: Wenn wir das Internet nutzen, dann hinterlassen wir immer zwei "Texte" über uns, einen uns bekannten, und einen "Schattentext", dessen Anhäufung und Analyse mehr über uns aussagt, als wir sogar selbst über uns wissen.

Je mehr Dinge wir online tun und je mehr die Digitalisierung vorangetrieben wird, umso schwieriger wird es, "und vielleicht sogar unmöglich, nicht zu diesem Text beizutragen", schreibt Zuboff in "Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus" auf Seite 218 der deutschen Ausgabe.

Mit den richtigen Mitteln ist es nun möglich, diese vielen Informationen zu sammeln, auszuwerten und am Ende das Verhalten jedes Menschen ganz individuell "zu formen und zu justieren", also zu beeinflussen.

Nicht jeder kann dabei als Spurenleser arbeiten, sondern es sind nur ganz wenige Spezialisten, eine "Priesterschaft privat angestellter Computerspezialisten [und ihrer] privaten Maschinen", wie Zuboff es beschreibt. Sie können die "hyper-connectivity", also die Tatsache, dass fast jeder Mensch ein Smartphone besitzt und täglich im Internet surft, nutzen, um Kenntnis über die Gedanken und Gefühle der Menschen zu bekommen, diese zu lenken und das zukünftige Verhalten der Menschen vorherzusagen.

Genau davon macht auch die Nato Gebrauch und stützt sich auf die extreme Verbindung der Menschen zum Internet als eine zentrale Säule ihrer kognitiven Kriegsführung. Dazu veröffentlichte der Nato-nahe Think-Tank Innovation Hub im Jahr 2020 das Dossier "Cognitive Warfare", das die Nato begeistert aufgriff und im Herbst 2021 einen Innovationswettbewerb ausschrieb, in dem Bewerber aus aller Welt ihre Lösungen zur Führung des Gedankenkrieges vorstellen konnten. Andere Dossiers und Strategiepapiere, in denen Strategien zum Gedankenkrieg weiter ausgearbeitet wurden, folgten kurz darauf.

Grundlegendes Ziel des Cognitive Warfare ist das Vertrauen jedes Einzelnen

Nachdem die Nato den Vertrauensverlust der Bürger in ihr Bündnis und in demokratische Institutionen als ein Problem für sie erkannt hat, ist es ein großes Ziel der kognitiven Kriegsführung, dieses Vertrauen zurückzugewinnen. Die Nato braucht das einerseits, weil ein Mangel auch ihren Erfolg auf dem Schlachtfeld gefährden kann, andererseits, weil es wichtig ist, die Menschen kontrollieren zu können.

Die Strategen des Nato Innovation Hubs wissen das sehr genau. So beklagen die Autoren des Aufsatzes "Nato’s Sixth Domain of Operations" eine "ständige Erosion der Moral der Öffentlichkeit". Sie glauben genau wie Jens Stoltenberg, dass die Gegner der Nato schuld daran sind, dass Menschen in den Nato-Ländern an der Nato Zweifel haben.

Daher ist Vertrauen das übergeordnete Ziel des "Cognitive Warfare", und zwar das Vertrauen von "Einzelpersonen genauso wie Gruppen, politischen Bündnissen und Gesellschaften". Damit wird deutlich, dass auf diesem neuen Kriegsschauplatz jeder Einzelne ins Visier der Nato geraten kann.

Der Hauptverantwortliche für die Entwicklung der Forschung am Innovation Hub, François du Cluzel, beschreibt es auf Seite 6 der Broschüre "Cognitive Warfare" so: Die kognitive Kriegsführung "zielt auf das gesamte Humankapital einer Nation". "Sie sind das umkämpfte Gebiet, wo auch immer Sie sind, wer auch immer Sie sind" stellen die Autoren eines entsprechenden Strategiepapiers fest.

Hard Power und Soft Power

Es mag ungewöhnlich erscheinen, dass sich ein Militärbündnis so für ein Thema interessiert, das zunächst nichts mit herkömmlichen Waffen wie Panzern oder Flugzeugen zu tun hat. Üblicherweise hat jede Armee als eine Kernaufgabe das Ausüben von sogenannter "Hard Power", also militärischer Gewalt. Die Kriegsschauplätze sind daher dort zu finden, wo Kampfjets fliegen, wo Panzer und Schiffe fahren und seit Neuestem auch dort, wo Satelliten oder Raketen fliegen.

Auch das Internet ist wichtig, denn der Cyberspace verbindet all diese Kriegsschauplätze miteinander, wie bereits auf Seite 1 des "Cognitive Warfare Concept" des Innovation Hub festgestellt wird.

Die Nato hat folglich für sich fünf Kriegsschauplätze festgelegt, auf denen gekämpft wird: zu Wasser, zu Lande und in der Luft sowie im Internet oder "Cyberspace" (offiziell seit 2016) und im Weltraum (seit 2019).

Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, was mit Wasser oder Land gemeint ist, und wie eine Armee auf diesen Kriegsschauplätzen kämpft. Soldaten fahren einen Panzer, lenken ein Flugzeug oder steuern ein Schiff. Dabei kann man leicht vergessen, dass es neben dem Ausüben von "Hard Power" noch ein zweites, mindestens genauso wichtiges Aufgabenfeld jedes Militärs gibt, nämlich den Bereich der "Soft Power".

Anders als bei Hard Power geht es hier nicht um direkte Gewalt, sondern um oft unbemerkte Manipulation. "Soft Power ist die Fähigkeit, andere zu überzeugen, das zu tun, was du willst, ohne dass du Gewalt oder Zwang anwendest", erklärte bereits 2004 der US-Politikprofessor Joseph Nye in seinem Buch "Soft Power: The means to success in world politics" (S. 11).

Zu einem Krieg mit Waffen gehört daher immer auch ein Informationskrieg. Es ist nicht neu, dass auch die Bevölkerung und ihre Meinung Ziel des Militärs sind. "Dass wir die Schwächen der menschlichen Natur ausnützen, um den Verstand von Einzelnen besser erreichen zu können, ist keine neue Idee", gibt der französische General André Lanata offen zu.

Damit beschreibt er nicht nur, wie der Gedankenkrieg funktioniert, sondern wie Kriegspropaganda schon immer funktioniert hat. Ein Beispiel für klassische Kriegspropaganda ist der amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, der im Jahr 1979 die afghanischen Mujaheddin in ihrem Kampf gegen die Sowjetunion anstachelte: "Euer Kampf ist gerecht und Gott ist auf eurer Seite!" verkündete er einer Gruppe afghanischer Kämpfer, und forderte sie auf, sich ihr Land und ihre Moscheen zurückzuholen.

Je größer das Wissen um Soft Power wurde, zum Beispiel durch psychologische Forschung, desto ausgefeilter wurden die Methoden der Kriegspropaganda. Noch vor der Jahrtausendwende verstand das US-Militär als erstes die Bedeutung des sogenannten "Informationskrieges", und schon im Jahr 1996 warnten US-Strategen vor der großen Bedeutung, die dem Informationskrieg und der Kontrolle von Wissen in den folgenden Jahrzehnten zukommen sollte.

Im Jahr 2000 veröffentlichte das Joint Chiefs of Staff, ein Zusammenschluss der höchsten Generäle des Verteidigungsministeriums im Pentagon, die "Joint Vision 2020".

In diesem Strategiepapier wurden die grundlegenden Themen und Ziele für das Pentagon in den kommenden Jahren besprochen und die Autoren forderten eine "Full Spectrum Dominance" des U.S. Militärs, also eine möglichst totale Vorherrschaft auf allen Kriegsschauplätzen. Dabei stellen sie fest, dass neben der Dominanz zu Wasser, zu Land, in der Luft und, schon damals aufgeführt, im Weltall, auch die Vorherrschaft im Bereich der Informationen wichtig ist.

Das bedeutet auch, dass das Militär darüber bestimmen kann, welche Informationen der Bevölkerung zugänglich gemacht werden und welche nicht.

Die Weiterentwicklung des Informationskrieges

Seit dem Jahr 2000, als die Joint Vision 2020 herausgegeben wurde, haben sich nicht nur die konventionellen Waffen weiterentwickelt, sondern auch die Kriegspropaganda und die Waffen im "Informationskrieg" sind immer weiter verbessert worden.

Im Kampf um die "Hearts and Minds", also die Herzen und Köpfe der Bevölkerung machte die Nato nun den nächsten großen Schritt.

Obschon der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg noch im Jahr 2020 vor einer "Militarisierung des Weltraums" warnte angesichts der Aufnahme des "Weltraums" als fünfter Kriegsschauplatz, beschäftigte sich die Nato fast gleichzeitig schon mit einem weiteren neuen Kriegsschauplatz: den Gedanken und Gefühlen jedes einzelnen Menschen.

Sie spricht dabei von "kognitiver Kriegsführung", stellt diese zunächst als reinen Abwehrkampf dar und überlegt nun, ob dieser neue Kriegsschauplatz, die "menschliche Sphäre", zum sechsten Schlachtfeld der Nato erklärt werden soll.

Wieso die Nato neben dem "Cyberspace", den sie schon als Kriegsschauplatz ausgerufen hat, auch noch Cognitive Warfare braucht, was ebenfalls unter anderem auf dem Internet basiert, wird allerdings in den Ausführungen der Strategen nicht ganz klar.

Cognitive Warfare als "fortschrittlichste Form der Manipulation"

Der Gedankenkrieg der Nato ist dabei eine konsequente und sehr extreme Weiterentwicklung des Informationskriegs und damit "die fortschrittlichste Form der Manipulation, die es heute gibt", wie Marie-Pierre Raymond, eine Verteidigungsexpertin, in einem Webinar der Nato schwärmt.

"Die Zeiten sind lange vorbei, an dem Kriege geführt wurden, um mehr Land zu gewinnen. Heute ist das neue Ziel, die Ideologien des Gegners zu verändern, was das Gehirn zum Dreh- und Angelpunkt des Menschen macht.“ Damit wird "der Verstand [...] zum Schlachtfeld", erklärt Raymond.

Um auf diesem Schlachtfeld zu kämpfen, schlagen die Strategen vor, die Bedeutung der zwei "Texte", die wir im Internet hinterlassen, auszunutzen. Wie man mit Hilfe der Informationsrevolution den Menschen auf bisher nie dagewesene, höchst aufwändige Weise manipulieren möchte, wird ausführlich in den Dossiers erklärt:

All die Informationen, die wir unbewusst hinterlassen, kann man sammeln und auswerten. "Man kann Big Data gut als Hebel nutzen, um die Art und Weise, wie du denkst, zu verändern", stellt du Cluzel, der die Arbeit von Shoshana Zuboff gut kennt, fest.

Wie eingangs schon festgestellt wurde, hat die Informationsrevolution zwei Seiten. Auf der einen Seite ermöglicht sie es den Menschen, sich frei und unabhängig zu informieren. Auf der anderen Seite werden wir durch die vielen Informationen, die wir unbewusst über uns preisgeben, immer gläserner und durchschaubarer.

Mit all den Daten über uns kann man mit Hilfe von künstlicher Intelligenz ein Persönlichkeitsprofil von uns erstellen. "Das Smartphone, ist ein gewaltiger psychologischer Fragebogen, den wir konstant bewusst und unbewusst ausfüllen", erklärt der Psychologe Michael Kosinski.

Jede Information über uns wird so zu einem weiteren möglichen Faden, den man mit geschickter Propaganda greifen und an dem man ziehen kann, um uns zu lenken. Am Ende hängt man an so vielen Fäden, dass das Denken, Fühlen und Handeln wie bei einer Marionette von außen gesteuert werden kann.

Das gelingt nicht immer, aber die kognitive Kriegsführung kann im Idealfall den Menschen wie einen Computer "hacken", wie es auf Seite 7 der Innovation-Hub-Broschüre "Cognitive Warfare" unter der Überschrift "Hacking the individual" heißt.

Besonders schockierend ist, dass die kognitive Kriegsführung in diesem Kampf nicht bei den Gedanken und Gefühlen der Menschen haltmacht. Man möchte so weit kommen, dass man bei den Mensch Krankheit, Behinderung oder Leid hervorrufen und potentielle Gegner "neutralisieren" und deren Tod herbeiführen kann – was natürlich zunächst vor allem dem Gegner unterstellt, aber eben auch zum Anlass genommen wird, entsprechende Kenntnisse weiterzuentwickeln.

Die Waffen dazu kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Nicht nur psychologische Forschung, sondern auch die Neurowissenschaften werden immer stärker mit einbezogen.

Nanotechnologie, Biotechnologie, Informationstechnologie und Kognitionswissenschaften, kurz NBIC, sind die Wissenschaften, die im Gedankenkrieg die Waffen bereitstellen und gemeinsam einen "sehr gefährlichen Cocktail" ergeben, "der das Gehirn noch mehr manipulieren kann".

Damit ergibt sich nicht nur ein neues Schlachtfeld, sondern die Militarisierung hält auch in der Gehirnforschung Einzug. Das ist bedenklich, denn so werden auch Wissenschaften, die mit dem Militär eigentlich gar nichts zu tun haben, in die kognitive Kriegsführung der Nato einbezogen.

All das findet du Cluzel jedoch nicht bedenklich, sondern er empfiehlt ausdrücklich den Gedankenkrieg als "eines der heißesten Themen für die Nato im Moment".

Im Fokus des Nato-Innovationswettbewerbs

Eine konkrete Vorstellung davon, wie und mit welchen Technologien im Gedankenkrieg gearbeitet wird, gaben die zehn Kandidaten im Finale des Nato-Innovationswettbewerbs 2021, der in Kanada gehostet wurde. Acht der zehn Kandidaten haben ein ähnliches Konzept: Sie haben Computerprogramme entwickelt, die mit Hilfe von künstlicher Intelligenz große Datenmengen im Internet scannen und analysieren können, um so die Meinungen, Gedanken und den Informationsaustausch der Menschen besser überwachen und vorhersagen zu können.

Das beliebteste Ziel der Computerprogramme sind immer die sozialen Medien: Facebook oder Meta, Twitter, Tik-Tok, und seit kurzem auch Telegram stehen im Fokus.

Das Team, das den zweiten Platz belegt, hat verstanden, um was es geht: Vertrauen steht im Zentrum, betonen die Entwickler, die mit Hilfe von Big Data Analysen und Maschinenlernen das Internet überwachen wollen.

Der Gewinner ist das Unternehmen Veriphix, dessen Gründer John Fuisz ihr Konzept vorstellt. Sie haben ein Frühwarnsystem entwickelt, das "nudges", also kleine psychologische "Schubser", sammelt, erkennt und auswertet. Genau wie bei Propaganda geht es bei diesen kleinen Schubsern um ständige Wiederholung.

Nur, was immer wiederholt wird, das hat Einfluss darauf, was Menschen am Ende glauben. Das System verfolgt auch, wie sich die Gedanken und das, was Menschen über ein bestimmtes Thema glauben, verändern. Das können ganz unterschiedliche Themen sein wie Klimasicherheit oder Covid-19, erklärt Fuisz.

Am besten passiert diese Analyse so schnell, dass ihr System Alarm geben kann, noch bevor sich diese Gedanken in konkreten Handlungen, wie beispielsweise Demonstration oder Protesten auf der Straße für alle sichtbar zeigen.

Auch wenn solche Beschreibungen für viele Menschen unrealistisch klingen oder schwer vorstellbar sind, ist es wichtig zu verstehen, wie aktuell das Thema ist: Das Programm sei "jetzt schon im kommerziellen Einsatz", freut sich John Fuisz und fügt hinzu, dass Verifix seit 2016 schon in acht Fällen, die mit der Regierung in Bezug standen, getestet worden sei.

Darunter sind beispielsweise Wahlen in den USA sowie Proteste gegen die Corona-Maßnahmen. Eine Liste seiner Partner zeigt das Unternehmen Nike sowie die US Air Force, aber Fuisz möchte in der Öffentlichkeit lieber nicht näher über seine Kunden sprechen.

Bemerkenswert ist auch der Gewinner des dritten Platzes. Das Team stellt ein System vor, bei dem es nicht um Maschinenlernen oder Big Data geht, sondern das im Kriegsfall eingesetzt werden soll.

Für seine Präsentation wählt das Team ein interessantes Szenario: Man geht von einem Einmarsch Russlands in der Ukraine aus, und erklärt ein System, mit dem man die russische Kommunikation hacken könnte, "wenn man in solch einem Fall arbeiten würde". Damit könnte man die russische Artillerie bekämpfen und die russischen Systeme stören.

Der Wettbewerb war am 30. November 2021, die Invasion Russlands in der Ukraine erfolgte erst am 24. Februar 2022.

Beispiellose Gewaltspirale

Zur Erinnerung: eigentlich behauptet die Nato ein "Verteidigungsbündnis" zu sein, das "keine Konfrontation sucht". Zwei Jahre bevor sie 1949 gegründet wurde, verkündete der damalige US-Präsident Harry S. Truman: "Ich glaube, dass wir den freien Völkern dabei helfen müssen, ihr eigenes Schicksal auf ihre eigene Weise zu gestalten."

Doch die Nato-Länder haben sich nicht daran gehalten und immer wieder Kriege gegen andere Länder geführt, wie beispielsweise in Jugoslawien, dem Irak, Syrien oder Libyen. All diese Kriege haben zu vielen Toten und Leid geführt, trotzdem ist die Nato bis heute darum bemüht, als "Verteidigungsbündnis" angesehen zu werden und das Vertrauen der Menschen zu gewinnen.

Immer größere Zweifel der Bevölkerung an der Nato, die von US-Präsident Donald Trump als "obsolet" und von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron als "hirntot" bezeichnet wurde, haben diese nun veranlasst, auf drastische Weise zu reagieren.

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte plant die Nato, nicht nur ihre Gegner, sondern jeden Menschen und damit möglicherweise auch die eigene Bevölkerung ins Visier zu nehmen.

Der von ihr ausgerufene "Cognitive Warfare" benutzt neueste Techniken der Soft Power und Manipulation zur Bevölkerungskontrolle – damit nimmt das Militärbündnis auch jeden Einzelnen von uns als potentielles Ziel an.

Die Nato konnte durch ihre bisherigen Kriege keinen Frieden schaffen, und sie wird auch durch die Ausweitung ihres Kampfeinsatzes auf ein mögliches sechstes Schlachtfeld, unseren Verstand, keine friedlichere Welt hinterlassen.

Wir brauchen heute nicht noch mehr Manipulation und nicht noch mehr Kriege auf allen möglichen Kriegsschauplätzen. Wir brauchen vielmehr Aufklärung, einen offenen Umgang miteinander und ein echtes Bemühen um Frieden, zu Wasser, zu Land und in der Luft genauso wie in den Herzen und Köpfen jedes Einzelnen.