Coldcut: Let Us Play
Ninja Tune/Public Propaganda
Nach langer Stille in den Soundsystemen schieben Coldcut Material durch die Pipeline als wäre nichts gewesen. Noch mal schnell vor dem Millennium rekonfigurieren die Herren More und Black diverse Beats + Pieces, daß es eine Freude ist - just in dem Moment, als man schon vergessen hatte, was Sampling einmal bedeutet hat. "Let Us Play" ist vollgepackt mit Samples, Zitaten und Querverweisen, wie man das seit dem Jahr von Sampledelia 1987 so wohl nicht mehr gehört hat, und bringt die Errungenschaften revolutionären Diebstahls und die Politik der Rekombination kultureller Fragmente zurück auf den Plattenteller. Ist das die Tagesschau von vor zehn Jahren oder war die Berghoff in der Chirurgie?
Damals waren Coldcut die Protagonisten wilden Samplings und Scratchens und erfanden nebenbei die Praxis des Remixens. Coldcutprodukte kursierten als White Labels in Miniauflagen im Untergrund und eroberten mit Lisa Stansfield als Anchorwoman gleichzeitig die Heavy Rotation von Radio und MTV. Auch 1998 operieren Coldcut wie nur wenige andere sonst in der Grauzone zwischen Pop und experimentellem Underground.
"Let Us Play" hat für beide Welten die passenden Botschaften parat: Völlig aus der Fassung geratene Breakbeats und Metageräusche wie das krude Massebrummen eines Technics-Plattenspielers treffen auf Easy Listening und massenkompatible Trancesounds. Zwischendrin Samples en masse, die aus "Let Us Play" ein Hörspiel mit Querverweisen in alle erdenklichen Richtungen machen.
Als Säulenheiliger und Samplingtheoretiker avant la lettre referiert William S. Burroughs an verschiedenen Stellen programmatisch über die Techniken des cut-ups, während sich woanders der freundliche Quack-Systemsound von Apple unvermittelt materialisiert oder ein kaputtgescratchtes Peter-und-der-Wolf-Sample entfernte Erinnerungen aus dem Kinderzimmer evoziert. Solche Kombinationen erscheinen umso angebrachter, wenn man bedenkt, daß sich Leben inzwischen im Cyberspace abspielt - mit digitalem Geld und digitaler Arbeit, patentierten Genen und Royalty Fees für jedes Downloaden einer Mona Lisa. Da werden kleinste Schnipsel digitaler Information plötzlich zu hyperrealen Erscheinungen. Das nicht nur, weil Bill Gates sich die Rechte an Hunderttausenden von kulturellen Artefakten für seinen digitalen Supermarkt gekauft hat.
Über dieser internen musikalischen Politik der Piraterie digitaler Klangschnipsel haben Coldcut eine zweite Ebene eingezogen, die mittels Sprache funktioniert. Sprache als Spoken Word und als ausführliche Textdokumentation auf der Plattenhülle. Sprache als traditionelles Vehikel für Politik mit großem P. Über einem stolpernden Breakbeat agitiert hier tatsächlich Genosse Jello Biafra den Dancefloor:
"Big government is over. From now on instead of community you will be left in the marketplace!" ("every home a prison")
Biafra disst die Neue Weltordnung und den Terror der Ökonomie detailliert und macht Nebenschauplätze auf, wie die Konstruktion neuer Formen sozialer Kontrolle, die in Amerika unter dem plüschigen Signet der "Family Values" firmieren. Und dann gehts auch schon weiter im Text mit elektronischen Überwachungsstrategien, die sich prima mit der Kriminalitätsparanoia mediengesteuerter Suburbaniten vertragen: "Put your bracelets on, you're safer when you're watched!"
"Let Us Play" bringt mit dieser Kombination von avancierten Techniken der Soundmanipulation und textuellen Statements das Kunststück fertig, verschiedene soziale Realitäten organisch zu überblenden, die sich im Leben vieler junger Briten schon lange überschneiden. Wer einen illegalen Rave organisiert, steht auf der gleichen Seite der Barrikade wie die jungen Menschen, die Autobahnprojekte sabotieren und Bäume besetzen. Gegen alle diese Formen politischer Äußerungen, die den Clubabend selbstverständlich mit Aktivismus verbinden, hatte die Thatcher-Adminstration die Criminal Justice Bill installiert, die das Abspielen repetitiver Beats unter freiem Himmel genauso kriminalisiert wie eine Aktion gegen die Fuchsjagd. Auf den Innenhüllen von "Let Us Play" haben Coldcut die (Netz-)Adressen aller relevanten Gruppen abgedruckt, die die LP/CD so zum Infoladen der späten Neunziger werden lassen.
Vinylfetischisten ziehen allerdings eindeutig den kürzeren Spass. Die wegweisende CD-ROM zur Platte gibts nur im Doppelpack mit der CD und bringt neben einer Sammlung von Videoclips ein ganzes Packet von Minianwendungen auf den heimischen Desktop: Das Ninja Knowledge Modul fragt nach Popwissen, während das FunKit die Userin analog zu billigen Musikanwendungen Beats und Samples kombinieren läßt. Hier kann der Fan nochmal selbst mit den Beats + Pieces von Let Us Play rumprobieren. Mit Playtime liefern die Londoner dagegen die Demo eines avancierten interaktiven Musikprogramms ab, das über verschiedene Parameter verfügt, um einen Sack voller Schlagzeugschleifen und merkwürdiger Sounds manipulieren zu können. Das Coldcut A to Z ist analog dazu eine Enzyklopaedie der Neunziger von A wie "Atomic" bis "Zone of Zero funkativity (where ya don't want 2b)" aus Neologismen, die irgendwie noch gefehlt haben oder irgendwann von anderen erfunden worden sind. Neben solchen Wortschöpfungen von etwa Genesis P-Orridge werden alle Coldcuthelden von Lee Perry bis Kraftwerk aufgelistet. PicPump stellt sich schließlich in die gute Tradition eher kunstorientierter Anwendungen wie der Blind und der Anti ROM oder dem User Unfriendly Interface von Cmielewski/Starrs: Bilder und Sounds werden hier aufs kryptischste miteinander verbandelt und bringen das Motto der CD auf den fundamentalen Hoch/Tief/Punkt: Let Us Play. Wer sich hier auf Anweisungen von oben verläßt, hat das Spiel schon verloren, bevor es angefangen hat.
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