Computerspiele sind keine moralfreien Zonen
Ein Gespräch mit Andreas Rosenfelder über die künstlichen Paradiese der Computerspiele - Teil 2
Das "Allgemein-Menschliche", Gewalt, und alternative Geschichtsschreibung
Teil 1: Das Wilde, Anarchische der Computerspiele tritt in den Hintergrund
Kann man sagen, dass es Computerspiele gibt, die auch eindeutig europäischer oder asiatischer Herkunft sind? Ohne Einflüsse aus Amerika? Oder ist Amerika zumindest hier weiterhin das siegreiche Empire? Computerspiele scheinen insgesamt sehr amerikanisiert: Immer sind Amerikaner die Helden, die Guten, die durch und durch positiven Figuren. Die Szenarien folgen einer sehr schlichten Hollywood-Dramaturgie…
Rosenfelder: Auf jeden Fall, gerade die Kriegsspiele. Die haben auch heute noch den Reflexionsstand von Kriegsfilmen der 50er Jahre. Das sind alles Spiele, in denen ganz simpel das Gut-Böse-Schema durchgespielt wird.
Insgesamt ist die Welt der Computerspiele eine sehr amerikanische Welt, in der nicht viel in Europa entsteht. Aber es gibt schon besonders in Frankreich eine wachsende Entwicklerszene. Computerspiele werden ja in Frankreich auch als Kultur staatlich gefördert, nach diesem alten französischen Kulturverständnis, nachdem man eigene Kulturtechniken aktiv fördert, und man dann versucht, auch eine Gegenmacht zu Amerika aufzubauen. Durchaus auch mit Erfolg.
Es gibt gerade in Südfrankreich eine ganz interessante Entwicklerszene. Und es gibt dort in jedem Fall den Wunsch, eine eigene Ästhetik zu finden. Ich habe mal, darüber schreibe ich ja auch, einen französischen Entwickler kennengelernt, der jetzt in Kiew ein Entwicklerstudio leitet, und der mir gesagt hat: Er würde sehr gern mal ein Spiel über den Ersten Weltkrieg machen, in dem man nicht zum x-ten Mal dieses "Wir-befreien-Europa"-Schema durchspielen muss, sondern ein Spiel, das die ganze Absurdität dieses Krieges herausarbeitet: Die absurde Kriegslogik, die auf allen Seiten gegriffen hat, wo Erfahrungen einfließen, die vom Wahnsinn des Grabenkriegs geprägt sind. Das war sein Traum eines Opus Magnum. Ich weiß nicht, ob so etwas auf dem Markt dann Chancen hätte. Aber es gibt zumindest einzelne Pläne, dieses Hollywood-Schema aufzubrechen.
Und asiatische?
Rosenfelder: In Asien gibt es noch einmal eine ganz eigene Spieleszene. Da kenne ich mich nicht gut aus. Aber ich kenne einzelne Beispiele für eine ganz andere Spielkultur. Gerade die Japaner sind einerseits extrem verspielt - da kennt dann der Wahnsinn keine Grenzen. Da sind Sachen möglich, die bei uns undenkbar wären, aber die zum Teil auch sehr spannend sind: Manchmal denkt man, das ist total gaga, eine Infantilkultur, in der nicht mehr gesprochen wird, sondern nur irgendwelche Sachen quitschen oder diese ganzen Geschichten mit Tierchen-Figuren, die nach dem Kindchenschema designed sind.
Aber es gibt dann eben auch Spiele wie Katamari mit der großen Kugel: Das kommt in meinem Buch am Ende vor. Das war tatsächlich eines der tollsten Spiele, die ich je gespielt habe. Das handelt einfach davon, wie eine Kugel durch die Welt rollt. Und an der bleibt alles kleben, was kleiner ist, als sie selber. Dadurch wird die Kugel aber wiederum immer größer. Man fängt dann an in irgendeinem Kinderzimmer, rollt dann Buntstifte auf, kann dann aber später in irgendwelchen Straßen Hunde und Fußballe aufrollen, später dann irgendwelche Autos - und dann geht es halt immer so weiter, durch die ganze Welt: Man rollt Straßenzüge auf, dann kommt irgendwann der Eifelturm, Paris, Europa, bis am Ende der komplette Erdball aufgerollt wird, und man dann ins Universum weiterrollt.
Eine vollkommen absurde Handlung, in der auch keine richtigen Menschen vorkommen. Die hat auch keinen Plot oder eine Geschichte, ist aber wahnsinnig phantasievoll gemacht, und macht enorm Spaß. Das ist dann wirklich ein ganz eigener Denkstil.
Was spielt man da genau?
Rosenfelder: Man lenkt diese Kugel und man versucht, bestimmte Sachen aufzurollen. Da kommt dann alles vor, die Ölquellen. Aber auch Godzilla und fiktionale Wesen. Und so etwas ist nur in Asien denkbar - das man ganz von diesem Schema der Identifikation mit irgendwelchen Helden abweicht, von Plots wegkommt.
Weil Sie eben die Kriegsspiele erwähnt haben: Eine konkrete Nachfrage dazu: Es heißt immer wieder mal, dass Computerkriegsspiele und Ballerspiele dazu benutzt würden, für die real world Soldaten zu trainieren, Hemmungen abzubauen, fürs Töten zu konditionieren… Trifft das zu?
Rosenfelder: Es gibt dafür Anhaltspunkte, ja. Davon muss man ausgehen. Es gibt allerdings sehr verschiedene Versionen davon, wie das eingesetzt wird, und wie es bei den Betroffenen dann wirkt: Es gibt Spiele, die dazu eingesetzt werden, zukünftige Einsatzgruppen auf die reale Situation des Schießens vorzubereiten - damit alles leichter fällt, weil eine Situation nicht zum ersten Mal erlebt wird. Und dann wird es aber auch eingesetzt, um Kriegstraumata zu reparieren und zu überwinden.
Ich habe vor ein paar Jahren mal für die FAZ so ein Army-Spiel getestet. Das war von der US-Army entwickelt worden, Americas Army hieß das. Das spielte dann konkret an den Schauplätzen der neuen Kriege: In Afghanistan, im Balkan, es war nur etwas im Vagen gehalten.
Es wäre auch wohl Unsinn zu behaupten, dass es ein solches Abfärben von Spielen auf die reale Welt nicht gäbe. Es wäre naiv, hier plötzliche eine Kunstautonomie für die Spiele zu reklamieren, und zu argumentieren, alles was hier stattfindet, findet nur in der Welt der Spiele statt und die Spiele hätten keine Bezüge zur Außenwelt - das es nicht so ist, weiß jeder Spieler aus eigener Erfahrung.
Das gilt aber auch wieder ebenso für alle anderen Medien: Man kann sich vielleicht wissenschaftlich 50, 60 Splatterfilme angucken. Aber wenn man sich wissenschaftlich 50, 60 Splatterfilme anguckt, dann wird man merken, dass man dann ein paar Bilder von herumschleppt.
Aber wie wirken die? Hier müssen wir auf die Gewaltdebatte kommen: Bei Splatterfilmen wird der Betrachter nicht in gleicher Weise aktiv tätig, wie beim Computerspiel. Sie haben selbst gesagt: Identifikation sei hier Voraussetzung. Also wie wirken die? Stumpft es ab, macht es noch empfindlicher? Kann man, wenn man 100 Leute virtuell niedergemäht hat, in Bagdad auch leichter 100 Leute niedermähen? Ich bin mir da nicht so sicher…
Rosenfelder: Ich auch nicht. Generelle Thesen sind schwer. Ich habe es auch eher so erlebt, dass es ganz natürliche Gegenreaktionen gibt. Natürlich gibt es Fälle, bei denen das anders funktioniert, wo dieser Überdruß an Gewalt nicht entsteht. Meine persönliche Erfahrung ist die, dass in Phasen, in denen ich viel gespielt habe, der Überdruß dann irgendwann um so größer geworden ist. Das Bedürfnis wächst dann, andere Erfahrungen zu machen. Ich würde da schon auf eine Selbstregulierung des Bewusstseins vertrauen. Ich kenne aber auch Leute, die quasi berufsmäßig Counterstrike spielen. Die gewinnen da schon ein sehr nüchternes Verhältnis zu - geprägt von sehr technischem Vokabular. Ich glaube die Erlebnisintensität nimmt da eher ab.
Eben haben Sie "Spore" erwähnt. Kann man da sagen, dass das Computerspiel auch eine politische Agenda hat? Es hilft um Jugendlichen quasi spielerisch die Evolutionstheorie und ihre Gesetze zu vermitteln. In der Praxis könnte das ja als ein subversives Mittel wirken, um dem großen Einfluss der Kreationismus- und "Intelligent Design"-Fraktion intellektuell etwas entgegenzusetzen…
Rosenfelder: Das kann man so sehen. Das sind in jedem Fall Spiele, die ein Weltbild vermitteln. Ich weiß nicht, wie die Evangelikalen auf "Spore" reagiert haben, ob es Proteste gab? Oder ein "Gegenspiel"… Es gibt jedenfalls auch eine Menge sogenannter "God Games", in denen der Spieler eine quasi-göttliche Perspektive einnimmt - kompatibel mit einem fundamentalistischen Weltbild. Man findet im Spiele-Bereich zu allem immer auch das Gegenteil. Klar: Das Medium Computerspiele ist wahrscheinlich wirkungsvoller, um gegen bestimmte ideologische Trends - wie Kreationismus - einzugreifen als mit Unterrichtseinheiten. Und Darwins Evolutionstheorie zur Mainstreamgeschichte zu machen.
Das bewegt sich ja auch in der Nähe zum Lernen per Simulation - wie das etwa in der Internationalen Politik sehr üblich ist. Man lernt etwas oft besser und leichter über Rollenspiele…Wie sieht das eigentlich bei politischen Simulationsspielen oder historischen - auch Kriegssimulationen -aus? Wie eng oder wie frei sind sie gegenüber der Realität? Also: Kann man den Zweiten Weltkrieg für Deutschland gewinnen? Kann man Hitler spielen, und den Russlandfeldzug erfolgreich abschließen?
Rosenfelder: Das ist meistens verboten. Es gibt zum Beispiel ein Spiel, Company of Heroes heißt das, da geht es um den D-Day, die alliierte Invasion in der Normandie. Da kann man im Multiplayer-Modus dann die Deutschen spielen - denn es braucht ja einen Gegner. Aber man ist dann in einem Level festgefroren. Wer die Entwicklung, die verschiedenen Phasen der Invasion, durchspielen will, kann das nur auf Seiten der Amerikaner.
Also alternative Geschichtsschreibung, die von Historikern verschiedentlich ausprobiert wurde, und was ja in der Literatur jetzt auch gang und gäbe ist, man denke an Christian Kracht jetzt in seinem neuen Roman - dafür gibt es in der Welt der Computerspiele keine Entsprechung.
Dort herrscht eine geradezu altmodische Faktentreue. Eine Faktenideologie sozusagen. Nicht anders als irgendwelche Veteranen, die dann mit irgendwelchen Spielsoldaten ihre eigenen Schlachten nachstellen, und sich freuen, das alles möglichst ähnlich ist, sich um die genaue Farbgebung irgendwelcher Wimpel streiten - so wird auch in Computerspielen an die Wirklichkeit herangegangen.
Ich habe das mal im Fall von eben "Company of Heroes" selbst erlebt, weil ich mit einer Gamergruppe in der Normandie war. Dort wurde dieses Spiel am Originalschauplatz präsentiert. Und die Gamer kannten diese Strände! Obwohl sie noch nie dort waren. Die haben dann Gespräche von der Art geführt: "Hier da hinter diesem Hügel steht immer mein Jeep" - "Dort drüben ist ein Maschinengewehrnest" - "Wenn man da unten langfährt kommt man da und da raus." Die kannten das Gelände, obwohl sie noch nie da gewesen waren, genau so gut, wie irgendwelche 80-jährigen Veteranen. Was schon auch etwas absurd ist.
Aber was spiele ich da genau, wenn ich meinetwegen als Montgomery die Allierten kommandiere? Ich kann es wahrscheinlich schlechter, verlustreicher, dümmer machen, als es in Wirklichkeit geschah, und vielleicht auch besser. Aber kann die Invasion scheitern?
Rosenfelder: Ja, sie kann scheitern. Und dann muss man in der Regel noch mal von vorn anfangen, bis man es schafft - wie das ja bei Computerspielen immer der Fall ist.
Da sind wir dann ja schon nahe dran an der alternativen Geschichtsschreibung.
Rosenfelder: Das stimmt, ja. Es gibt ja das ganze Genre der Simulationsspiele - "Wirtschaftsmanager", "Fußball-Manager" und so -, die ja auch so funktionieren, dass man dann kontrafaktisch Arminia Bielefeld zur deutschen Fußballmeisterschaft führt, oder so - das wäre dann auch eine Form von alternativer Geschichtsschreibung.
Computerspiele kommen in deutschen Qualitätsmedien bislang immer nur im Zusammenhang mit einer neuen Killerspieldebatte vor. Wie ist da Ihre Position?
Rosenfelder: Ich versuche, darzulegen, dass es kein Computerspiel völlig ohne Moral gibt. Computerspiele sind keine moralfreien Zonen. Auch die schlimmsten Computerspiele bauen noch Rechtfertigungsstrukturen für das Handeln der Spieler auf. Selbst in Killerspielen tötest Du nicht einfach so. Sondern einen Gangster, einen Korrupten - es gibt immer eine Rechtfertigung für Gewalt. Weil es wahrscheinlich keinen Spaß machen würde, das einfach so zu spielen, völlig grundlos. Wie dürftig auch immer - es gibt eine Legitimation.
Aber so etwas wie Moorhuhnjagd auf Menschen übertragen gibt es doch bestimmt auch…
Rosenfelder: Das gibt es auch, ja. Aber das sind Randerscheinungen, die nicht wirklich erfolgreich sind. Das ist schnell langweilig. Computerspiele funktionieren da eher wie Kinofilme: Man erwartet eine Art von poetischer Gerechtigkeit. Das wurde mir kürzlich bei den Frankfurter Römerbergesprächen von dem Kriminologen Christian Pfeiffer vorgehalten, der hat sehr primitiv argumentiert: "Rosenfelder will uns weismachen, dass alle Spiele moralisch seien" - so ein Quatsch!
Pfeiffer ist halt ein extrem konservativer, fast reaktionärer Sozialdemokrat - ein Provinz-Schily… Der hat aber zum Teil interessante Positionen…
Rosenfelder: Ja, manchmal sehr kluge Gedanken - aber dann macht er wieder Elendsparadigmen auf, in denen immer ein türkischer Hauptschüler die zentrale Rolle spielt, der nicht Deutsch lernen will, den ganzen Tag Playstation spielt, und deswegen in der Schule schlechter ist. Sein Hauptbefund war eigentlich: Das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik sind Jungen in der Schule schlechter, als Mädchen. Das ist natürlich eine schreckliche Katastrophe. Das das auch andere Gründe haben könnte, kam nicht vor.
Noch eine andere Frage: Gibt es eigentlich open-source-games? Die gar kein Entwickler-Subjekt dann hinter sich stehen haben?
Rosenfelder: Ja, gibt es. Wobei es ja auch da oft einzelne Entwickler gibt. Sogar einige der bekanntesten Spiele sind dadurch entstanden, dass Leute ein existentes Spiel genommen und irgendwie umgemodelt haben - Counterstrike zum Beispiel.
Es gibt ja immer diese Engines… Ein Spiel hat sozusagen eine Art Motor, der der Quellcode ist, mit dem die Spiele-Physik erzeugt wird: Dort stehen Bäume, es gibt Sonnenauf- und Untergänge, es regnet dann und dann, und den kann man natürlich auch benutzen, um ganz andere Sachen damit zu machen. Man kann eine Engine kapern, und Welten erzeugen, die so ähnlich aussehen, aber ganz anders funktionieren.
Es gibt ganze Machinima-Wesen - das ist in Online-Games entstanden, dass Leute in Computergames Filme drehen. In World of Warcraft zum Beispiel drehen die dann Filme: Da werden Handlungen aufgeführt, und vom Bildschirm aufgenommen. Und das Spiel dient nur als Kulisse. Das ist ein Missbrauch, aber natürlich auch innovativ.
Also: Es kommt schon vor, aber es ist nicht so verbreitet wie in anderen Bereichen der Netzkultur. Da sind die Spieler eher passiv und warten darauf, dass irgendein bekannter Entwickler jetzt das nächste heißersehnte Spiel auf den Markt bringt.
Würden Sie sagen, dass es Dinge gibt, die Sie aus Computerspielen gelernt haben? Was Sie vorher nicht wussten? Originäre, neue, ungewöhnliche Erfahrungen?
Rosenfelder: Dass tote Zeit auch wichtig sein kann. Dass sie ein eigenes Recht im Leben haben kann, und im Nachhinein auch nicht wirklich tot ist. Es gibt oft diese Erfahrung nach einem Computerspiel: Man war vier Stunden nirgendwo. Und hat sich um eine CD im Laufwerk gedreht. Ein Handeln, dass sich im Nichts auflöst. Und das unter dem Gesichtspunkt effizienter Lebensausnützung auch total daneben ist. Aber was doch im Nachhinein den eigenen Erfahrungsschatz größer gemacht hat - wie abwegig die Nebenwelt auch war.
Das ist vielleicht eine Erfahrung, die auch unabhängig von Computerspielen gilt, aber da macht man sie besonders intensiv und markant.
Können Sie beschreiben, worin die Poesie eines Computerspiels liegt? Eines guten Computerspiels?
Rosenfelder: Es gibt Momente, in denen sich das Spiel wie ein Traum verdichtet. Und man ist dann plötzlich in einer völlig stimmigen Welt. Das sind meistens Momente jenseits des Spielablaufs, Momente des Innehaltens oder Nichtstuns in Computerspielen. In denen sich eine atmosphärische Dichte einstellt und eine Schlüssigkeit der Welt, in der man sich gerade bewegt. Letztlich ist das eine Erhabenheitserfahrung, wie man sie sonst in der Natur sucht. Das gibt es.
Ein konkretes Beispiel?
Rosenfelder: Das gibt es in mehreren Spielen. Es gibt zum Beispiel oft ganz tolle Himmel, zerrissene Himmel… In einem Egoshooter, F.e.a.r. hieß der, gibt es das. Daran erinnere ich mich. Auch in GTA kann man solche Erfahrungen finden.
Haben Sie Favoriten unter den Spielen? Empfehlungen oder Warnhinweise?
Rosenfelder: GTA finde ich nach wie vor ein tolles Spiel. Weil es letztlich von Freiheit handelt. Das erwähnte "Katamari" fand ich ganz phantastisch.
Sie haben Ihre Abschlußarbeit an der Uni über Barockliteratur gemacht. Über was genau?
Rosenfelder: Über Johann Michael Moscherosch. Das ist so ein komplett vergessener Autor des 17. Jahrhunderts, der aber damals wahnsinnig viel gelesen wurde. Eigentlich ging es um eine Vorgeschichte der Enzyklopädie im Barock.
Moscherosch hat einen enzyklopädischen Roman geschrieben, in dem konkret alles vorkommt, alles registerhaft durchgegangen wird, was die Welt an Dingen und Orten bereit hält. Alles aber nur unter dem Gesichtspunkt der Täuschung: Warum 1000 Seiten über die Dinge der Welt, wenn am Ende alles nur Täuschung ist?
Am Ende wird dann doch eine Art von enzyklopädischem Katalog angelegt - lange vor Diderot und d'Alembert. In der Zeit habe ich auch angefangen, "Lara Croft" zu spielen - das passte dann irgendwie zusammen.
Die Barock-Kunst ist tatsächlich am nächsten dran an virtuellen Welten…
Rosenfelder: Ja total
…es geht in beidem darum, insofern Scheinwelten zu erzeugen…
Rosenfelder: Absolut. Und dieser Roman - "Gesichte Philanders von Sittewalt" heißt der -, funktioniert eigentlich auch genau so: Das sind Visionen, die dann kapitelweise abgearbeitet werden, wie solche Spiele-Level, durch die der Held dann immer durchläuft.
Das ist eine perfekte Überleitung: Sie sehen sich auch relativ viele Filme an. Deshalb wollte ich wissen, wie Sie das einschätzen: Wie Computerspiele, oder bestimmte Elemente, ihre Ästhetik, das Kino beeinflussen? Was ich sehe: Mir kommt es vor, als ob die Dramaturgien beeinflusst werden: Man erledigt ein Level, dann kommt das nächste. Mir scheint, dass die klassische Heldenreise zum Level-Springen wird: Man muss einen Feind besiegen, eine Herausforderung besiegen, aber ohne echten Bogen. Aber man könnte auch sagen: Das gibt es ja schon in der "Odyssee": Homer lässt Odysseus von Aufgabe zu Aufgabe reisen, das sind wie Level. Das Ziel ist es, am Ende nach Hause zu kommen.
Rosenfelder: Genau. Es gibt bei Computerspielen eine eher lineare Struktur. Nicht den klassischen Spannungsbogen. Was im Drama oder im klassischen Hollywood-Film so interessant ist, das fehlt. Man hat eher flache Bögen. Auf jeden Fall. Einerseits gibt es so eine Art von flachem Erzählen, die es aber schon immer gab.
Beim letzten James-Bond-Film hatte ich schon sehr das Gefühl, dass man eigentlich fast vergisst, wo man eben gerade war, warum man jetzt hier ist, auf einmal ist man in der Wüste…
Geschichtslosigkeit… Im Sinne von Folgenlosigkeit…
Rosenfelder: Genau! Es gibt so ein Vergessensmoment. Umgekehrt funktionieren auch diese Spiele zum Film nicht. Etwa "Der Pate" Das war richtig schlecht. Man kann die Handlung nachspielen, aber es ist witzlos. Es verliert die ganze Tragik und Größe. Man hakt bürokratisch Mafia-Jobs ab. Diese Art von Transfer funktioniert nicht, genausowenig wie anders rum. "Tomb Rader" war völlig falsch gedacht. Ins Kino geht man, um passiv zu sein, nicht um aktiv zu sein. Darum sind es völlig verschiedene Erfahrungen.
Beim Film "Der Herr der Ringe" wechseln die Landschaften rasant: Innerhalb von drei Film-Minuten kommen fünf verschiedene Landschaften. Oder im dritten Teil die Spinne. Die ist dann kurz da, dann besiegt und wieder weg - es tut nichts für die Handlung, verändert den Held nicht…
Rosenfelder: Ja, wie ein Monster. Wie schon in "Space Invadors", im klassischen Arcade-Game - das ist die Matrix. Aber die ganz alte epische Form des Erzählens funktionierte schon ähnlich: "Und... und… und…" Das Ärgerliche bei den Filmen ist heute nur, dass Spannung nicht mehr verbindet. Das ist eine komische Taubheit.
Macht hier das Paradigma Moderne-Postmoderne Sinn? Das man sagen könnte: Computerspiele sind postmodern, weil sie das moderne Erzählen über Spannungsbögen und dialektische Dramatik verabschieden zugunsten jenes "Und... und… und…"?
Rosenfelder: In gewissem Sinn schon. Wenn man Postmoderne so als Abschied vom modernen Erzählen versteht. Andererseits gibt es ja im Bereich der Computerspiele vielfältige Anstrengungen, das auch zu überwinden, das Automatenspielhafte in Vergessenheit geraten zu lassen, und den Charakteren eine Psychologie zu geben - und damit auch eine Geschichte.
Oder auch tragische Charaktere zu schaffen, mit denen man leiden könnte. Das ist auch noch so ein Rätsel, vor dem die Spiele-Entwickler stehen: Wie schafft man es Gefühle für Computerhelden zu erzeugen, insbesondere Mitleid? Normalerweise hat ein Spieler ein allzu pragmatisches Verhältnis zu den Charakteren: Wenn er tot ist, dann fängt man halt neu an. Das ist eine Condition postmoderne, die man aus den Spielen herauszubekommen sucht. Da fehlt klassische Erzählkunst.
Das ist es vielleicht, was ich gemeint habe, als ich danach fragte, ob Sie was aus Computerspielen gelernt haben? Denn es scheint ja in Ihren Beschreibungen so, als verrieten uns gute Computerspiele etwas über den Menschen: Nämlich in dem Sinn, dass man als Erfinder und Programmierer oder auch Spieler eines Computerspiels auch darüber nachdenkt, wie zum Beispiel Empathie konditioniert ist? Wie gestaltet man Empathie?
Rosenfelder: Absolut. Genau darum geht es: Die Spiele immer auch als Allegorien zu betrachten.
Also müsste man eigentlich anfangen, die Computerspiele-Arbeiter auch in die Kulturwissenschaften zu integrieren. In so einem Sinn, dass man zum Beispiel zu einer Tagung über Gefühle - kürzlich gab es am Einstein-Forum in Berlin zum Beispiel eine Tagung über "Zorn" - einen Computerspiele-Erfinder einlädt, der uns dann nicht erzählt, wie man Zorn in einem Computerspiel gestaltet, oder imitiert - das vielleicht auch - sondern, was er über Zorn gelernt hat. Das wäre die interessantere Frage…
Rosenfelder: Da würde ich absolut zustimmen. Letztlich geht es um das, was ein ganz altmodischer Begriff meint: Der vom "Allgemein-Menschlichen", der glaube ich aus der Goethe-Forschung stammt. Der passt hier. Es geht eigentlich immer wieder darum: Wie geht man mit Freiheit um? Es gibt ja auch schon einen Forschungszweig: Games-Studies. In Deutschland ist das leider noch sehr unsystematisch. Es würde aber an den Universitäten nur Sinn machen, wenn es integriert wäre in allgemeinere kulturwissenschaftliche Studien.
Es gibt ja auch Leute, die sagen, dass die Zukunft gar nicht in einer Annäherung ans Kino liegt. Sondern dass die Zukunft noch ganz andere Eingabemöglichkeiten bereithält: Dass man sich in einem Holo-Deck bewegen kann.
Technisch ist jetzt vieles relativ gut ausgereizt. Damit ein neues Kapitel der Spiele-Geschichte beginnt, brauchen wir neue Möglichkeiten, wie den Datenanzug.
Andreas Rosenfelder: "Digitale Paradiese. Von der schrecklichen Schönheit der Computerspiele"; Verlag Kiepenheuer & Witsch; Köln 2008; 192 Seiten, 8,95 Euro