Corona: Bundesnotbremse läuft aus

Merkel will sie jedoch bei Bedarf "jederzeit reaktivieren". Bayern lockert Maskenpflicht an Schulen, gibt aber keine Perspektive für die Nacht-Gastronomie. Debatte über Befugnisse der Regierung geht weiter

Die Zahlen der aktiven Corona-Infektionen sind um 45 Prozent gegenüber der Vorwoche auf 12.837 gesunken. Gestern wurden dem RKI 57 Todesfälle gemeldet ("minus 26 Prozent" im Vorwochenvergleich). Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bundesweit bei 5,4, in Sachsen-Anhalt liegt sie bei 1,4. Die Zahl der Corona-Patienten, die auf Intensivstationen betreut werden müssen, fällt auf 693, meldete der Corona-Zahlen-Spezialist Olaf Gersemann gestern.

Über die Grundlage von Corona-Zahlen wird bekanntlich seit vielen Monaten mit großem Einsatz debattiert, da sie in politische Maßnahmen einfließen (vgl. Corona: Sehr hoher Anteil der positiv Getesteten nicht ansteckend?). Der eben genannte Ausschnitt gibt nun deutliche Zeichen einer entspannten Lage.

Eine echte Entspannung mag sich aber in der Berichterstattung nicht generell durchsetzen. Grund ist die ansteckendere Delta-Mutation, von der man befürchtet, dass sie im Herbst eine neue Infektionswelle verursachen könnte, falls die Impfkampagne nicht schnell genug läuft. Manche Berichte haben sich schon jetzt das Verbum "grassieren" für Überschriften zur Delta-Variante ausgewählt, viele schreiben, wie "rasant" sie sich verbreitet.

Dennoch gibt es nun aus der Politik ein paar vorsichtige Zeichen einer Entspannung. So wird in Bayern etwa fünf Wochen vor Beginn der Sommerferien ab kommenden Donnerstag die Maskenpflicht für Schüler an vielen weiterführenden Schulen aufgehoben:

In Landkreisen und kreisfreien Städten mit einer 7-Tage-Inzidenz unter 25 soll die Maskenpflicht am Platz für Schüler und Lehrer wegfallen, wie Ministerpräsident Markus Söder (CSU) nach einer Kabinettssitzung in München sagte. Auf Gängen und Toiletten im Schulgebäude bleibt es grundsätzlich bei der Maskenpflicht.

BR

Nicht die einzige Lockerung, die die Landesregierung heute beschlossen hat, wie der Bayerische Rundfunk berichtet: "Zu Kultur- und Sportveranstaltungen dürfen statt 500 künftig 1.500 Menschen kommen. Statt 100 dürfen maximal 200 der Besucher auf einem Stehplatz stehen. Die Sperrstunde in der Gastronomie wird von 24 Uhr auf 1 Uhr verschoben."

Allerdings: Für die Nacht-Gastronomie gebe es vorläufig keine Perspektive, wird Ministerpräsident Söder zitiert. Änderungen stellte er dann in Aussicht, "wenn ein großer Teil der jungen Menschen in Bayern geimpft sei". Die Lockerungen wurden von Söder politisch als "weiter vorsichtig, aber mit Schutzinstrumenten" gelabelt.

Die Bundesnotbremse

Am morgigen Mittwoch laufen die "Durchgriffsrechte des Bundes im Corona-Krisenmanagement" aus. Das Medien-Schlagwort dazu lautet "Bundesnotbremse". Geht es nach einem aktuellen Bericht der Welt, so melden sich auch hierzu Stimmen der Vorsicht, die auf Schutzinstrumente achten. Vorneweg wird die Aussage von Angela Merkel, die bereits Ende Mai angekündigt habe:

Sollte sich etwas entwickeln durch Mutationen, was wir alle nicht hoffen, dann können wir das jederzeit reaktivieren.

Bundeskanzlerin Angela Merkel

Zu Wort kommen auch der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg: "Es wäre nicht nötig gewesen, die 'Bundesnotbremse' bis Ende Juni zu beschränken, sie hätte weiterhin gelten können. Bei den derzeit geringen Inzidenzwerten hätte das ohnehin niemand im Land gespürt" und der Städtetags-Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy, der das Instrument ebenfalls gerne weiter in Griffweite haben will:

Aktuell sind wir zum Glück mit den Inzidenzen weit von einer "Bundesnotbremse" entfernt. Sie muss nur dann erneut installiert werden, falls die Zahl der Infektionen auch wegen neuer Virusvarianten bundesweit wieder stark steigt.

Helmut Dedy

Allerdings ermittelten die Welt-Journalisten fraktionsübergreifend im Bundestag eine Stimmungslage, die sie als "Ablehnung gegenüber einer Rückkehr der 'Bundesnotbremse'" beschreiben. Das kann sich freilich wieder ändern, je nachdem wie die Stimmungslage draußen ist, wie sich die "Delta-Zahlen" entwickeln und vielleicht auch durch eine solide, wissenschaftlich untermauerte Evaluation der Wirksamkeit der "Notbremse". Dazu gibt es bislang augenscheinlich nur Einschätzungen.

Die "Bundesnotbremse" habe "viele Tausend Menschenleben retten können", lobte der Präsident der Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, Gernot Marx, - auch wenn es bislang keine umfassenden Studien darüber gibt, ob in den vergangenen Wochen tatsächlich die "Notbremse" die Ansteckungszahlen drückte oder ob nicht doch die steigende Zahl der Impfungen oder das sommerliche Wetter mitverantwortlich waren.

Die Welt

Juristische Prüfungen

Auch juristisch wird die Bundesnotbremse noch geprüft. Am Ende des Artikels wird erwähnt, dass derzeit "450 Verfahren beim Bundesverfassungsgericht eingegangen" seien, die mit der Bundesnotbremse zusammenhängen. Die Auskunft erteilte ein Sprecher des Gerichts.

Demnach sei in mehr als der Hälfte der Fälle noch nicht entschieden.

Grundrechte

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass der Bundestag am Donnerstag vergangener Woche mehrheitlich eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes beschloss, das darauf hinauslaufe, dass "Grundrechte wie etwa die körperliche Unversehrtheit oder die Unverletzlichkeit der Wohnung selbst dann ein Jahr lang mittels Verordnung eingeschränkt werden, wenn keine epidemische Lage mehr vorliegt", wie die NZZ am Tag darauf kommentierte.

Ob dem so ist, darüber kann man sich anhand der Änderungstexte ein Bild machen, die der Bundestag hier auflistet. Den Laien könnte irritieren, dass die Abstimmung mit "Stiftungsrecht" überschrieben ist. Ob sich da noch eine fachliche Diskussion darüber entspinnt, welche Auswirkungen die Änderungen des Infektionsschutzgesetzes auf die Befugnisse der Exekutive haben?

Nötig wäre die Aufklärung. Die politische Parole "vorsichtig, aber mit Schutzinstrumenten" braucht kritische Beobachtung.

Wie sprach doch der Ministerpräsident von Baden-Württemberg kürzlich:

Meine These lautet: Wenn wir frühzeitige Maßnahmen gegen die Pandemie ergreifen können, die sehr hart und womöglich zu diesem Zeitpunkt nicht verhältnismäßig gegenüber den Bürgern sind, dann könnten wir eine Pandemie schnell in die Knie zwingen. (…) Wir sollten also einmal grundsätzlich erwägen, ob wir nicht das Regime ändern müssen, so dass harte Eingriffe in die Bürgerfreiheiten möglich werden, um die Pandemie schnell in den Griff zu bekommen.

Winfried Kretschmann