Corona-Politik: Warum Augenmaß jetzt wichtig ist

Seite 2: Kriminalisierung wird das Wort geredet

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Es sei dahingestellt, ob eine solche Kontrolle umsetzbar ist, es sei auch dahingestellt, ob sich mit solchen Methoden eine gesellschaftliche Akzeptanz verbessern lässt. Aber allein der Gedanke sagt viel über den gesellschaftspolitischen Resonanzraum aus, auf den sich die Autoren der Beschlussvorlage beziehen. Zusätzlich wird mit Begriffen wie "Abwanderung in die Illegalität" (so im Vorbereitungspapier) einer Kriminalisierung das Wort geredet, was zu weiteren, fortwährenden Steigerungen und Eskalierungen führen dürfte.

War die Corona-App anfangs freiwillig, wird sie jetzt "dringend empfohlen", und man wird den Verdacht nicht los, dass es zu einem verpflichtenden Einsatz der App analog zum Modell der vollständigen staatlichen Kontrolle des Individuums nicht mehr weit ist. Auch wird teilweise offen zur Denunziation aufgerufen, indem auf kommunaler Ebene digitale "Meldebögen" zur Verfügung gestellt werden. An diesen Beispielen kann gut illustriert werden, dass das wirkungsarme Konzept, das in Deutschland verfolgt wird, eigentlich nur noch durch seine negativen Konsequenzen imponiert.

Ein Punkt ist von eminenter Bedeutung und nimmt von der Frage der Grenzwerte seinen Ausgang, die zur Steuerung der Maßnahmen eingesetzt werden. Im Beschluss der Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten wurde faktisch eine Verschärfung auf einen Grenzwert von 35 gemeldeten Corona-Fällen pro 100.000 Einwohner vorgenommen.

Es soll nicht in Zweifel gezogen werden: Ein erfolgreiches Krisenmanagement bedarf verständlicher und transparenter Zahlen. Wie später noch darzustellen sein wird, müssen solche Zahlen jedoch valide und reliabel (zuverlässig) sein. Valide insofern, als dass sie ein Problem richtig erkennen, reliabel als dass sie zuverlässig zu erheben sind. Die wissenschaftlichen Daten zur Validität lassen sich hier schnell zusammenfassen: Es gibt keine Daten, die aussagen, dass mit einem Grenzwert von x/100.000 Einwohner ein positiver Verlauf der Epidemie oder eine erfolgreiche Intervention verbunden ist.

Trotzdem kann man natürlich mit solchen Zahlen arbeiten, vielleicht muss man sie unter dem Druck der Ereignisse sogar einfach setzen - aber was auf keinen Fall zu tolerieren ist, ist eine schlechte Reliabilität, also eine mangelnde Stabilität gegenüber Mess- und Erhebungsfehlern.

Das Problem nicht reliabler Grenzwerte

Diese Mängel in der Zuverlässigkeit der Erhebung (Reliabilität) geben Anlass zu größten Bedenken, vor allem wenn man sich die Konsequenzen vor Augen führt, die mit einem Überschreiten der Grenzwerte verbunden sind.

Zunächst scheint das Vorgehen ja völlig einleuchtend: Die Grenzwerte werden berechnet, indem man die erkannten Neuerkrankungen zählt. Ein Beispiel zur Illustration: Rund 25.000 Neuinfektionen pro Woche bei einer Million Testen entsprechen einer Prävalenz von 2,5 Prozent. Dieser Wert wird in Deutschland auf die gesamte Bevölkerung von 83 Millionen Personen umgelegt, das macht rund 300 positive PCR-Befunde pro Million oder 30/100.000.

Von der Gesamtbevölkerung sind also eine Million getestet, 82 Millionen sind nicht getestet. Dieses zunächst eingängige Vorgehen hat nur einen Haken: Man setzt bei der Umrechnung voraus, dass unter den 82 Millionen nicht getesteten Einwohnern im gleichen Zeitraum keinerlei Infektionen aufgetreten sind, eine Annahme, die sicher nicht der Realität entspricht. Es lässt sich nun einfach darstellen, dass die tatsächliche Häufigkeit von Neuinfektionen praktisch ausschließlich von der "Dunkelziffer" in der nicht-getesteten Population bestimmt wird und daher die Zahl "x/100.000" keinerlei praktische Wertigkeit hat. Sie hat damit auch keine Validität, denn nicht reliable Grenzwerte sind - ein Grundsatz der Messmethodik - in keinem Fall valide.

Indes sind nicht nur die verwendeten Grenzwerte Makulatur, also weder reliabel noch valide. Dieser Missstand basiert auf einem grundlegenden konzeptionellen Problem, nämlich dass wir mit unseren anlassbezogenen Testungen über den Kreis der neu als infiziert erkannten Personen hinaus keine reliablen und validen Informationen über den Stand der asymptomatisch übertragenen Epidemie in der Gesamtbevölkerung gewinnen können. Wir gewinnen vielleicht Anhaltspunkte, aber keine verlässlichen Werte, die eine sinnvolle Steuerung erlauben. Dagegen wird von offizieller Seite mit dem Begriff der "Sieben-Tage-Inzidenzrate" insinuiert, man wüsste über die neu aufgetretenen Infektionen genau Bescheid.

Epidemie breitet sich quasi ungebremst aus

Man kann diese Problematik als hermeneutischen Tunnelblick verstehen, der keine anderen Informationen mehr zulässt. Leider hat dieses Verständnis jedoch enorme Konsequenzen - und umso unverständlicher ist es, dass es immer noch keine Kohortenuntersuchungen gibt, die das Fortschreiten der Epidemie in der Bevölkerung beschreibt, und zwar nicht allein mit Antikörperbestimmungen, sondern mit der derzeitigen Standardmethode, der PCR. Hier muss man von einem schweren Versäumnis der zuständigen Bundesoberbehörde und der verantwortlichen politischen Stellen sprechen.

Die Situation ist dringlich, denn wenn man die Zahlen zur ansteigenden Testprävalenz zur Kenntnis nimmt (in Deutschland von unter einem Prozent auf 2,5 Prozent, in Frankreich bis zwölf Prozent, in Spanien bis 20 Prozent). Aber was sagen uns diese Zahlen? Diese Informationen können nur bedeuten, dass sich die Epidemie in der Bevölkerung trotz aller Einschränkungen praktisch ungehemmt ausbreitet. Eine beratungsoffene Regierung könnte hier mit einem neuen Briefing, einem neuen Narrativ ansetzen: Mit der Epidemie müssen wir leben, sie wird im Winter deutlich zunehmen, lasst uns die Mitbürger und Mitbürgerinnen, die sich in besonderer Gefahr befinden, schützen und optimal versorgen.

Und man könnte eine einfache Modellierung vornehmen: Wie lange braucht eine Population bei einer zweistelligen Prävalenz, um einen respektablen Immunitätsstatus zu erreichen. Diese Modellierung könnte man auf die Metropolen beschränken usw., in jedem Fall wäre dies ein gangbarer Weg, der Bevölkerung eine Perspektive aufzuzeigen, und ein Ende der Krise ist prognostizierbar. Diejenigen, die gleich mit den Gefahren, die z.B. für die Jüngeren bestehen, argumentieren (ohne selbst glaubwürdige Konzepte zu besitzen), sollten empirische Belege für ihre Argumente erbringen.

Eine Epidemie ist eine ernsthafte Sache, der Schutz der Verletzlichen sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, und in einer Krisensituation hat man dort anzusetzen, wo der dringendste Handlungsbedarf besteht. In jedem Fall gilt: Die Risikovorsorge durch gezielte Prävention vulnerabler Gruppen und Institutionen ist die Alternative zur Drohung mit einem zweiten Lockdown.

Die Autorengruppe hat bereits vier Thesenpapiere zur Corona-Politik verfasst. Der Gruppe gehören an: Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Universität Köln, ehem. Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit; Hedwig François-Kettner, Pflegemanagerin und Beraterin, ehem. Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, Berlin; Dr. med. Matthias Gruhl, Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen, Bremen; Prof. Dr. jur. Dieter Hart, Institut für Informations-, Gesundheits- und Medizinrecht, Universität Bremen; Franz Knieps, Jurist und Vorstand eines Krankenkassenverbands, Berlin; Prof. Dr. rer. pol. Philip Manow, Universität Bremen, SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik; Prof. Dr. phil. Holger Pfaff, Universität Köln, Zentrum für Versorgungsforschung, ehem. Vorsitzender des Expertenbeirats des Innovationsfonds; Prof. Dr. med. Klaus Püschel, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Rechtsmedizin; Prof. Dr. rer.nat. Gerd Glaeske, Universität Bremen, SOCIUM Public Health, ehem. Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit