Corona: Rechtsstaat auf dem Prüfstand

Seite 3: Schwierige Abwägungen

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Die Politik hatte in den letzten Wochen schwierige Abwägungsentscheidungen zwischen Gesundheitsschutz, Freiheitswunsch der Menschen, den Interessen der Wirtschaft und der Arbeitnehmer, der Schulen, der Glaubensgemeinschaften, der Kultur und des Sports sowie der öffentlichen Finanzen zu treffen. Erschwert wurde das durch den enormen Zeitdruck, unter dem angesichts der Pandemie gehandelt werden musste. Vertiefte verfassungsrechtliche Vorabprüfungen waren kaum möglich.

Bemerkenswert ist, dass die Verbote in der Gesellschaft auf große Zustimmung stießen. Oft hatte ich den Eindruck, dass die Akzeptanz umso größer war, je tiefer die Einschnitte in das Alltagsleben waren. Motto: Viel hilft viel. Aufbegehren gab es nur, als das Handy-Tracking ins Gesetz geschrieben werden sollte. Die Schriftstellerin Juli Zeh bemerkte hierzu, offensichtlich sei den Menschen ihr Handy wichtiger als ihre Bewegungsfreiheit.

Es wäre vermessen, im Rahmen dieses Artikels Aussagen zur Rechtmäßigkeit einzelner Maßnahmen zu machen. Dies schließt jedoch nicht aus, einige Prüfkriterien zu benennen:

  • Es besteht allseits Einigkeit, dass die Folgen der Virusbekämpfung nicht schlimmer sein dürfen als die zu bekämpfende Ursache (das Virus).
  • Es muss immer das mildestmögliche Mittel angewandt werden. Außerdem muss jede Einschränkung von Grundrechten geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein. Dies wäre dann nicht der Fall, wenn ein bestimmtes Verbot nicht geeignet wäre, die Virusausbreitung zu verhindern oder wenn ein weniger stark eingreifendes Mittel denselben Zweck erfüllen würde. Besondere Wachsamkeit ist immer dann geboten, wenn die Politik ihre Maßnahmen als alternativlos bezeichnet und Zweifel mit dem lapidaren Hinweis auf die Verhältnisse in Italien oder Spanien abtut.
  • Eine offene Flanke der Corona-Maßnahmepakete besteht darin, dass es bei ihrem Erlass "nur" ein paar hundert Corona-Tote in Deutschland gab. Die Grippewelle von 2017/2018 hat nach amtlichen Angaben (RKI) ca. 25.000 Menschenleben gefordert, ohne dass der Staat besondere Maßnahmen ergriffen hat. Das bedeutet, dass die jetzigen rigorosen Verbote nur dann eine innere Rechtfertigung haben, wenn die Politik in einer Prognoseentscheidung (worst case Einschätzung) mit einem dramatischen Verlauf der Corona Pandemie rechnen musste. Hierbei ist nicht der heutige Kenntnisstand maßgeblich. Vielmehr kommt es allein auf die damalige Sicht der Politik unter maßgeblicher Einbeziehung der Expertise von anerkannten Virologen und Epidemiologen an. Entscheidendes Kriterium war die Wertordnung des Grundgesetzes: im Zweifel zugunsten des Lebens und der Gesundheit.
  • Ein wesentliches Kriterium für die Rechtmäßigkeit von Grundrechtsbeschränkungen ist deren zeitliche Dauer. Je länger ein Versammlungs- oder Demonstrationsverbot andauert, desto gewichtiger müssen die Gründe für seine Beibehaltung sein. Denn hierbei handelt es sich um ein elementares Grundrecht, das auch oder gerade in Krisenzeiten von allergrößter Bedeutung ist. Ähnliches gilt für Beschränkungen von Gottesdienstbesuchen und Besuchen naher Angehöriger in Pflegeheimen. Es ist stets abzuwägen, ob das Ziel des Lebens- und Gesundheitsschutzes auch durch andere Maßnahmen wie etwa Besuchs- und Teilnahmebegrenzungen, Abstandsgebote und Maskenpflicht erreicht werden kann.
  • Der Politik ist zugute zu halten, dass sie sich von Anfang an des Spannungsverhältnisses zwischen Grundrechtsbeschränkungen und deren Dauer bewusst war. Das zeigt sich an den eng begrenzten Laufzeiten der erlassenen Verbotsregelungen. Ergänzend wird in kurzen Zeitabständen überprüft, ob und welche Verbote gelockert werden können. Das ist ein Indiz dafür, dass die Verantwortlichen an einer schnellen Beendigung des Ausnahmezustands interessiert sind. Die Gefahr eines autoritären Umbaus von Rechtsstaat und Demokratie sehe ich derzeit nicht.

Ausblick

Ich vermute, dass die Gerichte demnächst die Frage beschäftigen wird, welche rechtlichen Folgen es hat, wenn der Gesetzgeber weiterhin mögliche Schutzvorkehrungen wie etwa Masken und Tracking-App verzögert. Es ist offensichtlich, dass die Politik eine ausreichende Ausstattung des Gesundheitssystems mit Atemmasken, Desinfektionsmitteln und Geräten der medizinischen Intensivpflege verschlafen hat. China und Südkorea haben schon vor Monaten bewiesen, dass sich die Ausbreitung der Pandemie durch solche Schutzmaßnahmen entscheidend eindämmen lässt. Spätestens Ende Februar war auch hierzulande absehbar, dass Corona auf ein schlecht vorbereitetes Gesundheitssystem treffen wird.

Die Politik wird auf lange Zeit gefordert sein, eine Balance zwischen Leben und Gesundheit einerseits und Wirtschaft und Wohlstand andererseits zu finden. In einer Mail stand in größter Verdichtung, es sei die Entscheidung zwischen Opa und Bruttosozialprodukt. Das Dilemma besteht darin, dass jede Entscheidung für das Leben (etwa durch Verlängerung von Ausgangsbeschränkungen) ebendieses Schutzgut Leben auf andere Weise gefährden kann (Existenzverlust, Hunger, Gewaltexzesse, Suizide).

Lockerungen

Seit sich die Corona Ansteckungskurve etwas abgeflacht hat, werden aus bestimmten Kreisen des Handels und der Wirtschaft Lockerungsübungen gefordert. Fatal ist, je mehr darüber geredet wird, desto stärker wird der Druck auf die Entscheidungsträger. Es ist beobachtbar, dass Personen, die sich derzeit um Posten und Ämter bemühen, diesem Erwartungsdruck immer mehr nachgeben.

Gleichzeitig warnen ernst zu nehmende Wissenschaftler vor Leichtsinn in der jetzigen Phase. Eine verfrühte Öffnung der Schleusen könne zu neuen, schwer kontrollierbaren Infektionswellen führen und begleitend dazu zu Motivationsverlusten der Menschen. Deshalb empfehlen besorgte Stimmen, die Restriktionen noch ein paar Wochen beizubehalten, zumindest solange bis ein Dreierpack aus genügend Schutzausrüstung, Tracking-App und Laborkapazitäten für verlässliche Testverfahren zur Verfügung stehen. So vorbereitet lasse sich die Zeit bis zum Vorhandensein wirksamer Medikamente oder einer Schutzimpfung ohne das Risiko großer Rückschläge überbrücken.

Schlusswort

Es ist verantwortungslos zu behaupten, dass wir jetzt in grundrechtsfreien Zeiten leben. Diese vermeintlichen "Schutzpatrone der Grundrechte" haben entweder nicht begriffen, wie Grundrechte funktionieren, oder es liegt ihnen daran, Verunsicherung zu erzeugen.

Wo Menschen handeln, geschehen Fehler. Die meisten der jetzt sichtbar gewordenen Fehler liegen ursächlich in der Vergangenheit. Neue Fehler dürften vorwiegend auf Fehleinschätzungen der aktuellen Lage oder auf juristischen Abwägungsdefiziten beruhen. Ein Hauptproblem der nächsten Zeit wird die Abgrenzung sein, was wieder erlaubt wird und was nicht. Jede Öffnung eines Teilbereichs wird Unverständnis bei denen auslösen, deren Betrieb weiterhin geschlossen bleibt.

Die Erfahrung lehrt, dass eine Befreiung von einem Verbot zehn weitere Befreiungsanträge ("Bezugsfälle") nach sich zieht, eine ertragreiche Nährwiese für Anwaltskanzleien. Das Bundesverfassungsgericht und die Verwaltungsgerichte haben inzwischen die ersten Korrekturen - vorwiegend im Bereich des Versammlungsrechts - vorgenommen. Hunderte werden folgen.

Das Frühjahr 2020 hat uns vor schwere Herausforderungen gestellt. Auch im Sommer wird es noch bedrückende soziale Abstürze geben. Und viele Menschen werden noch Opfer des Corona Virus werden. Es wird vermutlich lange dauern, bis wieder normale Verhältnisse herrschen. Mehr als das: Wahrscheinlich wird das neue Normale anders sein als es das alte war.

Aber ich bin zuversichtlich, dass der Rechtsstaat die Prüfung bestehen wird.

Peter Vonnahme war bis zu seiner Penionierung Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München. Er ist Mitglied der deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA). Von 1995 bis 2001 war er Mitglied des Bundesvorstandes der Neuen Richtervereinigung (NRV).

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