Corona-Untersuchung: Das Schweigen sollte enden
Von Gruppendenken bis zu übertriebenen Maßnahmen – auf dem Prüfstand: Deutschlands Corona-Politik. Warum so lange auf eine Untersuchung warten? (Teil 1).
Nachdem vor einem Monat die RKI-Files öffentlich gemacht wurden, freigeklagt von Multipolar, kommt langsam Bewegung in eine festgefahrene Debatte.
Eine wachsende Zahl von Politikern äußert sich zustimmend zu einer Untersuchung, auch wenn noch bei vielen ein deutlicher Widerstand weiterhin zu erkennen ist. Nun will Gesundheitsminister Karl Lauterbach die RKI-Protokolle weitgehend entschwärzen lassen.
Allerdings hat das Verwaltungsgericht Berlin auf Antrag des Robert Koch-Instituts einen Termin zur mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme in Sachen der Multipolar-Klage zur Entschwärzung der Dokumente auf den Juli verschoben.
Leichte Kehrtwendung
Bereits kurz vor der Veröffentlichung der RKI-Files meldeten sich die ersten Regierungspolitiker mit zurückhaltender Selbstkritik.
Der damalige Innenminister Horst Seehofer würde heute mit der Forderung nach einer Zwangsimpfung vorsichtiger sein. Der damalige Kanzleramtsminister Helge Braun kritisiert, dass mit der Impfung die nicht erfüllbare Erwartung des Endes der Krise geschürt worden wäre. Und Karl Lauterbach gesteht, "der größte Fehler" sei der strenge Umgang mit den Kindern gewesen.
Also insgesamt ausreichend Zeichen, dass die Politik aus dieser Krise der Corona-Jahre lernen und Fehler bei den getroffenen Maßnahmen, die insgesamt 440 Milliarden Euro gekostet haben (etwa 5.200 Euro pro Deutschen) aufklären will?
Schweigende Politik
Bereits im März 2023, also vor einem Jahr, hatte die FDP eine Enquete-Kommission des Bundestages zur Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen gefordert. Ohne Erfolg.
Es stellt sich daher die Frage, wie selbstkritisch der aktuelle Aufklärungswille tatsächlich ist. Es ist nur schwer nachvollziehbar, wenn die Politik, nachdem sie die schwersten Eingriffe in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger seit Bestehen des Landes durchgesetzt hat, um – so die damals viel gebrauchte Metapher – "möglichst unbeschadet durch den Nebel fahren zu können", nach der Fahrt kein Interesse daran zeigt, zu überprüfen, ob und inwieweit alle Maßnahmen wirklich notwendig waren oder ob das Auto nicht vielleicht doch mit über mehr oder weniger geeignete Nebelscheinwerfer verfügt hätte.
Und nicht zuletzt, ob es Maßnahmen gegeben hat, die auch Schäden angerichtet haben, die den Nutzen überstiegen. Nicht zuletzt ist hier das einsame Sterben alter Menschen zu nennen, also gerade der Gruppe Menschen, die besonders durch die Maßnahmen geschützt werden sollten.
Offener Brief: "Unzureichende Krisenfestigkeit unserer Gesellschaft"
Ebenfalls bereits im März letzten Jahres schrieben eine Reihe von Wissenschaftlern einen Offenen Brief mit folgender Einleitung, die sich ausführlicher zu zitieren lohnt:
Die Corona-Pandemie hat in unserem Land tiefe Spuren hinterlassen und eine unzureichende Krisenfestigkeit unserer Gesellschaft offenbart. Viele Menschen fühlen sich nach der Pandemie alleingelassen mit ihren Enttäuschungen, Ängsten und Verlusterfahrungen und haben Vertrauen in staatliche und wissenschaftliche Institutionen verloren.
Es wurden Existenzen zerstört und Lebenspläne über den Haufen geworfen, Freundschaften und Familien sind an der Polarisierung der Gesellschaft zerbrochen.
Zwar wächst die Einsicht, dass unsere Reaktion auf die Bedrohung durch das Virus in vielerlei Hinsicht nicht optimal war, dass beispielsweise die langen KiTa-, Schul- und Hochschulschließungen nicht verhältnismäßig waren und Familien, insbesondere Mütter, nachhaltig belastet haben.
Ebenso werden psychische und soziale Vereinsamung der vulnerabelsten Gruppen (z.B. psychisch Kranke und hochbetagte Menschen) als Kollateralschäden nicht hinreichend austarierter Schutzmaßnahmen anerkannt.
Doch bleibt die bisherige Reflexion über die Pandemie zu punktuell und zu sehr vom Streben nach politischer und medialer Meinungshoheit geprägt. Es bedarf einer geordneten und systematischen Aufarbeitung, um robuste Lehren für zukünftige Krisen zu ziehen und ähnliche Fehler zu vermeiden.
Zu den Erstunterzeichnern gehörten Prof. Gerd Antes (Medizinstatistik), Prof. Jonas Schmidt-Chanasit (Virologie), Prof. Matthias Schrappe (Infektiologie) und Prof. Klaus Stöhr (Public Health, Epidemiologie, Virologie, Vakzinologie).
Wenig später folgte ein zweiter Offener Brief, der zum Ziel hatte:
"(...) die Priorisierung und Strukturierung der infrage stehenden Themen (vorzunehmen). Im Vordergrund stehen (1) die Infragestellung des Grundgedankens der Evidenz, (2) die Schwächung des Prinzips der Patientenorientierung und (3) die neuerdings bevorzugte Top-Down-Steuerung ohne Einbeziehung der Partner im Gesundheitswesen."
Kampf um Deutungshoheiten
Die Politik blieb trotz mehrerer Forderungen nach Aufarbeitung taub. Beispielsweise äußerte der gesundheitspolitische Sprecher der Grünen Janosch Dahmen die Sorge, "dass es am Ende eher ein Kampf um Deutungshoheiten und nachträgliche Schuldzuweisungen wird und damit weiteres Vertrauen der Bevölkerung verloren geht" und personalisierte das Thema, indem er den Hauptinitiator der Forderung nach einer Enquete-Kommission kritisierte:
Wolfgang Kubicki hat während der Pandemie immer wieder extreme Positionen vertreten und durch eine zum Teil AfD-nahe Rhetorik versucht, eine gesellschaftliche Spaltung herbeizureden. Mir fehlt die Fantasie zu glauben, dass ausgerechnet er Interesse an seriöser, nach vorn gerichteter Aufarbeitung hat.
Klaus Stöhr klagt:
Ich habe dafür kein Verständnis. Man muss doch jetzt händeringend die richtigen Schlüsse aus der Vergangenheit ziehen, um bei der nächsten Pandemie besser vorbereitet zu sein.
Seine Fehlerauflistung ist lang:
Das fing bereits beim Grundlagenwissen an: Atemwegserreger führen zu keiner sterilen Immunität, alle werden sich mehrmals infizieren. Die Impfung kann nicht verhindern, dass man sich und andere ansteckt, aber sie kann die Folgen der eigenen Ansteckung abmildern. Eine Infektion bewirkt in der Regel eine bessere Immunität als ein Impfstoff mit nur einem Virusprotein.
Massentestungen von asymptomatischen Personen führen selbst bei geringer Fehleranfälligkeit der Tests zu Fehleinschätzungen. Begleitende Forschung ist für eine Fehlerkorrektur während der Bekämpfung essentiell, etcetera etcetera …
Noch wichtiger ist die Frage: Was war relativ schnell nach dem Beginn der Pandemie als gesichert bekannt?
Dazu zählte vor allem die Rolle der Kinder. Hier hätte man zum Beispiel nur auf die medizinischen Fachgesellschaften hören müssen.
Klaus Stöhr
Schweigende Medien
Nicht nur die Politik muss angesichts des Desinteresses an einer Aufarbeitung kritisiert werden. Auch die Medien haben es sich zumeist in einem vergleichbaren Fahrwasser bequem gemacht. Martin Rücker kommentiert in der Berliner Zeitung:
Die Pandemie-Maßnahmen haben große gesellschaftliche Konflikte ausgelöst und befeuert. Dennoch hat kein klassisches Medium, darunter auch große, gut ausgestattete Redaktionen, für eine Öffentlichkeit der Dokumente gesorgt.
Dieses Medienversagen zu benennen, ist nötig. Viel zu wenig nutzt der Journalismus die Möglichkeiten der Informationsfreiheitsrechte, setzen Medienunternehmen ihre Auskunftsrechte auch mithilfe von Anwälten durch – es ist höchste Zeit, dies zu ändern.
Timo Rieg mahnt auf Telepolis:
Die journalistische Aufarbeitung der Jahre 2020 bis 2023 müsste mit Journalismuskritik beginnen. Wie konnten all die Falschbehauptungen in die Berichterstattung gelangen, wieso unterblieb fast jede Recherche dazu?
Auch der Autor dieser Zeilen muss sich die Frage stellen, warum er zum Beispiel bereits Anfang des Jahres 2023 einen Artikel über die Notwendigkeit einer transparenten Untersuchung der Maßnahmen schreiben wollte und erst jetzt – mehr als ein Jahr später – konkret schreibt, obwohl die Schlussfolgerung und die Schlusszeilen dieser aktuellen dreiteiligen Artikelserie schon zum damaligen Zeitpunkt formuliert waren.
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Notwendig ist eine Untersuchung, um beispielsweise herauszufinden, inwiefern in Deutschland und gerade bei den Entscheidungsträgern ein sogenanntes Gruppendenken vorgeherrscht hat.
Gruppendenken
Nach dem Psychologen Irving Janis ist Gruppendenken ein "Denkmodus, den Personen verwenden, wenn das Streben nach Einmütigkeit in einer kohäsiven Gruppe derart dominant wird, dass es dahin tendiert, die realistische Abschätzung von Handlungsalternativen außer Kraft zu setzen".
Gruppendenken kann gerade bei grundlegenden politischen Entscheidungen in Angesicht einer äußeren Bedrohung zu Katastrophen führen, wie die Geschichte gezeigt hat.
Schon im August 2020 mahnten in einem Gastkommentar in der taz die Epidemiologen Angela Spelsberg und Ulrich Keil:
Aus unserer Sicht haben sich Politik und öffentliche Meinung selten so sehr auf den Rat von nur wenigen Fachleuten gestützt wie jetzt in der Coronakrise.
Und es stellt sich die Frage, ob die Expertengremien genügend interdisziplinär und ausgewogen zusammengesetzt sind, um die Politik in dieser Krise mit Gelassenheit und Augenmaß und ohne Interessenkonflikte beraten zu können.
Es geht ja nicht nur um die Beurteilung der Gefährlichkeit der Pandemie, sondern auch um die Abschätzung des tatsächlichen Nutzens der Maßnahmen für die Eindämmung der Pandemie; und nicht zuletzt geht es auch um die Beurteilung der durch die Maßnahmen möglicherweise verursachten Kollateralschäden – nicht nur für die Gesundheit, sondern auch für Gesellschaft, Demokratie, Kultur, Bildung und Wirtschaft.
Die Besetzung des Expertenrates
Der Expertenrat der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel war beispielsweise mit acht Experten besetzt, die sich bereits zuvor fast ausschließlich für deutlich strengere Maßnahmen mit dem zentralen Ziel, die Infektionszahlen massiv zu senken, stark gemacht haben.
Die Zero-Covid-Strategie war mit der Virologin Melanie Brinkmann vertreten. Einen Kritiker der Maßnahmen suchte man hingegen vergebens.
Der Virologe Hendrik Streeck, der im Jahr 2020 schnell zur Zielscheibe der medialen und politischen Kritik wurde, kritisierte im Februar letzten Jahres:
Es ging schnell mehr um Gut und Böse als um die Suche nach dem richtigen Weg. Das nahm teils fast intolerante Züge an, es herrschte die Totalität eines einzigen Arguments statt Diskurs.
Und dabei merkte man viel zu spät: Richtiger Umgang mit Corona ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, der längst nicht nur virologische Aspekte hat. Da fehlten die facettenreichen Stimmen vieler Fachleute, die am Ende doch alle das gleiche Ziel hatten.
Inwiefern der Expertenrat der aktuellen Bundesregierung ausreichend mit Menschen unterschiedlicher Fachrichtungen und Meinungen besetzt ist, gilt es zu fragen.
Wie steht es um eine ausreichende Abwägung?
Klaus Stöhr kritisierte im letzten Sommer:
Mehr als 60 Prozent der Todesfälle betrafen Menschen, die über 70 Jahre alt waren. Viele dieser Personen kamen aus der stationären Pflege, allerdings war niemand in dem Gremium, der aus der Geriatrie kam, niemand, der sich mit Alten- und Pflegeheimen und der Betreuung von Personen in solchen Einrichtungen professionell auseinandersetzt.
Es gab auch keinen Krankenhaushygieniker oder einen Vakzinologen, der weiß, wie Impfstoffe entwickelt und zugelassen werden.
Stattdessen gab es in dem Expertenrat auch Mikrobiologen, die kundtaten, vor der Pandemie noch nie etwas mit Corona und praktischer Seuchenbekämpfung zu tun gehabt zu haben.
Was für mich völlig unverständlich ist: wie man Leute in ein solches Gremium berufen kann, die eine Null-Covid-Strategie verfolgen. (...) jeder Medizinstudent im sechsten Semester weiß sicherlich, dass eine Null-Covid-Strategie null realistisch ist. Hier wurde die Hoffnung und der Wunsch zur Erwartung stilisiert.
Mit einer notwendigen Untersuchung, inwiefern die deutsche Politik Opfer von Gruppendenken wurde, geht die ebenfalls zu untersuchende Frage einher, ob bei den beschlossenen Maßnahmen tatsächlich eine ausreichende Abwägung stattgefunden hat, dass diese in den gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen nicht mehr Schaden anrichten, als dass sie vor Schaden bewahren.
Qualität der Vorhersagen
Die Gefahren des Gruppendenkens auf Entscheidungen und Vorhersagen hat der Politikwissenschaftler Philip E. Tetlock in seinem Buch "Superforecasting" eingehend untersucht, das das Wall Street Journal als "das wichtigste Buch über Entscheidungsfindung seit Daniel Kahnemans Schnelles Denken, Langsames Denken" bezeichnet.
Tetlock ist der Frage nachgegangen, was ein Team von Menschen kennzeichnet, das die genauesten Vorhersagen trifft. Sein aufwendiges The Good Judgment Project offenbarte, dass nach bestimmten Kriterien ausgewählte Amateur-Prognostiker in ihren Vorhersagen Experten erstaunlicherweise im Schnitt bei Weitem übertrafen.
Tetlocks Forschung belegt die Gefahr des Gruppendenkens und führt ihn zu dem Schluss:
Die Kombination einheitlicher Perspektiven führt nur zu mehr vom Gleichen, während leichte Variationen zu leichten Verbesserungen führen. Es ist die Vielfalt der Perspektiven, die die Magie wirken lässt.
Dabei betont Tetlock das besondere Kennzeichen der sogenannten "Superforecaster":
Je vielfältiger ein Team ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass einige über Informationen verfügen, die andere nicht haben.
Auch einen weiteren Rat von Tetlock sollte sich jeder Experte zu Herzen nehmen:
Hinter der Superprognose steht ein Geist der Bescheidenheit - das Bewusstsein, dass die Komplexität der Realität überwältigend ist, unsere Fähigkeit, sie zu verstehen, begrenzt und Fehler unvermeidlich sind.
Das Wissen existiert, wie ein Rat von Experten aussehen muss, um in hochkomplexen Situationen möglichst treffende Vorhersagen und damit Entscheidungen fällen zu können. Ist dieses Wissen aber während der Corona-Jahre auch in die Praxis umgesetzt worden?
Dies müsste ein transparenter Untersuchungsausschuss klären.
Der Wissenschaft folgen
"Follow the Science" war der Schlachtruf im Kampf gegen Corona. Das Befolgen der Wissenschaft galt als Zeichen einer verantwortungsvollen Politik und Haltung. Was jedoch dabei gänzlich übersehen wurde, war die Tatsache, dass es die Wissenschaft nur sehr selten gibt. Wie auch die eine richtige Antwort.
Allerdings wurde oftmals genau dieser Eindruck vermittelt, wobei einmal mehr ein Untersuchungsausschuss klären müsste, welche Rolle hierbei Medien, Politik und Wissenschaft genau gespielt haben.
Der Autor und Journalist Cory Doctorow betont eine Erkenntnis, die allzu leicht in Vergessenheit geraten ist:
Wir lehren unseren Kindern schon in der Schule: Ihr müsst an die Wissenschaft glauben! Wir lehren ihnen aber nicht, wieso das so ist. Wissenschaft bedeutet immer, bestehende Hypothesen zu widerlegen, sich zu widersprechen, bis man an den Punkt kommt, an dem man von einer Wahrheit sprechen kann. Man müsste den Menschen eigentlich viel mehr Epistemologie beibringen, ihnen also erklären, wie Wissen entsteht.
Auch der Mathematiker und Statistiker William Byers ist überzeugt:
Die meisten Menschen setzen Wissenschaft mit Gewissheit gleich. Sie sind der Meinung, dass Gewissheit ein Zustand ist, der keine Nachteile mit sich bringt, sodass die wünschenswerteste Situation eine absolute Gewissheit wäre. Wissenschaftliche Ergebnisse und Theorien scheinen eine solche Gewissheit zu versprechen.
Aber: "Die Ungewissheit ist real. Der Traum von absoluter Sicherheit ist eine Illusion."
Kommunikation und Wissenschaftsähnlichkeit
Ein grundlegendes Thema, das ebenfalls dringend einer transparenten Aufklärung bedarf, ist die staatliche Kommunikation. Der Psychologe Michael Bosnjak, der im Jahr 2022 wissenschaftlicher Direktor für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring am RKI war, kritisiert:
Wir leben in einer Demokratie und nicht einer Expertokratie. Dementsprechend ist es die Politik, die die Entscheidungen im Land trifft.
Der große Fehler war, dass die Entscheidungsträger der Bevölkerung verschwiegen haben, dass die Corona-Maßnahmen nicht immer auf robusten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhten.
Statt offen die vorhandene Unsicherheit einzugestehen und auf den verantwortungsbewussten Bürger zu setzen, entschied sich die Regierung auf eine gänzlich andere Form der Kommunikation.
Der Soziologe Heinz Bude, der die Regierung während der Corona-Jahre beraten hat, berichtete in einer Podiumsdiskussion an der Universität Graz, dass man im Expertengremium überlegt habe, wie man aufseiten der Bevölkerung "Folgebereitschaft", erzeugen könnte:
Wir haben gesagt, wir mussten, wir müssen ein Modell finden, um Folgebereitschaft herzustellen, das so ein bisschen wissenschaftsähnlich ist.
Dieses "wissenschaftsähnliche" Modell war die Idee des sogenannten "Flatten the Curve". Dieser Ausdruck stammte von keinem Wissenschaftler, sondern vom Journalisten Thomas Puyeo. Bude gestand offen ein:
Das haben wir geklaut von einem Wissenschaftsjournalisten, haben wir nicht selbst erfunden.
Es wurde also gezielt Wissenschaftlichkeit suggeriert, obwohl den Verantwortlichen bewusst war, dass der vermittelte Inhalt keineswegs wissenschaftlich abgesichert war.
Bereits im Jahr 2022 hatte Bude in einem Artikel für das Fachjournal Soziologie geschrieben, man habe auf die Vorgehensweise zur Pandemieeindämmung in China geschaut und sich gefragt, "ob solche Maßnahmen in Deutschland durchführbar und vor allem legitimierbar seien".
Es sei offensichtlich gewesen, dass "eine Politik des Zugriffs auf das Verhalten der Einzelnen starker Rechtfertigung bedarf".
Es ging also darum, "Zwänge zu verordnen und Zustimmung zu gewinnen und dabei die Deutungshoheit in der Hand zu behalten".
Der Welt-Journalist Jörg Phil Friedrich ist befremdet:
Wenn man in einem freiheitlich-demokratischen Land Zwangsmaßnahmen wie Ausgangssperren, Schulschließungen und Kontaktreduzierungen implementieren will, wie sie dort eigentlich nicht legitim sind, dann muss man sich ein paar Bilder ausdenken, die das Vertrauen der Leute in die Wissenschaft und in wissenschaftliche Modelle ausnutzen, sodass die Leute selbst aus einer Art Einsicht in die wissenschaftlich begründete Notwendigkeit nach Maßnahmen rufen, die gemäß dem Geist unserer Verfassung eigentlich nicht legitim sind.
Kommunikation der Angst
Ein weiterer Aspekt der Kommunikation war das Setzen auf Angst. Der Germanist Otto Kölbl und der Politikwissenschaftler Maximilian Mayer hatten Anfang März 2020 ein Papier mit dem Titel "Von Wuhan lernen – es gibt keine Alternative zur Eindämmung von Covid-19" veröffentlicht, in dem er einen streng autoritären Ansatz bei der Pandemiebekämpfung forderte.
Zwei Wochen später wurden beide vom Bundesinnenministerium in einen internen Corona-Expertenrat berufen, der aus acht Personen bestand. Wie Die Welt berichtet, brauchte das Ministerium "damals, im ersten Lockdown, eine fundierte Analyse, um 'Entscheidungen zu Maßnahmen und ihren Wirkungen einschätzen, vorbereiten und treffen' zu können, so schreibt es Staatssekretär Kerber per E-Mail. Es gehe auch darum, 'weitere Maßnahmen präventiver und repressiver Natur' planen zu können".
Der "Worst Case"
Eine der zentralen Stellen des daraus resultierenden Strategiepapiers war der Absatz "Schlussfolgerungen für Maßnahmen und offene Kommunikation". Darin wird gefordert, den "Worst Case" zu verdeutlichen:
Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden:
1) Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls. Die Bilder aus Italien sind verstörend.
2)"Kinder werden kaum unter der Epidemie leiden": Falsch. Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.
Nachdem ein Rechercheverbund von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR über das Papier berichtete, antwortete die damalige Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, "die Ansicht des verantwortlichen Mitautors und (spiegele) nicht die der Bundesregierung wider. Ein Szenarienpapier beschreibt dem Charakter nach mögliche und fachlich begründbare Szenarien auf der Basis von Fakten und enthält weder Wertungen noch Empfehlungen".
Für den Welt-Journalisten Tim Röhn bleibt die Frage bestehen:
"Ist das die Sprache von seriösen Wissenschaftlern, handelt es sich um eine angemessene Einschätzung für ein Papier der Bundesregierung?"
Besonders pikant an der bewusst gewählten Kommunikation, die Wissenschaftsähnlichkeit und damit eine eindeutige wissenschaftliche Einschätzung suggeriert und auf Angst als Methode setzt: Menschen befolgen Maßnahmen eher, wenn ihnen die Unsicherheit der aktuellen wissenschaftlichen Forschung mitgeteilt wird.
Dies war das Ergebnis einer Umfrage im Jahr 2020, die das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und die Charité in Auftrag gegeben hatten und über die Telepolis seinerzeit berichtete.
Fragen an die Regierungskommunikation
Im Hinblick auf die Kommunikation der Regierung fordern die Gesundheitswissenschaftler und Medizinwissenschaftler Ingried Mühlhauser, Johannes Pantel und Gabriele Meyer in ihrem aktuellen Beitrag in der "Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen":
In Deutschland wurden während der Covid-19-Pandemie die Standards für eine evidenzbasierte Risikokommunikation wenig beachtet. Häufig war die öffentliche Berichterstattung einseitig, unvollständig und missverständlich.
Bedrohungsszenarien haben emotionalen Stress und unnötige Angst ausgelöst. Eine systematische und umfassende Aufarbeitung der Pandemiemaßnahmen ist auch in Deutschland dringlich geboten.
Dabei müsste eine kritisch-konstruktive Analyse der medialen Risikokommunikation von Expert*innen, Politiker*innen und Medien ein zentrales Element der Aufarbeitung sein. Die Ergebnisse sollen helfen, aus der vergangenen Pandemie zu lernen, um für künftige Krisen besser vorbereitet zu sein.
Beispielhafte Fragen
Die RKI-Files offenbaren wiederholt, dass die interne Diskussion deutlich pluralistischer waren, als die kommunizierten Ergebnisse oftmals vermuten ließen.
Die RKI-Files bieten auch eine Ausgangsbasis für eine Reihe von grundlegenden Fragen zu den Corona-Maßnahmen und einen Ausgangspunkt für weiteren konkreten Aufklärungsbedarf. Einige sollen hier stellvertretend genannt werden.
Tim Röhn hat in der Welt eine Reihe der Fragen zusammengestellt:
• Zur 3G-Regel:
"Die Politik (hat) offenbar gegen die Empfehlungen des RKI gehandelt. Dieses sprach sich am 5. März 2021 dem Protokoll zufolge gegen Privilegien beim Nachweis des Impfstatus aus. Das RKI nannte diese "fachlich nicht begründbar und nicht sinnvoll", auch die WHO lehne dies wegen mangelnder Fälschungssicherheit und aus ethischen Gründen ab."
• Zum Thema Schulschließung, wo Deutschland europaweit besonders streng war, notiert Röhn:
"Am 4. Dezember 2020 analysierte der Krisenstab des RKI die Lage im Ausland und kam für Deutschland zu dem Schluss, dass an Schulen das Infektionsgeschehen nicht maßgeblich vorangetrieben werde. Das Sitzungsprotokoll vom 9. Dezember verkündet Ähnliches. Dort heißt es wörtlich, das Ausmaß der Kontaktbeschränkungen 'reiche nicht aus', um die hohen Fallzahlen einzudämmen, dazu müssten unter anderem auch Schulen geschlossen werden. Doch darauf folgte die Anmerkung: 'Schulen sind nicht das Mittel, um die Pandemie einzudämmen, das zeigen auch andere Länder.' Beim Bund-Länder-Gipfel unter der Leitung von Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wurde vier Tage später beschlossen, die Präsenzpflicht an Schulen auszusetzen und diese 'grundsätzlich' zu schließen."
• Auch der Lockdown ist angesichts der RKI-Files ein zu untersuchendes Thema. Röhn bemerkt:
"Am 16. Dezember 2020 bewertet das RKI die Wirksamkeit von Lockdowns weltweit. Im Protokoll heißt es: 'Lockdowns haben zum Teil schwerere Konsequenzen als Covid selbst.'"
Das viel diskutierte Thema der Masken untersucht Prof. Oliver Hirsch, Wirtschaftspsychologie, mit Schwerpunkt Grundlagen und Methoden, auf Basis der RKI-Files für Cicero. Im RKI-Protokoll vom 30. Oktober 2020 heißt es, es gebe "keine Evidenz für die Nutzung von FFP2-Masken außerhalb des Arbeitsschutzes". Hirschs Fazit lautet:
• "Den Verantwortlichen war von Beginn an bewusst, dass es keine begründbare wissenschaftliche Evidenz für eine generelle Maskenpflicht in der Bevölkerung gibt."
• "Die Einführung der FFP2-Maskenpflicht erfolgte sehenden Auges nicht aus epidemiologisch evidenzbasierten Gründen. Sämtliche Argumente gegen die FFP2-Maske im öffentlichen Raum waren den Verantwortlichen positiv bekannt. Folglich kann die Einführung nur sachwidrige Motive gehabt haben."
• "Den Verantwortlichen war bereits vor der breit einsetzenden Impfkampagne bekannt, dass die Impfung keine sterile Immunität herbeiführen kann. Sie bestanden aus diesem Grund in ihrer eigenen Logik auf eine Maskenpflicht auch bei Geimpften. Die später eingeführte 2G-Regel hatte somit zu keinem Zeitpunkt eine ernsthafte wissenschaftliche Grundlage."
• "Die weiteren Erkenntnisse verbergenden Schwärzungen indizieren die Korrektheit der vorgenannten Annahmen 1-3 und legen das Motiv einer weiteren Verdunklung nahe."
"Waren spätere Maskenpflichten also unsinnig, war das allen längst klar", fragt Martin Rücker in der Berliner Zeitung und antwortet: "So eindeutig liest sich das nicht, wenn man den vollständigen Absatz betrachtet." "'Bisherige Studien zur Wirksamkeit von FFP2-Masken sind daran gescheitert, dass Masken nicht oder nicht korrekt getragen wurden', heißt es darin weiter. 'Negativstudien sind kein Beleg dafür, dass Masken nicht schützen.'"
Die hier beispielhaft aufgeführten Fragen, die die RKI-Files aufwerfen, deuten vermutlich nicht auf Fehler des RKIs hin, sondern darauf, dass wahrscheinlich deren Erkenntnisse nicht von der Politik ausreichend berücksichtigt worden sind.
Die Darstellung einer Person, die bei Beratungen im Krisenstab dabei war und gegenüber der Berliner Zeitung anonym bleiben möchte, scheint dies zu bestätigen:
"Oft habe die Evidenz gefehlt. Aber die Infektionszahlen stiegen, es gab Druck zu entscheiden. Die damalige RKI-Spitze um Wieler und Schaade habe intern jede Diskussion zugelassen und jedes Gespräch ergebnisoffen geführt. Kritisch sieht die Person, wie sich die verantwortlichen Politiker äußerten. Sie hätten der Öffentlichkeit keine Unsicherheiten zumuten wollen – und ihre Entscheidungen zu häufig mit der Behauptung begründet, die wissenschaftliche Lage sei eindeutig. Was sie aber oft nicht war."
Eine Untersuchung müsste also zwingend klären, inwiefern dieser Vorwurf zutrifft und was hierfür die Gründe sind.
Die genannten Beispiele für Fragestellungen, die eine ernst gemeinte und transparente Untersuchung zu beantworten versuchen müsste, erheben selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
In Teil 2 werden besonders Fragen rund um die Datenerhebung, die Impfung und die grundrechtseinschränkenden Maßnahmen im Mittelpunkt stehen.