Corona! Was die Politik der Krise über die Krise der Politik verrät
- Corona! Was die Politik der Krise über die Krise der Politik verrät
- Mediales Superspreading: Angst und Schuld
- Äußerer und innerer Lockdown: ein Verleugnungszusammenhang
- Die unbekannte Lebensrealität der Bevölkerung
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Wer vollmundig proklamiert, dass jeder Corona-Tote einer zu viel sei, löst keine Probleme, sondern heizt eine Krise an, um sich an ihr zu wärmen
1. Politische Handlungsstrategien in pandemischen Zeiten
Der ursprünglich medizinische Begriff "Krise" ist abgeleitet vom altgriechischen Verb "krinein", das "scheiden" oder "entscheiden" bedeutet. Unter einer "Krisis" wird der Scheitelpunkt eines Krankheitsgeschehens verstanden, an dem das Schicksal des Patienten auf dem Spiel steht. Wir gehen gemeinhin, dieser Wortbedeutung folgend, von einer Krise als etwas Objektivem aus. Ist nicht SARS-CoV-2, gemeinhin und auch hier im weiteren "Corona" genannt, fraglos – mit den Worten der Bundeskanzlerin – "die größte Herausforderung unseres Landes seit dem Zweiten Weltkrieg"? Wenn man es so will, ja. Aber wer will es eigentlich so? Und wessen Schicksal ist es, das in der Corona-Krise auf dem Spiel steht?
Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, sollten wir zunächst zur Kenntnis nehmen, dass der weltweit unterschiedliche Umgang mit der Corona-Pandemie über Diskussionen zur präventiven Wirksamkeit von Alltagsmasken hinausreicht. Grob vereinfacht lassen sich drei verschiedene Strategien in drei unterschiedlichen Regionen der Welt identifizieren:
Die erste besteht schlicht darin, die Dinge laufen zu lassen, d. h. nur wenig zu tun, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Wo, wie in den Ländern der Subsahara, nur ein Bruchteil der Bevölkerung älter als 65 Jahre ist und, durch diese spezifische Altersstruktur, die Letalitätsrate von SARS-CoV-2 in etwa auf dem Niveau einer Grippe-Epidemie in den entwickelten Ländern des Westens liegt, kann es tatsächlich sein, dass "die Kur schlimmer als die Krankheit" ist. Unter ohnehin schon prekären Bedingungen müssen etwa längerfristige strikte Lockdowns wegen ihrer unmittelbaren Folgen, Arbeitslosigkeit und Verarmung, schnell an ihre Grenzen stoßen. Mehr oder weniger hingenommen wie andere Krankheiten auch, gibt es so zwar Corona, aber keine "Corona-Krise".
Die zweite Strategie besteht darin, die Ausbreitung des Virus mit allen Mitteln zu stoppen. Erfolgreich ist sie in den Ländern Ost- und Südostasiens, die die hoch individualisierte Freiheit, so wie sie sich historisch vor allem in Europa und (Nord-)Amerika herausgebildet hat, nicht kennen. Wo aber individuelles Handeln in sehr hohem Maße kollektiven Normen unterworfen ist, werden staatlich-autoritäre Maßnahmen von der Bevölkerung weitgehend widerspruchslos und ohne innere Ambivalenz umgesetzt. Autoritäres politisches Handeln bleibt im Umfeld des Selbstverständlichen, Nicht-Rechtfertigungsbedürftigen. Weil es so von vornherein an"Krisenbewusstsein" fehlt (und im Ergebnis auch an Corona), lässt sich schwerlich noch von einer "Corona-Krise" sprechen.
Neuseeland und Australien, eigentlich Länder der "westlichen Welt", stellen diesbezüglich – jedenfalls bis heute – Sonderfälle dar. Weil sie durch ihre Insellage verhältnismäßig leicht abschirmbar sind und frühzeitig rigide, aber zeitlich und regional begrenzte Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus einleiteten, konnten sie dies mit weitgehender Zustimmung der Bevölkerung tun, begünstigt auch durch den Umstand eines medial weltweit aufbereiteten Scheiterns der dritten Strategie gegen die Corona-Pandemie.
Diese dritte, eigentlich als einzige wirklich "politisch" zu nennende Strategie der expliziten "Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen" in den demokratischen Ländern des Westens scheint, wenn man es mit einem nüchternen Blick auf die Zahlen betrachtet, nicht nur in Bergamo oder New York an ihre Grenzen gelangt. Ein knappes Jahr nach dem bekanntgewordenen Ausbruch der Pandemie liegen die Zahlen der Corona-Toten in Deutschland pro Woche, umgerechnet auf die Bevölkerungszahl gleichauf mit denen der USA (eines Landes, dessen noch amtierender Präsident die Injektion von Desinfektionsmitteln als Therapie erwägt) und Schwedens (eines Landes, dessen Gesundheitsbehörde das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes weder verpflichtend sehen will, noch generell empfiehlt) und werden von allen größeren Industrieländern nur noch von denjenigen Großbritanniens übertroffen. Erfolge sehen anders aus.
Welche mehr oder weniger differenzierten Maßnahmen in Deutschland gegen die Ausbreitung des Virus auch ersonnen wurden - weil es gerade in einer Großen Koalition naturgemäß weniger darum geht, etwas richtig, als vor allem darum, nichts richtig falsch zu machen, musste es am Ende auf das Einfallsloseste in der Pandemiebekämpfung hinauslaufen. Ob nun nachhaltig oder auch nicht: ein Shutdown geht immer.
Es soll an dieser Stelle aber nicht darum gehen, mögliche Alternativen zur deutschen Corona-Politik im Rückblick zu diskutieren. Vermutlich hat Deutschland, im Vergleich zu anderen Nationen, zunächst einfach etwas Glück gehabt, sei's, weil die erste Welle der Pandemie erst verhältnismäßig spät nach Deutschland schwappte, sei's, weil – welch unwahrscheinlicher Zufall – die größeren Karnevalsveranstaltungen im Rheinland wegen Starkwindes abgesagt wurden. Was Politiker im weiteren dann von ihm hielten und als "alternativlos" verkündeten, war dem Virus ganz offensichtlich ziemlich gleichgültig.
Zunehmend gleichgültig aber auch – und das wird ein weiteres notwendiges Thema dieser Erörterungen sein – seinen (Über-)Trägern. Wobei es an auf der Hand liegenden Gründen dafür wahrlich nicht fehlt: die inkonsistenten und unangemessenen Handlungs- und Kommunikationsstrategien politisch und administrativ Verantwortlicher, die medizinischen und logistischen Fehleinschätzungen des Gesundheitsministeriums, das teilweise hanebüchene Handeln entfesselter Ordnungs- und überforderter Gesundheitsämter. Über all das wäre – und sei's im Nachhinein – mit Verantwortlichen zu reden, die vorsichtshalber schon einmal konzedieren, dass man sich "viel zu verzeihen haben wird".
Über eines aber wird man vermutlich nicht reden wollen: dass man mit jeder Entscheidung über die "Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen" die Verantwortung dafür übernehmen muss, dass zugunsten eines Lebens in einer als menschenwürdig und lebenswert empfundenen Gesellschaft manche Menschen (früher) sterben. Wir alle "wissen" um das schwer Erträgliche – aber keiner darf es aussprechen: dass schon die Selbstverständlichkeiten unseres Lebensstils unschuldige Opfer fordern. Diesen Zusammenhang muss verleugnen, wer unumwunden "freie Fahrt für freie Bürger" fordert. Allerdings nicht nur er.
Denn wie kann man de jure den absoluten Wert des menschlichen Lebens behaupten, de facto aber in politischen Entscheidungen (oder auch in seinem Alltagsverhalten) mit Menschenleben rechnen? Die einfachste Strategie, einen solchen "double bind" auszuhalten, besteht darin, von vornherein nicht allzu genau hinzusehen. So werden etwa die ca. 120.000 Todesfälle, die jedes Jahr allein in Deutschland auf das Konto des Rauchens gehen, nicht als politisch relevantes Problem wahrgenommen. Weil sie weder unerwartet noch auf einen Schlag auftauchen, liefern sie nicht das Potential für eine Krise.
Die "echte" Krise, so erschreckend, so unlösbar sie zunächst anmutet, stellt daher keineswegs einen objektiven Tatbestand, sondern eine politisch gewollte und medial aufbereitete Perspektive dar. Und es ist deren erschreckende Attraktivität, die sich in der Zwiespältigkeit unserer "Angstlust" spiegelt, die uns so empfänglich für die Krise macht - auch deshalb, weil uns diese Angstlust paradoxerweise psychisch entlastet.
Mit dem ihr entspringenden Ruf nach der korrelativen, quasi-theologischen Figur des politischen Heilsbringers verleugnet sie in besonderer Weise die eigentliche (politische) Verantwortung. Anstatt verantwortlich im Sinne der Verhältnismäßigkeit zu sein, ist man nun unverhältnismäßig betroffen.
Und diese gefühlte unverhältnismäßige Betroffenheit ist das sicherste subjektive Kennzeichen einer Krise, die heldenhafte Entscheidungen von Politikern und Opfer von uns allen verlangt. Probleme, auch große Probleme, könnten in differenzierter Weise von Fachleuten angegangen werden - eine Krise hingegen fordert von Politikern, dass nun alle Register gezogen werden.
Ein Rückblick: die in Deutschland beschlossenen Corona-Maßnahmen waren zunächst darauf ausgerichtet, unter den Bedingungen hoher Unsicherheit einen flächendeckenden Zusammenbruch des Gesundheitssystems mit der Gefahr einer menschenunwürdigen Triage abzuwenden. Massive zeitweilige Freiheitseinschränkungen wie auch die erheblichen psychosozialen und wirtschaftlichen Nebenfolgen eines Shutdowns legitimierten sich also durch den Rückgriff auf das oberste staatliche Gebot zur unbedingten Wahrung der Menschenwürde. Und tatsächlich schien diese "flatten the curve" genannte Strategie im Hinblick auf ihr ursprüngliches Ziel zunächst erfolgreich zu sein.
Nach einer gewissen Schockstarre noch im Frühling begann man jedoch langsam von einer verwaltungsgestützten Beherrschbarkeit der Pandemie auszugehen. Anstatt nun aber – spätestens ab dem Frühsommer – eine effektive Vorsorge für den Schutz der vulnerabelsten Bevölkerungsteile im Hinblick auf den kommenden Herbst und Winter zu treffen, also für ein ernsthaftes Problem die bestmögliche (technische) Lösung zu suchen, inszenierte die Politik stattdessen Corona als permanente Krise.
Für diese Inszenierung musste aber die ursprüngliche, defensive Zielsetzung eines "flatten the curve" aufgegeben werden. Und so wurde das oberste Ziel staatlichen Handelns, der Schutz der Menschenwürde, unauffällig durch das scheinbar undiskutierbare Postulat des "Jeder Tote ist einer zu viel" ersetzt.
Wenn erfolgreiche Politik darin besteht, umstandslos Maßstäbe zu verrücken, dann war das im Kontext der Corona-Krise wohl der Fall. Waren Menschen in "geschichtlichen" Zeiten immer wieder dazu bereit, für die Verheißung eines Lebens in Freiheit notfalls zu sterben, muss sich diese Rangfolge im Entwurf einer Welt verkehren, in der Freiheit nur dann noch gewollt und gewährt werden kann, wenn Gesundheit und Leben vorrangig geschützt wurden.
Wer in dieser Weise – um die Terminologie Foucaults zu verwenden – "biopolitisch" argumentiert, fühlt sich aber auch verpflichtet, Lebensschutz mit allen Mitteln durchzusetzen. Diese Intention zeigt sich unübersehbar bereits im folgenden Auszug aus dem unter Mitwirkung von Wissenschaftlern erstellten Strategiepapier "Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen" des Bundesministeriums des Innern (als Verschlusssache "nur für den Dienstgebrauch" eingestuft - zunächst geleakt, mittlerweile auch durch das BMI der Öffentlichkeit zugänglich gemacht):
Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden:
1) Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls. Die Bilder aus Italien sind verstörend.
2) "Kinder werden kaum unter der Epidemie leiden": Falsch. Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.
3) Folgeschäden: Auch wenn wir bisher nur Berichte über einzelne Fälle haben, zeichnen sie doch ein alarmierendes Bild. Selbst anscheinend Geheilte nach einem milden Verlauf können anscheinend jederzeit Rückfälle erleben, die dann ganz plötzlich tödlich enden, durch Herzinfarkt oder Lungenversagen, weil das Virus unbemerkt den Weg in die Lunge oder das Herz gefunden hat. Dies mögen Einzelfälle sein, werden aber ständig wie ein Damoklesschwert über denjenigen schweben, die einmal infiziert waren.
Die psychische Wirksamkeit solcherart vermittelter "Einsichten" ist allerdings an ihre massenmediale Verbreitung geknüpft. Die aber ließ nicht lange auf sich warten. Nun sind zwar die Medien nicht bloße Manipulationsinstrumente einer allmächtigen Politik und mit demselben Recht könnte man auch davon sprechen, dass die Bilder und Berichte der Massenmedien die Politik vor sich hertrieben. Tatsächlich aber gibt es eine Wahlverwandtschaft zwischen beiden, weil sich ihre systemischen Ziele, die Erzeugung von Aufmerksamkeit und der Erhalt von Macht, ebenso überschneiden, wie der zu ihrer Legitimation beschworene Bezug auf das öffentliche Wohl.
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