Corona! Was die Politik der Krise über die Krise der Politik verrät

Seite 2: Mediales Superspreading: Angst und Schuld

Man kann also von einer gemeinsamen Anstrengung von Politik und Massenmedien in der Corona-Krise sprechen, die zur Moralisierung und Normierung der öffentlichen "Debatte" führte, zur weitgehenden Konformität in erbaulichen Meinungsartikeln mit bedrohlichem Unterton. Aber selbst die äußerste Konsequenz dieser Moralisierung, die zuweilen kaum noch verhüllte Propaganda für die Denunziation als Volkssport, zeitigte wenig nachhaltige Erfolge im Kampf gegen die Pandemie. Doch warum nicht? Die Antwort könnte sein, dass, um Luhmanns Diktum zu relativieren, möglicherweise doch nicht alles, was wir über die Welt wissen, aus den Medien stammt. ("Fast alles", sagt Luhmann denn auch an anderer Stelle.)

Zu Beginn der "ersten Welle" in Deutschland fehlte fast jeder direkte Erfahrungsbezug als Korrektiv zur medialen Sensationsberichterstattung. Das führte zu dem Paradox, dass, obwohl zunächst praktisch keiner irgendjemand an Covid-19 Erkrankten persönlich kannte, die fast ausschließlich medial vermittelte Angst in der Bevölkerung in unverhältnismäßigem Grade anstieg.

Erst in dem Maße, wie – mit zunehmenden Fallzahlen – auch Covid-19-Erkrankte im Verwandten-, Freundes- oder Bekanntenkreis auftauchten, wurde die Gefahreneinschätzung "realistischer". Die Angst vor dem Unbekannten ist immer größer als die vor der konkreten Gefährdung.

Der statistische Normalfall nach einer Coronainfektion, außerhalb der Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe, ist es eben, dass man nach einer leichten oder mittelschweren Symptomatik wieder in etwa so in seinen normalen Lebenszusammenhang zurückkehrt, wie man ihn verlassen hat, gewöhnlicherweise auch ohne langandauernde Spätfolgen. Um es an einem vollkommen anders gelagerten Beispiel zu verdeutlichen: Die Chance auf einen Hauptgewinn im Lotto bleibt trotz des Umstandes gering, dass sich jede Woche tatsächlich Glückliche finden lassen.

Und so bestätigen, nolens volens, die Medien, so sehr sie sich auch bemühen, schwere Verläufe und beängstigende Spätfolgen auch unter jungen Menschen in Schockberichterstattung zu präsentieren, unter anderem durch das bis heute andauernde Fehlen von Titelbildern wirklich prominenter Corona-Opfer im erwerbstätigen Alter die wachsende Vermutung der meisten: dass es eben in Wirklichkeit doch nicht so schlimm ist, wie zunächst behauptet.

Von Boris Johnson über Jair Bolsonaro und Donald Trump bis hin zum unverwüstlichen Silvio Berlusconi (84), oder, um auch die deutschen Politiker Jens Spahn und Friedrich Merz zu nennen: sie alle erheben sich wieder vom Krankenbett wie der Phönix aus der Asche. Und auch der objektive Blick auf die alterungsadjustierte Sterbestatistik für Deutschland im Jahre 2020 lässt doch stark daran zweifeln, ob es berechtigt ist, in der Art teilweise kriegsberichterstattungsartiger Sondersendungen von einem "Massensterben" zu sprechen.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: eine realistischere Gefahrenabschätzung macht einen noch nicht zum Corona-Leugner. Wenn man den Meinungsumfragen in diesem Punkt trauen darf, hält eine breite Mehrheit die getroffenen Maßnahmen von Bundes- und Landesregierungen grundsätzlich für erforderlich. Aber wo eine ständig aufgesteigerte Kulisse von Angst und Dauerpanik erforderlich ist, die Bevölkerung "bei der Stange zu halten", riskiert man ebenso wenig vernünftige Gegenreaktionen. Durch die Presse ging etwa das makabre Bild einer Gruppe von Aktivisten in Zittau (Sachsen), die einen Sarg mit sich führten und Parolen wie "Wo sind eure Toten? Ihr habt uns 25.000 Tote versprochen!" skandierten.

Es ist der hohe Altersschnitt der an Covid-19 Gestorbenen, durch den die Toten, wenn nicht im Ausnahmefall durch Verwandtschaftsbezug oder das Pflegepersonal, für die Normalbevölkerung unsichtbar bleiben. Gleichwohl gibt es sie. Dort aber, wo es tatsächlich zu einer deutlichen lokalen Übersterblichkeit kommt, etwa bei Über-80-Jährigen in Pflegeheimen, sind Medien auffallend weniger interessiert vor Ort. Mehrfach vorerkrankte Demente sind möglicherweise medial nicht ganz so präsentabel.

Vor allem durch diese Diskrepanz zwischen medialer und gelebter Realität – und nicht durch eine an sich bestehende Offenheit für Verschwörungstheorien – wird es zunehmend normal, zu bezweifeln, dass man von Politik und Medien die "ganze Wahrheit" erfährt. Im übrigen nicht einmal ganz zu Unrecht. Denn der liberale Anspruch auf Meinungsvielfalt und kritisch geführte Diskussion verstummt in der Selbstzensur einer moralisierenden Sensationsberichterstattung, die angesichts eines immer gebieterischer auftretenden medialen Imperativs (Auflage! Einschaltquoten! Klickzahlen!) zunehmend auch die Qualitätsmedien infiziert.

Ergänzt wird sie durch von Selbstgerechtigkeit triefenden Meinungsartikel, die sich darin überbieten, aus vorauseilendem Gehorsam "social distancing" als erstrebenswerte Lebensform zu propagieren, die die Krise vor allem als Chance zur moralischen Ertüchtigung und inneren Einkehr, zur Achtsamkeit und Selbstwahrnehmung verkaufen. Wohl dem, der sich diesen Luxus, auch ökonomisch, leisten kann. Und der ernsthaft glaubt und auch lebt, was er da schreibt:

Nur eben noch mal raus, um eine Rolle Geschenkpapier zu kaufen? Wird schon nichts passieren. Wegen der letzten drei Arbeitstage im Jahr schnell noch eine Notbetreuung in der Kita organisieren - auch wenn es dann mit der Vorquarantäne bis zum Weihnachtsbesuch bei den Großeltern zu knapp wird? Geht ja jetzt nicht anders. Sich mit dem einen Kumpel doch in der Wohnung treffen, weil es im Garten einfach zu kalt ist? Wird schon gut gehen. Wenn viele Menschen solche Ausnahmen machen und dabei nur an ihr eigenes potenzielles Ansteckungsrisiko denken, vergessen sie etwas ganz Entscheidendes: Das Risiko potenziert sich für alle. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass viele sich mit Corona anstecken - auch die, die am Ende an Covid-19 sterben werden - steigt.

Die ZEIT vom 20.12.20

Mit dem moralischen Grundsatz des Corona-Imperativs "sich so zu verhalten, als ob man infiziert sei", wird die Prämisse einer liberalen Gesellschaft, dass, was nicht verboten ist, als erlaubt gilt, auf den Kopf gestellt. Dieses Kunststück gelingt umso leichter, wo in der "neuen Normalität" von Geheiß und Gehorsam mit flankierendem Bußgeldkatalog den Menschen schon vorher der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.

Zumindest auf Dauer aber wird es für jeden anstrengend, auf dem Kopf stehen zu bleiben. Die allermeisten Menschen halten sich angesichts einer nachvollziehbaren Gefahrenlage durchaus – und möglicherweise auch über längere Zeit hinweg – an klare und begründete Regeln, und das gerade, so möchte man hinzufügen, in Deutschland. Nicht aber, wenn man durch willkürlich erscheinende, wissenschaftlich kaum nachvollziehbare Verhaltensvorschriften, selbstwidersprüchliche, ständig sich verändernde Verordnungen und vor allem durch immer weiter gehende moralische Forderungen ein Volk von Alltagssündern erzeugt.

Um die Ethik gegen derlei sich in Moralität wälzende Anmutungen in Stellung zu bringen: die vom bürgerlichen Desinfektions-Journalismus so gepriesenen, im übrigen sehr deutschen "Freuden der Pflicht" haben immer einen leicht perversen Beigeschmack. So rigoros und selbstkasteiend die propagierte "Liebe zum Gesetz" auch daherkommt, so wenig ist sie identisch mit der kantischen "Achtung vor dem Gesetz", die das (Sitten-)Gesetz als notwendige, weil vernünftige Einschränkung anerkennt.

In der impliziten Selbstvergewisserung eigener Rechtschaffenheit ersetzt der moralische Furor zur Not denn auch die logische Konsistenz. Es wäre sonst schwer begreiflich, wie man einerseits, wie Alexander Unzicker in "Telepolis", in einer "Zornesrede" wüten kann:

Faulheit, Bequemlichkeit und Rücksichtslosigkeit über das Leben von Mitmenschen zu stellen, ist aber exemplarisch für das Verhalten der Bevölkerung in der Pandemie. [...] Abgesehen von ganz wenigen Ausnahmesituationen, die epidemiologisch nicht ins Gewicht fallen, kann jeder, und zwar beruflich und privat, den Kontakt mit den Mitmenschen so gestalten, dass eine Ansteckung ausgeschlossen ist.

Um dann zu behaupten:

Niemand hat einen Schaden davon, oder muss große Nachteile befürchten, wenn er seine Corona-Infektion bekannt macht, nicht einmal eine Stigmatisierung.

Wie kann man übersehen, dass unter der ätiologischen Perspektive von "Faulheit, Bequemlichkeit und Rücksichtslosigkeit" die objektiv diagnostizierte Infektion zum subjektiven Eingeständnis von Schuld geraten muss? Die tugendhafte Herrschaft des Verdachts, dass jeder – und sei's mittelbar – selbst an seiner Krankheit und ihrer Weiterverbreitung schuld ist, führt gerade nicht dazu, dass jeder Corona-Infizierte dem Gesundheitsamt vollständige Aufklärung über die mutmaßlichen Umstände seiner Infektion gäbe. Schon diese einfache Überlegung lässt mit einem Mal das Herzstück der deutschen Corona-Politik fraglich werden: die effektive Nachverfolgung von Kontakten durch Befragungen der Gesundheitsämter.

Statistiken des RKI zeigen, dass immer weniger – aktuell nur knapp noch die Hälfte – der positiv Getesteten einen Infektionszeitpunkt (und -ort) angeben können (oder wollen - es sei denn, man nähme an, dass die Zahl symptomlos positiv Getesteter dramatisch angestiegen ist). Reden wir erst gar nicht von all denjenigen, die nach einem positiven Schnelltest sich nicht mehr einem "offiziellen" PCR-Test zur Bestätigung unterziehen und stattdessen (hoffentlich!) wenigstens einige Tage in freiwilliger Quarantäne verbleiben.

Der Triumph des "selbst schuld!", den die bürgerliche Presse empfindet, wenn sich etwa ein "bekannter 'Querdenker'" (und erst recht ein Donald Trump!) als coronainfizierter "Superspreader" herausstellt, wird nur mühsam unter den - trotz allem - mit Gönnermiene geäußerten Genesungswünschen verborgen. Doch sind es wirklich nur Verschwörungstheoretiker, ekstatische Freikirchler, gewissenlose Jugendliche auf klandestinen Corona-Parties, rücksichtslose Maskenverweigerer unter allen Umständen, die als Treiber der Pandemie namhaft gemacht werden können? Gibt es sie dafür überhaupt in genügender Anzahl (und, ironisch zurückgefragt: sind die meisten von ihnen nicht schon an Corona verstorben)?

Wenn man sich in der deutschen Durchschnittsrealität umsieht, hat man eigentlich wenig Anlass anzunehmen, dass diese in ihrer Breite aus verantwortungslosen Schlendrianen besteht, bei denen man zwangsläufig immer wieder "den Zügel anziehen", "Maßnahmen nachschärfen" muss – und was dergleichen verräterische Metaphern noch über das Verhältnis von Regierenden und Regierten in pandemischen Zeiten aussagen mögen.

Mit Verhaltenssteuerungen einhergehende Grundrechtseinschränkungen kann man zur Abwehr einer Notlage, unter Abwägung aller Umstände auf wissenschaftlicher Grundlage, auf demokratischem Weg und für eine beschränkte Zeit beschließen, ohne damit per se Undemokratisches und Unmenschliches zu verlangen. Und es gibt durchaus (technische) Alternativen, mit einer Pandemie auf grundrechteschonende Weise umzugehen: die Entwicklung von Impfungen und Medikamenten, der flächendeckende und für jedermann mögliche Einsatz von Schnelltests, funktionierenden Corona-Warn-Apps und Luftreinigern

Ein wenig mehr Phantasie und (finanzielle) Entschlusskraft täten hier sicherlich gut. So würde etwa die Impfbereitschaft einer skeptischen Bevölkerung (und nicht nur sie!) vermutlich deutlich verbessert, wenn jeder Impfwillige eine "Anerkennungszahlung" auch für die zuvor erlittenen Einschränkungen der Corona-Zeit von, sagen wir, 500 Euro erhielte. (Ganz zu schweigen von den daraus resultierenden volkswirtschaftlichen (Wieder-)Anschubeffekten. Aber das ist ein anderes Thema.)

Wem das alles aber immer noch nicht reicht; wer sich unter keinen Umständen mit der augustinischen Gelassenheit des "plena securitas in hac vita non expectanda", der Einsicht in die letztliche Unabänderlichkeit der Sterblichkeit des Menschen bescheiden mag, sei zumindest gewarnt. Denn in einer nach biopolitischen Gesichtspunkten organisierten Gesellschaft, in der der Zweck letztlich die Mittel heiligt, greift die Vision absoluter Kontrolle über das Virus hinaus nach den Menschen selbst. Virologen, Infektiologen und Epidemiologen haben ihre eigene, fachlich bedingte Realität (und oft auch: Weltsicht).

Dass der Mensch ein soziales Lebewesen ist, können sie nur bedingt gutheißen. Denn das reale menschliche Verhalten bleibt – jedenfalls in unserer heutigen Welt – nur unvollkommen kontrollierbar. Als leiblich verfasstes, soziales Wesen hat man zwangsläufig, um es mit den Worten Emmanuel Macrons zur Erklärung seiner Corona-Infektion auszudrücken, "Momente der Unachtsamkeit" – mögen sie nun unabsichtlich geschehen oder, als unbedenklich eingeschätzt, rational verantwortet sein.

Shit happens. Wer das nicht akzeptieren und stattdessen das Allzumenschliche zum Grundproblem erklären will, begibt sich auf den Weg eines sozialtechnologischen Totalitarismus aus Infektionsschutzgründen.

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