Corona! Was die Politik der Krise über die Krise der Politik verrät

Seite 3: Äußerer und innerer Lockdown: ein Verleugnungszusammenhang

Trotzdem korreliert - paradoxerweise - die Radikalität infektiologischer Forderungen eher negativ mit ihrem Erfolg. Wenn der offizielle Diskurs der "moral correctness", ein drakonisches Bußgeldregister oder die Androhung widersinniger Anordnungen es unmöglich machen, sich "Momente der Unachtsamkeit" auch nur einzugestehen, verleugnet man sie stattdessen. Nun ist die psychische Disposition zur Verleugnung paradoxerweise gerade bei denjenigen ausgeprägt, die anfällig für höchste moralische Forderungen an sich selbst – und an andere – sind.

Wer vorher "aus tiefster Überzeugung" auch die widersinnigsten Corona-Regeln verteidigte, dann aber nach einem "kleinen Moment der Unachtsamkeit" wochenlang seinen Geruchs- und Geschmackssinn einbüßt, ohne sich darüber auch nur zu wundern; wer mit schweren Erkältungssymptomen vor einer Schulklasse stand, aber genau "wusste", dass es sich dabei unmöglich um eine Corona-Infektion handeln konnte, muss – von außen gesehen – Befremden hervorrufen.

Und doch bzw. gerade deshalb sollte man vorsichtig sein, nun Gleiches mit Gleichem, nämlich: moralischer Empörung, zu vergelten. Dem Verleugnenden ist seine Verleugnung, so schwer das auch von außen nachzuvollziehen sein mag, tatsächlich nicht als solche bewusst. Er handelt "im besten Glauben" - und damit strukturell vergleichbar mit den offenen Corona-Leugnern, mit denen er doch nichts, aber auch gar nichts, gemeinsam haben will.

"Verleugnung" ist hier in dem allgemeineren Sinne gemeint, den Anna Freud ihm in "Das Ich und die Abwehrmechanismen" gibt. So wie "Verdrängung" die Abwehr innerer Forderungen leisten soll, stellt "Verleugnung" (einer Wahrnehmung) eine Abwehr gegen die äußere Realität dar. Um verständlicher zu machen, warum diese Abwehr auch "wider besseren Wissens" stattfinden kann, weist Anna Freud auf einen bemerkenswerten Zusammenhang hin:

Es ist auffällig, wie bereit die Erwachsenen sind, gerade auf der Basis dieses Zusammenhangs mit Kindern zu verkehren. Sehr viel von dem Vergnügen, das der Erwachsene überhaupt dem Kind bereitet, entsteht durch seine Mithilfe bei solchen Verleugnungen. Man versichert im täglichen Leben auch dem kleinsten Kind, "wie groß" es schon ist und behauptet, allem Augenschein zum Trotz, daß es stark ist "wie der Vater", geschickt "wie die Mutter", tapfer "wie ein Soldat", ausdauernd wie irgendein "großer Bruder". Es ist verständlicher, daß alle Tröstung des Kindes sich solcher Umkehrungen bedienen muß. Die eben geschlagene Wunde tut, nach den Versicherungen des Erwachsenen, "schon gar nicht mehr weh", die verhaßten Speisen "schmecken gar nicht schlecht".

Freud, A., Das Ich und die Abwehrmechanismen, Frankfurt 1984, S. 86

Man ersetze die Rolle der "Erwachsenen" durch die der Politiker, die sich ja in der Krise zur Stabilisierung der Psyche ihrer unmündiger Wähler als Repräsentanzen elterlicher Autorität ausgeben. Nun kann man eher verstehen, warum ihr Erfolg gerade da am größten ist, wo ihr konkretes Handeln aller Vernunft und Realität Hohn spricht. Ihr Erfolg beruht auf dem Einverständnis mit der Verleugnung.

Nur so – und gerade so! – ist zu erklären, dass ein notorischer Realitätsverdreher wie Markus Söder zwischenzeitlich zum beliebtesten Corona-Politiker Deutschland aufsteigen konnte. Dass sein mechanischer Ruf nach den "härtesten Maßnahmen" sich mit der Rolle des generösen Landesvaters in der Tolerierung von Starkbierfesten und der "Wirtshaus-Wiesn" logisch schlecht verträgt, dass sein Ceterum censeo "Bayern vorn" traurigerweise auch für die absolute Anzahl der Corona-Toten im Bundesländer-Vergleich, dass seine Aussage, jeder Tote sei einer zu viel, offensichtlich nur für ganz bestimmte Tote gilt und sich nicht mit den Anstrengungen seiner Partei in der Verhinderung eines Tempolimits auf Autobahnen oder der Verschleppung des vollständigen Verbots der Tabakwerbung verträgt – wer, ja wer, wollte es ihm denn verdenken?

In der Spitze erreichte Zustimmungswerte, wie man sie sonst nur aus Diktaturen kennt, machen deutlich, dass die Demokratien des Posthistoire in der Krise nach ähnlichen psychologischen Mustern wie jene funktionieren. Warum sollte es also der Politik um die Lösung einer Krise gehen, wo doch gerade deren fortgesetzte Existenz sie selbst legitimiert.

Und doch muss die Politik den Anschein erwecken (und dazu muss sie es selbst glauben), dass ihr alles an einer Lösung der Krise gelegen ist. Um diesen Widerspruch aufzulösen und weil sich die Krise von der Krise allein in Form eines Verleugnungszusammenhang nähren kann, muss dieser auch die Politiker einschließen, die an seiner Entstehung mitwirken.

So werden die gravierenden Einschränkungen, die von den Angehörigen einer Generation gefordert werden, die von einer Covid-19-Erkrankung gewöhnlicherweise nur im Ausmaß einer mittelschweren Erkältung betroffen sind, vom Corona-Kernkabinett der Kinderlosen, von Angela Merkel, Helge Braun, Olaf Scholz, Peter Altmaier und Jens Spahn, als solche wohl noch nicht einmal wahrgenommen.

Das zeigt sich nicht nur an weltfremden Ratschlägen der Bundeskanzlerin, sondern auch am Fehlen jedweden Verständnisses für die zentrale Bedeutung sozialer Kontakte im Kinder- und Jugendalter. Welche Unverfrorenheit es eigentlich bedeutet, mit dem Gestus ethischer Selbstverständlichkeit Solidarität mit den Großeltern einzufordern, ohne dafür auch nur im Ansatz ernsthaft bereit zu sein, den anthropogenen Klimawandel zu stoppen, der die Zukunft ebendieser zur Solidarität genötigten Generation bedroht, das kann man wohl lediglich psychologisch erklären: mit einem "Abwehrmechanismus des Ich", einer Verleugnung. Natürlich ist "Verleugnung" zunächst ein individualpsychologisches Phänomen. Aber sein Auftreten wird begünstigt durch gesamtgesellschaftliche Umstände.

Denn die "Risikogruppe", die den Bundestag qua Altersstruktur maßgeblich bevölkert, fühlt und gibt sich äußerst solidarisch. Alt und gefährdet – so funktioniert Verleugnung – sind andere. In Wahrheit aber sind die so oft zu Illustrationszwecken bemühten Großeltern, mit denen man gerne auch noch das nächste Weihnachtsfest feiern würde, niemand anders als: sie selbst.

Zwar nimmt man es der genannten Ministerriege einschließlich der Bundeskanzlerin durchaus ab, dass sie sich denselben Einschränkungen unterwerfen würden, die sie auch von der Normalbevölkerung fordern - weil sie aber nicht so leben wie die Normalbevölkerung, sind es für sie auch nicht dieselben Einschränkungen. Ein harter Lockdown, sagen wir, auf dem neuen Anwesen Jens Spahns, dürfte, objektiv gesehen, auch für einen Durchschnittsverdiener mit seiner Familie aushaltbar sein.

Und – so sehr auch eine gefühlte Talkshow-Dauerpräsenz seiner Maxime zu widersprechen scheint, unnötige Kontakte zu vermeiden – kann man sich aus der subjektiven Perspektive eines Karl Lauterbachs wirklich vorstellen, dass man in einer Freizeitgestaltung im "social distancing" etwas vermissen könnte? Zwangsneurotiker, Eigenbrötler und Soziophobe finden im Shutdown ihr natürliches Habitat, das sie zusätzlich nun noch mit moralischem Anstrich verschönern können. An ihrem Wesen soll die Welt genesen.

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