Corona! Was die Politik der Krise über die Krise der Politik verrät
Seite 4: Die unbekannte Lebensrealität der Bevölkerung
- Corona! Was die Politik der Krise über die Krise der Politik verrät
- Mediales Superspreading: Angst und Schuld
- Äußerer und innerer Lockdown: ein Verleugnungszusammenhang
- Die unbekannte Lebensrealität der Bevölkerung
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Man muss nicht gleich "Wir sind das Volk" skandieren, um der heutigen Politik vorzuwerfen, dass sie mit der Lebensrealität ihrer Wählerschaft kaum noch etwas zu tun hat. Und gleichwohl, so berechtigt dieser Vorwurf auch sein mag -, er geht ins Leere. Die Lebensrealität der Durchschnittsbevölkerung interessiert Politiker grundsätzlich kaum.
Was sie umtreibt, ist der Zugriff auf eine durch die Erzeugung von Angst und Schuld manipulierbare Weltwahrnehmung der breiten Masse ihrer Wähler. Ihnen geht es daher auch höchstens noch in zweiter Linie um die Vertretung von Interessen – und das müssen im konkreten Fall nicht einmal mehr die ihrer Wähler sein. Stattdessen schafft eine "Identitätspolitik" personalisierte Identifikationsangebote.
Wenn das Posthistoire als eine Zeit begriffen werden kann, in der die Gesellschaft in lauter einzelne Funktionssysteme zerfällt, die zwar noch miteinander interagieren, aber den Bezug auf das Allgemeine fast vollständig aufgegeben haben – dann ist ein "oberes" Funktionssystem, demokratische Politik, die sich traditionell durch ihren Bezug auf das Allgemeine (das allgemeine Wohl, der allgemeine Wille) legitimiert, von der Gefahr des Verschwindens in die reine Repräsentativität bedroht, etwa so wie zuvor die Monarchien des 20. Jahrhunderts.
Denn die Funktion der Politik, allgemeine Regeln zu erlassen, übernehmen nach und nach andere, ideologiefreie Systeme (Verwaltung, Wissenschaft und Technik). Politik in der Posthistoire klammert sich an das, was ihr noch bleibt: die Macht – und deren sie erweiternde Anwendung im Sinne der These Carl Schmitts: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet".
Nun galt schon immer: wem es in der Politik nicht (auch) um Macht geht, der bleibt wirkungslos. Dass nun aber politische Macht ausschließlich als Selbstzweck begriffen wird, ist - zumindest in Demokratien - neu. Das Erschrecken der traditionellen Politik über die Berlusconis dieser Welt war daher zunächst echt. Mittlerweile wirkt es heuchlerisch.
Die Behauptung der Personifikation des Bösen in der Gestalt Donald Trumps ist die allzu offensichtliche Projektion demokratisch gehemmter Politikerwünsche, die unter dem Diktat der "political correctness" verleugnet werden müssen. Deshalb nämlich sind Politiker vom Schlage Donald Trumps so schwer zu ertragen, weil sie schamlos aussprechen und ausagieren, was jeder weiß, aber keiner hören will -, dass das zentrale Auswahlkriterium des erfolgreichen Politikers bei der Auswahl konkreter Handlungsalternativen lautet: Verschafft es mir mehr Macht?
Längst schon hat sich der Typus des medial inaugurierten Autokraten als Erfolgsmodell installiert. Und gerade seine Skrupellosigkeit kann als Beweis seiner Eignung gelten. Ein anständiger Mensch, der gemeinhin als jemand begriffen wird, der sich auf das Allgemeine als Maßstab oder zumindest noch als Korrektiv seines Handelns bezieht, ist in der Funktionslogik des Posthistoire ein schlechter Politiker. Über die Grenzen einer Kommunalpolitik, in der noch "der Mensch zählt", kommt er nicht hinaus.
Gerade aber in der Krise will man verzweifelt daran glauben, dass die Politik (oder jedenfalls doch die demokratische Politik) ihre Entscheidungen aus selbstlosen Motiven trifft, dass sie von Vernunft und Weitsicht bestimmt sind. Und ein Großteil der Empörung über die Verfügung unsinniger oder selbstwidersprüchlicher Corona-Maßnahmen kommt daher, dass man hinter ihnen, kaum verhüllt, lediglich noch die Profilierungssucht und das Machtinteresse einzelner Politiker wahrnimmt.
Doch wir übersehen bei der Empörung über einzelne Politiker immer wieder das Grundsätzliche: dass die Politik im Posthistoire viel eher daran interessiert ist, Krisen zu erschaffen und zu unterhalten, als sie zu lösen. Denn allein die Krise legitimiert sie noch.
Und so folgt ab Beginn dieses Jahrtausends eine Krise im globalen Maßstab der anderen: vom "war on terror" (2001) über die Finanz- (2009), Euro- (2011), Flüchtlings- (2015) zur Corona-Krise (2020). Und spätestens mit dem von einem amtierenden US-Präsidenten initiierten "Sturm auf das Kapitol" ist auch den Naivsten klargeworden, dass man schwerlich noch den Ausdruck einer "Verfassungskrise" nennen kann, was in Wahrheit die Agonie des als politische Selbstverständlichkeit vorausgesetzten demokratischen Systems ist.
Doch geht nicht jede Krise einmal vorüber? Wird man sich – durch technische Lösungen, vor allem wohl durch Impfungen und Medikamente – nicht bald schon an die Corona-Zeit erinnern wie an einen bösen Traum? Und sollte man nicht darauf hoffen, dass all das Durchlebte und Durchlittene nicht auch etwas Gutes zur Folge haben wird?
Wir haben nicht ohne Grund über Verleugnung gesprochen. Schon diejenigen, die etwa mittelfristig auf eine grundsätzliche Verbesserung des Gesundheits- und Pflegesystems hoffen, werden aller Voraussicht nach weitgehend enttäuscht werden. Und eigentlich wissen sie es jetzt schon. Erst recht diejenigen, die darauf verweisen, dass das entschlossene Handeln der Politik darauf deuten könnte, dass nach der Corona-Pandemie endlich auch andere, vielleicht noch drängendere Probleme angegangen werden.
Sie alle – um es mit einem sprechenderen Ausdruck zu sagen – "lügen sich in die Tasche", wenn sie der Politik immer noch ein echtes Interesse am allgemeinen Wohl unterstellen wollen. Probleme werden von Politikern vor allem danach beurteilt, in welchem Maße ihre Zuspitzung der eigenen Popularität zuträglich ist. In Gestalt einer Krise dienen sie einer in der Agonie liegenden Politik zur Verlängerung ihrer Daseinsberechtigung.
So nährt sich die Politik von der Krise wie der Vampir vom Blut. Und es ist deshalb primär die Krise selbst, nicht ihre Lösung, um die es der Politik geht. Denn eine Politik, die erfolgreich darin wäre, Krisen zu verhindern, bevor sie überhaupt erst entstehen, unterläge dem Präventionsparadox: die von ihr unternommenen Anstrengungen würden für unnötig gehalten, "weil doch überhaupt nichts passiert". Es ist, wissenschaftlich-technisch gesehen, vollkommen klar, was zur Abwehr des anthropogenen Klimawandels, jetzt(!), gemacht werden müsste. Und es ist vollkommen klar, dass Politik aus Eigeninteresse eben genau das verhindern wird, bis ihr das Wasser – buchstäblich – bis zum Hals steht.
Doch sehen wir nicht allzu schwarz? Können wir nicht genauso gut darauf vertrauen, dass jede Krise irgendwann einmal gelöst wird? Warum sollten wir es nicht auch schaffen, Corona ein für allemal zu besiegen? Wer solch weitreichende Hoffnungen hat, sollte lieber auf wissenschaftlich-technische Erfolge als auf populistische Politiker vertrauen, die die rücksichtslose Konsequenz aus ihren Fensterreden gezogen sehen wollen, dass "jeder Tote einer zu viel ist".
Wenn in mehreren Bundesländern Gesundheitsämter dazu auffordern, Kinder unter Corona-Verdacht in einem Raum dauerhaft getrennt von Eltern und Geschwistern unterzubringen und bei Zuwiderhandlung mit der Unterbringung des Kindes in einer geschlossenen Einrichtung drohen; wenn Menschen in Alten- und Pflegeheimen gegen ihren Willen teilweise monatelang "zu ihrem Besten" von ihren Angehörigen, selbst von ihren Lebenspartnern, isoliert werden; wenn Krankenhäuser unter Berufung auf Infektionsschutzgründe Sterbenden den Trost eines letzten Besuchs nächster Angehöriger verweigern - dann ahnt man, wohin die Reise im Zweifel zu gehen droht: in die schöne neue Welt der Biopolitik, in der Gesundheit und Leben die höchsten Werte sind.
Noch sprechen wir über Extremfälle. Noch ist das Erinnerungsvermögen an die nicht allzu ferne Zeit der "alten Normalität" nicht gänzlich geschwunden. Doch es schaudert einen, sich auszumalen, wie leicht etwa ein gewissenloser und entschlossener Politiker wie Donald Trump unter dem Siegel des Infektionsschutzes im Jahre 2020 einen totalitären Staat in den USA hätte errichten können. Wie phantasielos – oder genauer: wie verleugnend – muss man sein, sich eine derartige dystopische Zukunft auf europäischem Boden nicht einmal vorstellen zu können.
Dr. Hans von Fabeck, Jg. 1961, unterrichtet Philosophie am Oberstufen-Kolleg des Landes NRW an der Universität Bielefeld. Von ihm sind u.a. folgende Bücher erschienen: Jenseits der Geschichte. Zur Dialektik des Posthistoire (München 2007); Vom Sinn zum Spiel. Ein Leitfaden in die Postmoderne (Wien 2015).
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