Coronavirus: Das Aufrechterhalten der Maßnahmen trotz einer dramatisch gesunkenen Sterberate
Seite 4: Konsequenzen für die Beurteilung der vom Coronavirus ausgehenden Gefahr
- Coronavirus: Das Aufrechterhalten der Maßnahmen trotz einer dramatisch gesunkenen Sterberate
- Eine empirische Prüfung der Erklärung des Robert-Koch Instituts
- Mögliche Erklärungen
- Konsequenzen für die Beurteilung der vom Coronavirus ausgehenden Gefahr
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Fasst man die vier möglichen Gründe für den Rückgang des Fall-Verstorbenen-Anteils über alle Altersgruppen hinweg zusammen, beruht ein Teil des Rückgangs darauf, dass aufgrund der massiven Erhöhung der Testanzahl die Dunkelziffer an zwar infizierten aber nicht entdeckten Personen reduziert wurde. Der beobachtete Fall-Verstorbenen-Anteil spiegelt damit zunehmend die tatsächliche Wahrscheinlichkeit wider, an einer Coronavirus-Infektion zu versterben, welche laut Antikörperstudien in etwa bei 0,27% liegt.
Dass der aktuell beobachtete Anteil versterbender Personen mit 0,1-0,2% sogar noch darunterliegt, kann entweder darauf zurückzuführen sein, dass sich die Gefährlichkeit des Virus abgeschwächt hat, dass ein größerer Anteil der Hoch-Risiko-Personen bereits verstorben ist, oder dass es kaum noch Infektionen gibt und die als "infiziert" gemeldeten Fälle zum Großteil in Wirklichkeit gesund sind, aber falsch-positive Testergebnisse erhalten haben.
Welche der drei Möglichkeiten zutrifft, lässt sich aktuell schwer sagen. Hinsichtlich der Konsequenzen für die Beurteilung der vom Coronavirus ausgehenden Gefahr ist es glücklicherweise aber relativ irrelevant, welche der Möglichkeiten zutrifft. In den ersten beiden Fällen wäre das Coronavirus selbst inzwischen als weitaus weniger gefährlich einzustufen, im dritten Fall wäre die vom Coronavirus ausgehende Gefahr für die Bevölkerung gering, weil aktuell nur noch ein sehr geringes Infektionsgeschehen zu beobachten wäre. Unabhängig davon, welcher Fall konkret zutrifft, wäre die vom Coronavirus für die Bevölkerung ausgehende Gefahr inzwischen in jedem Fall vergleichsweise gering.
Die Überlastung des Gesundheitssystems und die möglichen Langzeitfolgen
Hinsichtlich der Bewertung der Gefahrenlage werden über die Sterberate hinaus oft weitere Kriterien wie eine mögliche Überlastung des Gesundheitssystems oder mögliche Langzeitfolgen für erkrankte Personen genannt.
Hinsichtlich der Überlastung des Gesundheitssystems lässt sich sagen, dass sich ein vergleichbares Muster wie bei der Sterberate auch beim Anteil der als infiziert gemeldeten Personen zeigt, welche hospitalisiert werden müssen. Auch dieser Anteil ist von 22% Mitte April auf inzwischen 5% zurückgegangen. Zudem ist es so, dass selbst in der Hochphase Mitte April bei weitem keine Überlastung des Gesundheitssystems zu erkennen war. So standen beispielsweise laut den damaligen Lageberichten selbst in der Hochphase mehr als 40% der Intensivbetten leer und nur knapp 20% der belegten Intensivbetten waren von Patienten mit Coronavirus-Infektionen belegt.
Hinsichtlich der Langzeitschäden ist zunächst festzuhalten, dass es sich bei den berichteten Fällen um relativ seltene Ereignisse handelt und vergleichbare Langzeitschäden auch bei anderen viralen Erkrankungen wie der Grippe auftreten. So sagte der Virologe Hendrik Streek kürzlich in einem Interview auf die Frage, was von Berichten über schwere Corona-Schäden wie Gehirnschäden bei jungen Leuten ohne Vorerkrankung zu halten sei:
Solche Fälle existieren, sind aber sehr selten. Schwere Langzeitfolgen in seltenen Fällen sind bei viralen Erkrankungen kein neues Phänomen, deshalb ist Alarmismus fehl am Platz.
Hendrik Streek
Weiterhin bleibt noch abzuwarten, inwiefern sich die ersten Hinweise auf mögliche, durch das Coronavirus hervorgerufene Langzeitschäden wissenschaftlich bestätigen lassen. So ist es methodisch relativ schwierig zu klären, inwiefern beobachtete Langzeitschäden ursächlich wirklich auf das Coronavirus zurückgehen. So könnten manche Langzeitschäden auch eine Nebenwirkung der Behandlung darstellen. Überdies bleibt zu klären, ob sich bei den betroffenen Personen manche der beobachteten Beschwerden auch ohne eine Coronavirus-Infektion eingestellt hätten. Zudem wurden einige Studien dramatisiert. So twitterte beispielsweise der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach mit Bezugnahme auf eine Studie, dass angeblich auch viele relativ milde Fälle Monate später erheblich mit Symptomen zu kämpfen hätten, obwohl in der angesprochenen Studie in Wirklichkeit nur hospitalisierte Personen untersucht worden waren.
Das angebliche "Präventionsparadox"
Ein Argument, dass man in Reaktion auf die Forderung nach der Aufhebung der Maßnahmen aufgrund geringer Fallzahlen oft hört, ist das von manchen sogenannte "Präventionsparadox" (für den eigentlichen Hintergrund dieses Begriffs siehe hier). Demnach seien die Fallzahlen deswegen so gering, weil die Maßnahmen wirken würden, und deswegen dürfe man die Maßnahmen nicht aufheben.
Um solche Argumente fundiert bewerten zu können, ist folgende Geschichte des großen Psychologen Paul Watzlawik hilfreich:
In einer Fußgängerzone steht ein Mann und klatscht alle 10 Sekunden in die Hände. Als ein Passant ihn fragt, was er denn tue, antwortet er: "Ich vertreibe die wilden Elefanten." Erstaunt entgegnet der Passant: "Aber hier sind doch gar keine Elefanten." Worauf der klatschende Mann zufrieden lächelt und feststellt: "Sehen Sie, das Klatschen wirkt."
Paul Watzlawik
Diese Geschichte veranschaulicht, dass aus dem alleinigen Beobachten, dass beim Durchführen einer Maßnahme gleichzeitig geringe Fallzahlen auftreten, nicht geschlossen werden kann, dass die Maßnahme etwas bringe. Man kann sich hierzu als Beispiel den Effekt der Einführung der deutschlandweiten Maskenpflicht ansehen. Die Maskenpflicht wurde am 27. April eingeführt, eine Wirkung auf die Anzahl der gemeldeten Infektionen ist laut RKI aufgrund des Zeitabstands zwischen Infektionszeitpunkt und Meldezeitpunkt frühestens nach 2-3 Wochen zu erwarten. Abbildung 3 zeigt den Effekt der Maskenpflicht auf die Fallzahlen:
Da die Fallzahlen zu dem Zeitpunkt des möglichen Wirksamwerdens der Maskenpflicht bereits auf einem sehr geringen Niveau waren, lässt sich aus solchen Beobachtungen keine Evidenz für die Wirksamkeit ableiten. Um einen Effekt wissenschaftlich nachzuweisen, bräuchte man eine Vergleichsgruppe ohne Maskenpflicht. Würde man dann beobachten, dass die Fallzahlen in der Gruppe mit Maskenpflicht geringer sind, ließe sich allerdings noch immer nicht notwendigerweise irgendetwas daraus ableiten. Ein Beispiel ist die sogenannte "Jena-Studie":https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/113598/COVID-19-Jena-hat-durch-fruehe-Maskenpflicht-viele-Infektionen-vermieden:, in welcher die frühe Einführung der Maskenpflicht in Jena mit anderen Städten ohne Maskenpflicht verglichen wurde.
Das Problem bei solchen Studien ist: Je nachdem, welche Vergleichsgruppe man wählt, können die Ergebnisse anders aussehen. Abbildung 4 zeigt auf der linken Seite die Ergebnisse aus der "Jena-Studie" und auf der rechten Seite den Vergleich der Fallzahlen zwischen Spanien, als einem Land mit einer der extremsten Maskenpflichten (landesweit gilt dort eine Pflicht zum Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung an allen öffentlichen Orten innerhalb und außerhalb geschlossener Räume sowie in öffentlichen Verkehrsmitteln ab 6 Jahren), und Schweden, als einem Land ohne Maskenpflicht (Quelle: Our World in Data:
Wie Abbildung 4 eindrücklich illustriert, lassen sich aus Studien, in denen einfach verschiedene Orte mit unterschiedlichen Maßnahmen zum Vergleich ausgewählt werden, relativ beliebige Ergebnisse ableiten. Um die Wirkung einer Maßnahme wirklich evidenzbasiert nachzuweisen, sind Studien notwendig, in welchen Gruppen von Personen zufällig einer Bedingung mit bzw. ohne Maßnahme zugewiesen werden (sog. randomisierte kontrollierte Studien). Solche Studien existieren bisher nicht in Bezug auf das neue Coronavirus. Allerdings existieren solche Studien beispielsweise zur Effektivität von Masken in Bezug auf das Grippevirus, und dort heißt es in einer kürzlich erschienenen Überblicksarbeit (Übersetzung durch den Autor):
Wir fanden keine empirische Evidenz dafür, dass chirurgische Gesichtsmasken zum Verringern der Übertragung einer laborbestätigten Influenza etwas beitragen, weder wenn sie von Infizierten selbst getragen werden, noch, wenn sie von der allgemeinen Bevölkerung getragen werden um die Anfälligkeit zu vermindern.
Angesichts der bisherigen Studienlage zur Wirksamkeit von Masken auf die Eindämmung von Viren und aufbauend auf einer kritischen Bewertung der inzwischen existierenden Studien zum neuen Coronavirus schließt Prof. Ines Kappstein, Fachärztin für Mikrobiologie, Virologie, Infektionsepidemiologie, Hygiene und Umweltmedizin, in einem kürzlich erschienenen Artikel in der Fachzeitschrift Krankenhaushygiene up to date, der auch von der Ärztekammer als Ärztliche Fortbildung zertifiziert wurde:
"Der Gebrauch von Masken im öffentlichen Raum ist schon allein aufgrund des Fehlens von wissenschaftlichen Daten fragwürdig. Zieht man dazu noch die erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen in Betracht, müssen Masken nach den aus Krankenhäusern bekannten Regeln im öffentlichen Raum sogar als ein Infektionsrisiko betrachtet werden.“
Ähnlich ist die Befundlage in Bezug auf die weiteren ergriffenen Maßnahmen. Wie Abbildung 5 zeigt, wurden in Deutschland Maßnahmen wie die Schließung von Kindertagesstätten und Schulen oder der "Lockdown" zu einem Zeitpunkt etabliert, als die Virusausbreitung bereits gering war (R-Wert unter 1), ein zusätzlicher Effekt der Maßnahmen lässt sich nicht erkennen:
Auch hier trifft also womöglich die obige Geschichte vom Klatschen in der Fußgängerzone zum Vertreiben wilder Elefanten zu (für eine vertiefte Diskussion siehe folgenden Artikel). In der Tat weiß man aus Studien zu früheren Epidemien, dass beispielsweise Schulschließungen nur marginale Auswirkungen auf die Verbreitung von SARS-1 in China, Hongkong und Singapur hatten.
Hinsichtlich des sogenannten "Präventionsparadox" müsste man zunächst also einmal die Wirksamkeit der Maßnahmen wissenschaftlich fundiert nachweisen. In Bezug auf die Beobachtung einer seit Wochen sinkenden Sterberate kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu, welcher eine Erklärung über das Wirken von Maßnahmen unwahrscheinlich macht. Wenn überhaupt, dann könnten die ergriffenen Maßnahmen die Wahrscheinlichkeit reduzieren, dass sich weitere Personen infizieren. Es ist aber nicht wirklich ersichtlich, wie die ergriffenen Maßnahmen, nachdem man sich infiziert hat, die Schwere des Krankheitsverlaufs - also z.B. die Sterberate - beeinflussen sollen. Spekulationen, dass sich beispielsweise das Tragen von Alltagsmasken womöglich auf die Krankheitsschwere auswirken könnte, hält selbst Christian Drosten für äußerst unwahrscheinlich. So sagte er bei der Expertenanhörung im Bundestag am 9. September:
Wir wissen nicht, ob nicht die Verwendung von Alltagsmasken in großer Verbreitungsweite, ob das nicht dazu führt, dass im Durchschnitt die erhaltene Virusdosis in einer Infektion geringer ist, und dass dann im Durchschnitt auch der Krankheitsverlauf weniger schädlich sein könnte. Das ist eine reine Spekulation, dazu gibt es keine wissenschaftlichen Belege. Und es gibt umgekehrt eben Länder, von denen man sagen kann, es wurde durchgängig von Anfang an Maske getragen, dazu gehören sehr viele asiatische Länder, und trotzdem ist es zu großen Ausbrüchen gekommen.
Christian Droste
Schlussfolgerung
Angesichts der beschriebenen Datenlage ist die Beobachtung, dass der Anteil der gemeldeten Coronavirus-Fälle, welcher verstirbt, auf einen sehr geringen Wert gesunken ist, in der Tat so zu interpretieren, dass die vom Coronavirus für die Bevölkerung ausgehende Gefahr inzwischen vergleichsweise gering ist. Es wäre demnach wirklich an der Zeit, der Bevölkerung diese gute Nachricht zu vermitteln.
Angesichts dessen, dass verglichen mit anderen Krankheiten wie der Grippe damit keine wirklich große Gefahr mehr vom Coronavirus für die Bevölkerung ausgeht, wäre es zudem an der Zeit, die epidemische Lage von nationaler Tragweite als beendet zu erklären und die einschneidenden Maßnahmen aufzuheben.
Prof. Dr. Christof Kuhbandner ist Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie VI an der Universität Regensburg.