Coronavirus-Todesfälle: Über die fragwürdige Diagnostik und die irreführende Darstellung in Regierungserklärungen

Bild: NIAID/CC BY-2.0

Eine evidenzbasierte Aufklärung

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Zum Einstieg in die Pressekonferenz am 25. November zur Verkündigung der Verlängerung des Teil-Lockdowns und der Verschärfung der Maßnahmen verwies Bundeskanzlerin Angela Merkel folgendermaßen auf die an diesem Tag vom Robert-Koch Institut (RKI) berichtete Anzahl von vom RKI so bezeichneten "COVID-19-Todesfällen":

Die Nachricht des Robert-Koch Instituts, dass in den letzten 24 Stunden 410 Menschen an COVID-19 gestorben sind, erinnert uns auf traurigste Weise daran, dass hinter den Statistiken eben menschliche Schicksale stehen, Lebenswege, die zum Teil auch viel zu früh enden. Das lässt Familien tief trauern um Ihre Liebsten.

Angeka Merkel

Zunächst ist wichtig festzuhalten, dass der letzte Satz definitiv richtig ist: Hinter jedem einzelnen dieser 410 Todesfälle stehen individuelle Schicksalsschläge und hier ist es fundamental wichtig, allen Trauernden ein aufrichtiges Beileid zu bekunden.

Der vorausgehende Satz enthält dagegen schwerwiegende inhaltliche Fehler, welche zu einer deutlichen Überschätzung der tatsächlich vom Coronavirus SARS-CoV-2 ausgehenden Gefahr führen und damit ungerechtfertigter Weise Ängste in der Bevölkerung schüren. Insgesamt enthält die Aussage von Angela Merkel drei irreführende Inhalte, welche im Folgenden genauer ausgeführt werden:

1. Anders als von Angela Merkel behauptet, spiegelt die vom RKI täglich berichtete Anzahl an neuen sogenannten "COVID-19-Todesfällen" aufgrund von Meldeverzügen nicht die in den letzten 24 Stunden aufgetretenen Todesfälle wieder.

2. Nur ein Teil der vom RKI als "COVID-19-Todesfälle" geführten Sterbefälle ist in Wirklichkeit ursächlich am Coronavirus SARS-CoV-2 verstorben.

3. Die ergriffenen Maßnahmen verursachen ebenfalls Todesfälle, bei denen ebenfalls ein aufrichtiges Beileid zu bekunden wäre, und welche für eine Einordnung der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen den Bürgerinnen und Bürgern nicht vorenthalten werden dürfen.

1. Anders als von Angela Merkel behauptet, spiegelt die vom RKI täglich berichtete Anzahl an neuen "COVID-19-Todesfällen" nicht die in den letzten 24 Stunden aufgetretenen Todesfälle wieder

Angesichts der vom RKI am 25. November neu gemeldeten 410 "COVID-19-Todesfälle" behauptet Angela Merkel, dass in den letzten 24 Stunden 410 Menschen an COVID-19 verstorben seien. Die vom RKI an einem bestimmten Tag gemeldeten neuen "COVID-19-Todesfälle" sind aber zu großen Teilen gar nicht an diesem Tag verstorben. Der Grund ist, dass es bei den Todesfällen einen größeren Meldeverzug gibt und ein Todesfall erst mit einer zeitlichen Verzögerung von bis zu drei Wochen nach dem tatsächlichen Sterbedatum beim RKI gemeldet wird (siehe unten). Für eine korrekte Interpretation der an einem bestimmten Tag berichteten Anzahl an neuen "COVID-19-Todesfällen" muss demnach der existierende Meldeverzug mit einbezogen werden.

Um dieses Problem zu illustrieren, kann man die Lageberichte des RKI nutzen. Dort wird immer am Dienstag eine Graphik zum Verlauf der Todesfälle veröffentlicht, welche nicht am Datum der Meldung eines Todesfalls beim RKI aufgehängt ist, sondern am tatsächlichen Sterbedatum.

Die folgende Graphik vom 25. November zeigt die Anzahl der "COVID-19-Todesfälle" pro Kalenderwoche nach tatsächlichem Sterbedatum, die gelben Balken zeigen die von der 46. auf die 47. Kalenderwoche neu hinzugekommenen Todesfälle im Vergleich zur am 18. November veröffentlichen Graphik. Wie die Abbildung zeigt, ist ein relativ großer Teil der von der 46. auf die 47. Kalenderwoche neu hinzugekommenen Todesfälle in Wirklichkeit bis zu drei Wochen vorher verstorben.

Es kommt noch ein weiterer verzerrender Effekt innerhalb einer Woche hinzu. Wie die folgende Abbildung zeigt, ist auf der Ebene einzelner Tage zu beachten, dass es bei den Meldungen der Todesfälle an das RKI starke Wochenendeffekte gibt: Am Sonntag und Montag werden immer vergleichsweise wenige "COVID-19-Todesfälle" gemeldet, Mitte der Woche vergleichsweise viele (Quelle: Our World in Data, Stand 26.11.).

Da der Verlauf der "COVID-19-Todesfälle" nach dem tatsächlichen Sterbedatum keine größeren Wochenendeffekte aufweist (siehe z.B. ältere Lageberichte des RKI, dort gab es noch eine tageweise graphische Darstellung der Anzahl der Todesfälle nach Sterbedatum), geht die hohe Zahl an "COVID-19-Todesfällen" in der Mitte der Woche vor allem darauf zurück, dass viele Todesfälle, welche eigentlich am Sonntag und Montag aufgetreten waren, erst Mitte der Woche nachgemeldet werden.

Methodisch kann dieses Problem dadurch gelöst werden, dass für jeden Tag der Durchschnitt der Anzahl der Todesfälle für die vorangegangenen sechs Tage und den aktuellen Tag bestimmt wird (sog. "Gleitender 7-Tage-Durchschnitt"). Das wird beispielsweise vom RKI bei der Berechnung des 7-Tage-R-Wertes so gemacht. Wie die folgende Abbildung zeigt, sinkt bei einer solchen Betrachtung die Anzahl der am 25. November berichteten "COVID-19-Todesfälle" um 42,4 Prozent auf 236 (Quelle: Our World in Data).

Man kann das Problem, dass sich aus der Tatsache ergibt, dass die vom RKI an einem bestimmten Tag gemeldeten Todesfälle die tatsächlichen Todesfälle zeitverzögert und mit verzerrenden Wochenendeffekten darstellen, auch anhand der ersten SARS-CoV-2-Welle im Frühjahr veranschaulichen. In der folgenden Abbildung ist auf der linken Seite der Verlauf der vom RKI an einem Tag neu gemeldeten Todesfälle dargestellt (Quelle: Our World in Data) und auf der rechten Seite der Verlauf der tatsächlich an einem Tag verstorbenen Todesfälle (Quelle: RKI Lagebericht von 15. Mai). Die Kurve zum Verlauf der täglich vom RKI neu gemeldeten Todesfälle überschätzt das Maximum der im Frühjahr aufgetretenen Todesfälle um 25 Prozent und stellt den tatsächlichen Rückgang der Todesfälle mit einer Zeitverzögerung von acht Tagen dar.

Dementsprechend ist Angela Merkels Aussage, dass in den letzten 24 Stunden 410 Menschen an COVID-19 gestorben seien, inhaltlich irreführend: Von den am 25. November gemeldeten 410 "COVID-19-Todesfällen" ist ein großer Teil gar nicht in den letzten 24 Stunden verstorben. Zum einen sind viele dieser Sterbefälle in Wirklichkeit bis zu drei Wochen vorher verstorben, so dass noch abzuwarten bleibt, wie hoch die Anzahl der "COVID-19-Todesfälle" aktuell tatsächlich ist. Das werden erst die Meldungen in den nächsten Tagen und Wochen zeigen - rein theoretisch könnte die Zahl der Todesfälle in Wirklichkeit aktuell deutlich niedriger sein als es den Anschein hat, aber auch deutlich höher.

Zum anderen ist die am 25. November vom RKI berichtete Anzahl deswegen vergleichsweise hoch, weil Mitte der Woche viele Todesfälle von Sonntag und Montag nachgemeldet werden. Eine Interpretation der Zahlen Mitte der Woche ohne Einbezug des Meldeverzugs erweckt den irreführenden Anschein einer aktuell sehr hohen Anzahl von Todesfällen und schürt damit nicht gerechtfertigte Ängste. Angesichts dessen, dass die Bundeskanzlerin eigentlich von Fachexperten beraten sein sollte, ist es überraschend, dass solche fehlerhaften Informationen an die Bevölkerung weitergegeben werden.

2. Nur ein Teil der vom RKI als "COVID-19-Todesfälle" geführten Sterbefälle ist in Wirklichkeit ursächlich am Coronavirus SARS-CoV-2 verstorben

Angela Merkel behauptet in ihrer Aussage weiterhin, dass 410 Menschen an COVID-19 gestorben sind. Wie eigentlich inzwischen allgemein bekannt ist, wird aber bei der Diagnose von sogenannten "COVID-19-Todesfällen" vom RKI nicht zwischen Personen unterschieden, welche ursächlich an einer COVID-19-Erkrankung verstorben sind ("an SARS-CoV-2-Verstorbene") oder in Wirklichkeit an anderen Todesursachen verstorben sind und nur ein positives SARS-CoV-2-PCR-Testergebnis aufwiesen ("mit SARS-CoV-2 Verstorbene"). Laut der offiziellen Seite des RKI [CK1]heißt es hierzu auf die Frage "Wie werden Todesfälle erfasst?":

In der Statistik des RKI werden die COVID-19-Todesfälle gezählt, bei denen ein laborbestätigter Nachweis von SARS-CoV-2 (direkter Erregernachweis) vorliegt und die in Bezug auf diese Infektion verstorben sind. Das Risiko an COVID-19 zu versterben ist bei Personen, bei denen bestimmte Vorerkrankungen bestehen, höher. Daher ist es in der Praxis häufig schwierig zu entscheiden, inwieweit die SARS-CoV-2 Infektion direkt zum Tode beigetragen hat. Sowohl Menschen, die unmittelbar an der Erkrankung verstorben sind ("gestorben an"), als auch Personen mit Vorerkrankungen, die mit SARS-CoV-2 infiziert waren und bei denen sich nicht abschließend nachweisen lässt, was die Todesursache war ("gestorben mit") werden derzeit erfasst.

RKI

Ein Blick auf die Informationen der verschiedenen Landesämter auf Bundeslandebene legt offen, dass die Art der vom RKI verwendeten Diagnose in Wirklichkeit sogar noch fragwürdiger ist. So heißt es beispielsweise auf der offiziellen Seite des Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (Stand 26.11.):

Als Todesfälle werden Personen gezählt, die mit und an SARS-CoV-2 verstorben sind, sowie Personen, bei denen die Ursache unbekannt ist. Mit SARS-CoV-2 verstorben bedeutet, dass die Person aufgrund anderer Ursachen verstorben ist, aber auch ein positiver Befund auf SARS-CoV-2 vorlag. An SARS-CoV-2 verstorben bedeutet, dass die Person aufgrund der gemeldeten Krankheit verstorben ist. "Personen, bei denen die Ursache unbekannt ist" bedeutet, dass ein positiver SARS-CoV-2-Befund vorlag, die eigentliche Todesursache jedoch unbekannt ist. Das heißt, die Todesursache konnte noch nicht ermittelt werden oder es ist nicht mehr möglich, die genaue Ursache zu ermitteln. Informationen zur Todesursache bei gemeldeten SARS-CoV-2-Fällen liegen bei etwa 96 % der Fälle vor, von denen wiederum etwa 88 % an COVID-19 und 12 % an einer anderen Ursache verstorben sind.

Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit

Demnach werden also zumindest in Bayern auch Personen als "COVID-19-Todesfälle" gezählt, welche aufgrund von anderen Ursachen verstorben sind und nur zusätzlich ein positives SARS-CoV-2-Testergebnis aufwiesen. Laut den genannten Zahlen aus Bayern wären demnach nur 84,5% (88% der 96% der Fälle mit bekannter Todesursache) der als "COVID-19-Todesfälle" geführten Fälle definitiv an einer SARS-CoV-2-Infektion verstorben.

Die Fragwürdigkeit dieser Art der Diagnostik zeigt sich auch darin, dass von einer bayerischen Klinik sogar ein polizeiliches Todesermittlungsverfahren gestartet wurde um mehr Transparenz zu schaffen. In der Süddeutschen Zeitung [CK2]heißt es hierzu:

Bei den fünf positiv auf Corona getesteten Patienten, die seit 24. Oktober im Krankenhaus Schongau gestorben sind, ist aus Sicht der verantwortlichen Klinikärzte die schwere Lungenkrankheit Covid-19 als Todesursache auszuschließen. "Die Patienten sind mit Corona gestorben, aber nicht an Corona", hieß es am Freitagabend im Landratsamt Weilheim auf einer Pressekonferenz. Teilnehmende Journalisten waren dazu telefonisch zugeschaltet. Nun, so teilten die beiden Ärztlichen Direktoren mit, liege es in der Hand der Staatsanwaltschaft München II, die genaue Todesursache feststellen zu lassen. Die Klinikverantwortlichen hätten sich bewusst für diesen Weg entschieden, "um Transparenz zu schaffen" und damit das Vertrauen in die Kliniken der Krankenhaus-GmbH des Landkreises Weilheim-Schongau wieder zu festigen.

SZ

Noch frappierender ist ein Fall aus Krefeld. Dort berichtete die Stadtverwaltung, dass man zwar laut Feststellung des städtischen Fachbereichs Gesundheit keinen neuen Todesfall im Zusammenhang mit Covid-19 zu verzeichnen habe, aber man die Anzahl der "COVID-19-Todesfälle" trotzdem um einen Fall auf 23 erhöhen müsse, um die Statistik an die des Robert-Koch-Institutes anzupassen. Bemerkenswert ist vor allem der von der Stadtverwaltung genannte Grund (Quelle: RP Online):

Grund ist, dass Personen, die einmal positiv auf das Coronavirus getestet wurden und später versterben, grundsätzlich in dieser Statistik aufgeführt werden. Im vorliegenden Krefelder Todesfall galt die Person (mittleren Alters und mit multiplen Vorerkrankungen), nachdem es mehrfach negative Testergebnisse gab, inzwischen seit längerem als genesen.

RP Online

Das RKI zählt demnach einen Sterbefall sogar dann als "COVID-19-Todesfall", wenn ein SARS-CoV-2-positives Testergebnis lange zurückliegt und die Person inzwischen als genesen galt. Da eine Person, welche vor langer Zeit infiziert war und als genesen galt, nicht am Coronavirus versterben kann, zieht eine solche Art der Diagnostik fälschlicherweise die Anzahl der "COVID-19-Todesfälle" nach oben. Denkt man hier auf lange Sicht, hätte man praktisch eine Sterberate von 100%, da alle jemals positiv Getesteten schließlich irgendwann sterben werden, was inhaltlich völlig absurd ist.

Fragwürdig ist diese Art der Todesfall-Diagnostik vor allem auch vor dem Hintergrund, dass in anderen Ländern nicht so diagnostiziert wird. So hat Großbritannien im Juli die Zählung der "COVID-19-Todesfälle" geändert. Während zuvor wie in Deutschland gezählt wurde (egal wie lange das positive SARS-CoV-2-Testergebnis zurückliegt, galt ein Sterbefall mit positivem Testergebnis als "COVID-19-Todesfall"), wurden von nun an nur noch Sterbefälle als "COVID-19-Todesfälle" gezählt, die in einem Zeitfenster von 28 Tagen nach der Meldung des positiven Testergebnisses verstorben sind.

Laut einem Artikel in der taz hatte dies folgenden Grund:

Hintergrund ist, dass die vier staatlichen Gesundheitsbehörden von England, Schottland, Wales und Nordirland bislang unterschiedlich zählten. In Schottland, Wales und Nordirland musste man spätestens 28 Tage vor dem Tod positiv auf das Coronavirus getestet worden sein, um in die Statistik einzufließen. In England gab es dieses Zeitlimit nicht: Jeder Tote, der schon mal mit Corona infiziert war, zählte für die Behörde Public Health England (PHE) als Covid-19-Toter, unabhängig von der aktuellen Todesursache.
Je länger die Pandemie andauert, desto mehr bläht diese Methode die Zahlen auf. "Wer im März von Covid-19 genesen war und im Juli in einem Autounfall starb, zählte als Coronavirustoter", analysiert BBC-Gesundheitsexperte Hugh Pym. Weil dadurch die Todeszahlen in England im Juli hartnäckig hoch blieben, während sie überall sonst in Europa und auch in Schottland auf nur noch wenige am Tag sanken, ordnete der britische Gesundheitsminister Matt Hancock am 17. Juli eine Überprüfung an.
Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) "sollte zwischen Erkrankung und Tod kein Zeitraum völliger Genesung stehen". Wer an Covid-19 erkrankte, gesund wurde und später an etwas anderem stirbt, ist demnach kein Covid-19-Toter. Und 99 Prozent aller Erkrankten sind nach 28 Tagen entweder wieder gesund oder tot.

taz

Das führte damals in Großbritannien dazu, dass die Gesamtanzahl der "COVID-19-Todesfälle" um einen Schlag von 42.072 auf 36.695 zurückging. Wie in der folgenden Abbildung gezeigt (Stand (26.11.), werden inzwischen auf der offiziellen Website von Großbritannien die Fallzahlen einmal bezogen auf die Todesfälle berichtet, welche in einem Zeitfenster von 28 Tagen nach der Meldung des positiven Testergebnisses verstorben sind, unabhängig davon, was auf dem Totenschein steht ("Deaths within 28 days of positive tests"), und einmal bezogen auf alle Todesfälle, bei denen "COVID-19" auf dem Totenschein erwähnt wird, unabhängig vom Abstand des Todesfalls zur Meldung des positiven Tests ("Deaths with COVID-19 on the death certificate"):

Interessanterweise bestätigte damals das RKI gegenüber der taz, dass in Deutschland Sterbefälle bei Vorliegen eines positiven SARS-CoV-2-Testergebnisses als "COVID-19-Todesfälle" gezählt werden, unabhängig davon, wie lange das positive Testergebnis zurückliegt. So heißt es in dem Artikel:

In Deutschland gibt es diese Frist nicht, teilt das Robert-Koch-Institut auf Anfrage mit. Gezählt würden Tote, bei denen ein laborbestätigter Nachweis von SARS-CoV-2 vorliegt und die in Bezug auf diese Infektion verstorben sind.

taz

Man kann sich nun anhand der vom RKI öffentlich bereit gestellten Daten ansehen, wie häufig ein Fall wie in Krefeld in Deutschland vorkommt - also ein Todesfall, welcher zum Meldezeitpunkt des Todesfalls eigentlich als genesen galt, und bei dem der Zeitpunkt der Meldung des positiven SARS-CoV-2-Testergebnisses mehr als 28 Tage zurückliegt. Der öffentlich zugängliche Datensatz enthält eine Variable, welche beschreibt, ob eine Person zum Zeitpunkt des Versterbens laut RKI-Richtlinien als von der Infektion genesen galt. Weiterhin kann man für die an einem bestimmten Tag neu gemeldeten Todesfälle bestimmen, wie lange die damalige Meldung des positiven Testergebnisses zurückliegt.

Die folgende Abbildung zeigt für die am 25. November neu gemeldeten 413 Todesfälle (die von Angela Merkel genannte Zahl von 410 Todesfällen ergibt sich daraus, dass an diesem Tag zusätzlich drei bisher falsch gemeldete Todesfälle korrigiert wurden) auf der linken Seite den Prozentanteil der Fälle, die zum Meldezeitpunkt des Todes laut RKI-Richtlinie als genesen galten, und auf der rechte Seite den Prozentanteil der Fälle, bei denen das Meldedatum des positiven Testergebnisses mehr als vier Wochen zurücklag.

Wie die Abbildung zeigt, galten 18,2 Prozent der am 25. November gemeldeten Todesfälle zum Sterbezeitpunkt als genesen, bei 7,5 Prozent der Fälle lag das Meldedatum des positiven SARS-CoV-2-Testergebnisses mehr als vier Wochen zurück, in einem Fall sogar 247 Tage.

Man kann nun dieselbe Analyse für alle seit dem 8. April pro Tag neu gemeldeten 13.905 "COVID-19-Todesfälle" machen - das ist der Zeitpunkt, ab dem vom RKI die Bewertung "genesen" eingeführt wurde. Die Ergebnisse zeigt die folgende Abbildung:

Von den seit dem 8. April pro Tag neu gemeldeten 13.905 "COVID-19-Todesfällen" galt demnach ein Viertel zum Sterbezeitpunkt als genesen, bei 13,3 Prozent der Fälle lag das Meldedatum des positiven SARS-CoV-2-Testergebnisses mehr als vier Wochen zurück, in einem Fall sogar 275 Tage.

Um diese Ergebnisse interpretieren zu können, sind einige Zusatzinfos nötig. Zum einen ist es wichtig zu wissen, nach welcher Regel das RKI die Diagnose "genesen" bildet. Die Diagnoseregel lautet laut der Beschreibung des RKI-Datensatzes (siehe Disclaimer zu Genesenen):

Anhand der dem RKI von den Gesundheitsämtern übermittelten Detailinformationen zu einem Erkrankungsfall wird für jeden Fall eine Dauer der Erkrankung geschätzt. Für Fälle, bei denen nur Symptome angegeben sind, die auf einen leichten Erkrankungsverlauf schließen lassen, wird eine Dauer der Erkrankung von 14 Tagen angenommen. Bei hospitalisierten Fällen oder Fällen mit Symptomen, die auf einen schweren Verlauf hindeuten (z.B. Pneumonie) wird eine Dauer der Erkrankung von 28 Tagen angenommen. Ausgehend vom Beginn der Erkrankung, bzw. wenn der nicht bekannt ist, vom Meldedatum ergibt sich ein geschätztes Datum der Genesung für jeden Fall.

RKI

Das erklärt den Unterschied in den Prozentwerten in den obigen Graphiken: Da das RKI die Diagnose "genesen" nicht am Abstand zum Meldedatum des positiven Testergebnisses, sondern am Abstand zum Erkrankungsbeginn (wenn bekannt) festmacht, welcher laut RKI im Schnitt in etwa 5-10 Tage vor dem Meldedatum eines positiven Testergebnisses liegt, ist der Prozentanteil der zum Meldezeitpunkt des Todes als "genesen" geführten Personen höher als der Prozentanteil der Todesfälle, bei denen das Meldedatum des positiven Testergebnisses mehr als vier Wochen zurückliegt.

Zum anderen ist es wichtig, den Stand der Forschung zum Zeitabstand zwischen Meldedatum einer Infektion bzw. dem Erkrankungsbeginn und der Meldung eines Todesfalls genauer zu betrachten. Im erwähnten Disclaimer des RKI zur Diagnose, ab wann eine Person mit positivem SARS-CoV-2-Testergebnis wieder als genesen gilt, heißt es dazu:

Da im Einzelfall auch deutlich längere Erkrankungsverläufe möglich sind, bzw. die hier genutzten Informationen nicht bei allen Fällen dem RKI übermittelt werden, sind die so berechneten Daten nur grobe Schätzungen für die Anzahl der Genesenen und sollten daher auch nur unter Berücksichtigung dieser Limitationen verwendet werden.

RKI

Es sind also im Einzelfall durchaus längere Erkrankungsverläufe möglich. Die Aussage im erwähnten Artikel in der taz, dass 99 Prozent aller SARS-CoV-2-Infizierten 28 Tage nach der Meldung eines positiven Testergebnisses entweder wieder gesund oder tot sind, legt nahe, dass Zeitabstände von mehr als 28 Tagen sehr selten sind. Unterstützt wird dies durch eine kürzlich veröffentlichte Studie des RKI zu den bis Mitte Juni in Deutschland aufgetretenen Todesfällen. Bei den Verstorbenen mit bekanntem Erkrankungsbeginn - also den Todesfällen mit COVID-19-relevanten Symptomen - betrug der mittlere Abstand zwischen Erkrankungsbeginn und Tod elf Tage, 75 Prozent der Todesfälle waren bis zum 18. Tag nach Erkrankungsbeginn verstorben.

Hier ist noch einzurechnen, dass zwischen Erkrankungsbeginn und Meldung eines positiven Testergebnisses laut RKI meist in etwa 5-10 Tage liegen. Zieht man 5 Tage von den beobachteten Abständen zwischen Erkrankungsbeginn und Tod ab, beträgt demnach Abstand zwischen dem Meldedatum eines positiven Testergebnisses und Tod im Mittel in Deutschland sechs Tage, 75 Prozent versterben binnen 13 Tagen. Genauere Daten sind leider nicht verfügbar, aber diese Befunde legen nahe, dass Zeitabstände von mehr als 28 Tagen in der Tat sehr selten sind.

Geht man davon aus, dass Fälle mit sehr langen Krankheitsverläufen bis zum Tod wirklich die Ausnahme darstellen, ist die Tatsache, dass ein Viertel der vom RKI als "COVID-19-Todesfälle" geführten Sterbefälle zum Meldezeitpunkt des Todesfalls wegen eines sehr langen zeitlichen Abstands zum Erkrankungsbeginn bzw. zum Meldedatum des positiven Testergebnisses als genesen galt, sehr bemerkenswert. Das würde heißen, dass ein relativ großer Teil der vom RKI als "COVID-19-Todesfälle" geführten Sterbefälle in Wirklichkeit nicht an COVID-19 verstorben ist.

Allerdings ist noch zu beachten, dass es, wie erwähnt, bei der Meldung der Todesfälle einen Meldeverzug gibt, was noch eingerechnet werden müsste. In Bezug auf die Interpretation des Abstands zum Meldedatum des positiven Testergebnisses fällt das weniger ins Gewicht, weil das Meldedatum des positiven Testergebnisses den tatsächlichen Infektionszeitpunkt auch mit einer größeren Zeitverzögerung abbildet, so dass sich die Zeitverzüge in etwa aufheben. In Bezug auf den Anteil der zum Todeszeitpunkt laut RKI-Richtlinie genesenen Personen fällt das mehr ins Gewicht, dieser Anteil würde entsprechend sinken.

Da aber das tatsächliche Sterbedatum vom RKI aus Datenschutzgründen nicht veröffentlicht wird, könnte eine solche Analyse nur vom RKI gemacht werden. Hier ist es aber leider so, dass ich den beschriebenen Befund bereits am 1. Oktober dem RKI mitgeteilt habe, verbunden mit der Bitte, die Einschätzung des RKI dazu zu erhalten. Trotz einer erneuten Nachfrage habe ich bisher keine Antwort erhalten, außer dass die Anfrage an die entsprechende Fachabteilung weitergeleitet worden sei.

Sowohl die verfügbaren Zahlen zu den nur mit aber nicht am Virus SARS-CoV-2 verstorbenen Personen als auch die Zahlen zum Abstand einer Infektion zum späteren Tod zeigen, dass ein größerer Anteil der vom RKI als "COVID-19-Todesfälle" geführten Sterbefälle in Wirklichkeit an anderen Ursachen verstorben ist. Allerdings gibt es noch ein weiteres diagnostisches Problem, welches dazu führen kann, dass selbst die als "an SARS-CoV-2 verstorbene Todesfälle" geführten Sterbefälle in Wirklichkeit nicht am Virus SARS-CoV-2 verstorben sein müssen.

Um dieses Problem zu sehen, ist ein Blick in die offizielle Falldefinition des RKI zur "COVID-19-Krankheit" hilfreich. Dort lautet die Falldefinition für die vom RKI berichteten Fälle:

Über die zuständige Landesbehörde an das RKI zu übermittelnder Fall

A. Klinisch diagnostizierte Erkrankung: Entfällt.

B. Klinisch-epidemiologisch bestätigte Erkrankung: Spezifisches klinisches Bild von COVID-19, ohne labordiagnostischen Nachweis, aber mit epidemiologischer Bestätigung (Auftreten von zwei oder mehr Lungenentzündungen (Pneumonien) in einer medizinischen Einrichtung, einem Pflege- oder Altenheim); spezifisches oder unspezifisches klinisches Bild von COVID-19, ohne labordiagnostischen Nachweis, aber mit epidemiologischer Bestätigung (Kontakt zu einem bestätigten Fall).

C. Klinisch-labordiagnostisch bestätigte Erkrankung: Spezifisches oder unspezifisches klinisches Bild von COVID-19 und labordiagnostischer Nachweis.

D. Labordiagnostisch nachgewiesene Infektion bei nicht erfülltem klinischen Bild: Labordiagnostischer Nachweis bei bekanntem klinischen Bild, das weder die Kriterien für das spezifische noch für das unspezifische klinische Bild von COVID-19 erfüllt. Hierunter fallen auch asymptomatische Infektionen.

E. Labordiagnostisch nachgewiesene Infektion bei unbekanntem klinischen Bild: Labordiagnostischer Nachweis bei fehlenden Angaben zum klinischen Bild (nicht ermittelbar oder nicht erhoben).

Referenzdefinition: In Veröffentlichungen des Robert Koch-Instituts, die nicht nach Falldefinitionskategorien differenzieren (z.B. wöchentliche "Aktuelle Statistik meldepflichtiger Infektionskrankheiten" im Epidemiologischen Bulletin), werden nur Fälle der Kategorie C, D und E gezählt.

RKI

Die vom RKI in den Lageberichten berichtete Anzahl an Fällen umfasst also die Falltypen C bis E. Die Falltypen D und E entsprechen der Kategorie "mit SARS-CoV-2 verstorbene Todesfälle" (positives Testergebnis aber keine COVID-19-relevanten Symptome), Falltyp C entspricht der Kategorie "an SARS-CoV-2 verstorbene Todesfälle". Und dort heißt es, dass Personen mit spezifischem und unspezifischem klinischem Bild von COVID-19 als "an SARS-CoV-2 verstorbene Todesfälle" gezählt werden. Ein unspezifisches klinisches Bild von COVID-19 wird im Falldefinitionsdokument des RKI dabei definiert als "akute respiratorische Symptome jeder Schwere".

Eine verstorbene Person mit positivem SARS-CoV-2-Testergebnis und Atemwegserkrankungssymptomen jeder Schwere gilt demnach als "an SARS-CoV-2 verstorbener Todesfall". Aus diagnostischer Perspektive ist das problematisch. Selbst wenn ein Todesfall ein positives SARS-CoV-2 Testergebnis und gleichzeitig Atemwegserkrankungssymptome aufweist, muss das nicht heißen, dass diese Symptome tatsächlich durch das Virus SARS-CoV-2 bedingt waren. Der Grund ist, dass Atemwegserkrankungssymptome auch für andere, deutlich weiter verbreitete respiratorische Viren typisch sind, welche bei Hochrisikopatienten auch mit einem hohen Krankheitsschweregrad und einem hohen Sterberisiko verbunden sein können.

Ein Beispiel sind Rhinoviren, welche laut den Influenza Wochenberichten des RKI in den letzten fünf Wochen in etwa 12-mal so stark verbreitet waren wie das Virus SARS-CoV-2. Dabei wird oft übersehen, dass Rhinoviren insbesondere für ältere Menschen mit Vorerkrankungen gefährlicher sein können als Grippeviren. So wurden in einer kürzlich erschienenen Studie Patienten verglichen, welche im selben Zeitraum wegen einer Rhinovirus-bedingten Lungenentzündung (Anzahl: 728) oder einer Grippevirus-bedingten Lungenentzündung (Anzahl = 1.218) ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Die Ergebnisse zeigten, dass eine Rhinovirus-Infektion im Vergleich zu einer Grippevirus-Infektion mit einem längeren Krankenhausaufenthalt und einer höheren Mortalität verbunden war, besonders gefährdet waren in Einrichtungen untergebrachte ältere Menschen - es zeigte sich also für Rhinoviren ein Muster, welches auch für das Virus SARS-CoV-2 berichtet wird (siehe z.B. folgenden Artikel des RKI).

Das sich daraus ergebende Problem bei der Diagnostik der "COVID-19-Todesfälle" ist, dass flächendeckend auf das Coronavirus SARS-CoV-2 getestet und bei einem Sterbefall mit positivem SARS-CoV-2-Befund sofort die Diagnose "COVID-19-Todesfall" ausgestellt wird, ohne dass auf ähnlich flächendeckende Weise auf andere respiratorische Viren getestet wird, welche ein ähnliches Krankheitsbild hervorrufen. Solange letzteres nicht gemacht wird und differentialdiagnostisch SARS-CoV-2-spezifische Symptome explizit geprüft bzw. entsprechende Obduktionen durchgeführt werden, besteht die Möglichkeit, dass manche der als "COVID-19-Todesfälle" geführten Sterbefälle in Wirklichkeit an anderen respiratorischen Viren verstorben sind, mit denen die Personen gleichzeitig infiziert waren. Dies ist umso wahrscheinlicher, gegeben, dass von den laut RKI bisher verzeichneten 15.160 "COVID-19-Todesfällen nur 6.923 nach einer Behandlung auf einer Intensivstation verstorben sind (laut RKI-Lagebericht vom 26.11.). Offenbar sind demnach relativ viele Personen außerhalb von Krankenhäusern verstorben, wo eine SARS-CoV-2-spezifische Diagnostik (z.B. CT der Lunge) erschwert ist.

Zusammenfassend ist also auch Angela Merkels Aussage, dass 410 Menschen an COVID-19 gestorben seien, inhaltlich irreführend: Laut den Zahlen aus Bayern sind 15,5 Prozent der vom RKI als "COVID-19-Todesfälle" geführten Sterbefälle in Wirklichkeit nicht ursächlich am Virus SARS-CoV-2 verstorben. Weiterhin galt ein Viertel der als "COVID-19-Todesfälle" geführten Sterbefälle laut RKI-Richtlinie zum Meldezeitpunkt des Todesfalls als genesen, was es relativ unwahrscheinlich macht, dass diese wirklich am Virus SARS-CoV-2 verstorben sind. Schließlich macht es die fehlende flächendeckende Prüfung, inwiefern Atemwegserkrankungssymptome womöglich in Wirklichkeit auf andere respiratorische Viren zurückgehen, wahrscheinlich, dass selbst manche der "an SARS-CoV-2 verstorbenen Todesfälle" in Wirklichkeit auf andere Viren zurückgehen.

Die beschriebenen Befunde werfen zum einen die Frage auf, warum vom RKI solche aus diagnostischer Perspektive problematischen Diagnoserichtlinien verfolgt werden. In der Tat weicht das diagnostische Vorgehen davon ab, wie bei anderen Viren wie beispielsweise dem Grippevirus üblicherweise diagnostiziert wird. So heißt es im Bericht zur Epidemiologie der Influenza in Deutschland zur Saison 2016/17[CK3]:

Im Gegensatz zu anderen Erkrankungen wird Influenza auf dem Totenschein häufig nicht als Todesursache eingetragen, selbst wenn im Krankheitsverlauf eine Influenza labordiagnostisch bestätigt wurde.

RKI

Zum anderen ist es auch hier wieder überraschend, dass die Bundeskanzlerin, welche eigentlich von Fachexperten beraten sein wollte, irreführenden Informationen an die Bevölkerung weitergibt. Beides zusammen erweckt erneut den irreführenden Anschein einer hohen Anzahl von SARS-CoV-2 bedingten Todesfällen und schürt damit nicht gerechtfertigte Ängste.

3. Die ergriffenen Maßnahmen verursachen ebenfalls Todesfälle, bei denen auch ein aufrichtiges Beileid zu bekunden wäre, und welche für eine Einordnung der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen den Bürgerinnen und Bürgern nicht vorenthalten werden dürfen

In der Pressekonferenz zur Rechtfertigung der Verlängerung des Teil-Lockdowns und der Verschärfung der Maßnahmen erinnert Angela Merkel zu Beginn an die mit und am Coronavirus SARS-CoV-2 verstorbenen Menschen und spricht den Angehörigen ihr Beileid aus. Sie bereitet damit das Argument vor, dass das Ergreifen von Maßnahmen berechtigt und gerechtfertigt sei. Wie eingangs erwähnt, ist es fundamental wichtig, den Angehörigen ein aufrichtiges Beileid auszusprechen. Allerdings zeigen inzwischen zahlreiche Studien aus verschiedenen Ländern (siehe unten), dass die ergriffenen Maßnahmen mit substantiellen Kollateralschäden einhergehen, welche ebenfalls zahlreiche Todesfälle verursachen können.

Zum einen erscheint es demnach moralisch angebracht, auch die Todesfälle zu erwähnen, welche durch die verordneten Maßnahmen verursacht werden, und den betroffenen Angehörigen ebenfalls ein aufrichtiges Beileid auszusprechen. Zum anderen ist es bei politischen Entscheidungen in einer Demokratie fundamental wichtig, nicht nur mit dem einseitigen Blickwinkel auf eine einzige Todesursache die Bevölkerung zu informieren und politisch zu handeln, sondern sowohl den Nutzen als auch die Nebenwirkungen der ergriffenen Maßnahmen umfassend zu bewerten und die Bevölkerung umfassend darüber aufzuklären.

Dies ist umso mehr angebracht, als zahlreiche Studien inzwischen die hohen Kollateralschäden der ergriffenen Maßnahmen - und insbesondere auch die durch die Maßnahmen verursachten Todesfälle - beziffern. So hat eine kürzlich als Preprint veröffentlichte Studie zur Region Waldshut in Deutschland ergeben, dass von der dort im April beobachteten Übersterblichkeit – gemessen über die Zunahme der Todesfälle im Jahr 2020 verglichen mit der durchschnittlichen Anzahl der Todesfälle in den Jahren 2016-2019 – 45 Prozent nicht auf mit oder am SARS-CoV-2-Virus verstorbene Personen zurückgeht, sondern auf andere Ursachen. Die Autoren schreiben hierzu in der Zusammenfassung (Übersetzung durch den Autor):

Wir gehen davon aus, dass die Furcht, sich in überlasteten Krankenhäusern zu infizieren, eine einseitige öffentliche Kommunikation und Berichterstattung sowie das Ausmaß der Kontaktbeschränkungen erheblich zum Rückgang der behandelten Fälle und zur Übersterblichkeit beigetragen haben (Kollateralschaden).

Für ähnliche Situationen in der Zukunft wird dringend empfohlen, die Krisenkommunikation und die Berichterstattung in den Medien ausgewogener zu gestalten, um Menschen mit akuten Gesundheitsproblemen nicht davon abzuhalten, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Kontaktbeschränkungen sollten kritisch überprüft und auf das objektiv notwendige Minimum beschränkt werden.

Betrachtet man die Übersterblichkeit für das Jahr 2020 im Vergleich zu den Jahren 2016-2019 für ganz Deutschland, ergibt sich das in der folgenden Abbildung gezeigte Bild – die Höhe der blauen Balken zeigt jeweils die Übersterblichkeit bzw. Untersterblichkeit pro Kalenderwoche, die Höhe der roten Balken die Anzahl der mit und am SARS-CoV-2-Virus verstorbenen Personen (Datenquelle: Sonderauswertung zu den Sterbefallzahlen des Statistischen Bundesamtes und Daten des RKI zur Anzahl der mit und am SARS-CoV-2-Virus verstorbenen Personen nach Sterbedatum, Stand 26. November):

Es zeigen sich zwei interessante Beobachtungen. Zunächst ist interessant, dass von der in mehreren Wochen beobachteten Übersterblichkeit nur 43,4 Prozent auf mit und am SARS-CoV-2-Virus verstorbene Personen zurückgeht. Hier wird manchmal das Argument ins Feld geführt, dass die SARS-CoV-2-bedingten Todesfälle untererfasst seien. Angesichts dessen, dass sehr flächendeckend auf SARS-CoV-2 getestet wurde und wie beschrieben ein größerer Prozentanteil der als "SARS-CoV-2-Todesfälle" geführten Sterbefälle in Wirklichkeit gar nicht am SARS-CoV-2-Virus verstorben ist, ist aber vermutlich eher das Gegenteil der Fall.

Interessant ist weiterhin ein Vergleich der ersten SARS-CoV-2-Welle mit der zweiten SARS-CoV-2-Welle. Während im Zeitraum der ersten SARS-CoV-2-Welle von der 12. Kalenderwoche bis zur 21. Kalenderwoche die Zunahme und das Sinken der Anzahl der mit und am SARS-CoV-2-Virus verstorbenen Personen Hand in Hand geht mit einer Zunahme und einem Sinken der Übersterblichkeit, ist das im Zeitraum der zweiten SARS-CoV-2-Welle von der 37. Kalenderwoche bis zur 44. Kalenderwoche nicht der Fall.

Während im Zeitraum der zweiten Welle die Anzahl der mit und am SARS-CoV-2-Virus verstorbenen Personen ausgehend von einem sehr geringen Niveau zunehmend anstieg, war bereits zu Beginn des Zeitraums eine deutliche Übersterblichkeit zu beobachten, die bis zur 44. Kalenderwoche nicht weiter anstieg. Die Zunahme in der Anzahl der mit und am SARS-CoV-2-Virus verstorbenen Personen seit der 37. Kalenderwoche geht also nicht Hand in Hand mit einer Zunahme der Übersterblichkeit, denn diese war bereits zu Beginn der zweiten SARS-CoV-2-Welle - bedingt durch andere Todesursachen - hoch. Auf der Ebene der Übersterblichkeit ist hier zumindest bis jetzt keine zweite Welle zu erkennen (das kann sich möglicherweise für die kommenden Kalenderwochen ändern, dazu gibt es noch keine Daten).

Dieses Muster ist eigenartig: Bei einem neuen Virus wäre eigentlich zu erwarten, dass mit einem Anstieg der durch das Virus bedingten Todesfälle auch die Gesamtanzahl der Todesfälle - und damit die Übersterblichkeit - steigt. Eine Erklärungsmöglichkeit für dieses eigenartige Muster könnte sein, dass sich die beschriebenen diagnostischen Probleme im Zeitraum der zweiten SARS-CoV-2-Welle stärker auswirken, als es im Zeitraum der ersten SARS-CoV-2-Welle der Fall war. Während im Zeitraum der ersten SARS-CoV-2-Welle noch eher symptomorientiert und zahlenmäßig weniger umfangreich getestet wurde, wurde im Zuge der zweiten SARS-CoV-2-Welle vergleichsweise weniger symptomorientiert und deutlich umfangreicher getestet. Damit könnten im Zeitraum der zweiten SARS-CoV-2-Welle mehr Todesfälle, bei denen eigentlich gar keine COVID-19-relevanten Symptome vorlagen, fälschlicherweise als "COVID-19-Todesfälle" geführt worden sein.

Einen Hinweis darauf, dass dem so sein könnte, zeigt der Verlauf des Prozentanteils der "COVID-19-Todesfälle", bei denen der Erkrankungsbeginn bekannt war, über das Jahr 2020 hinweg. Die folgende Abbildung zeigt den Verlauf dieses Prozentanteils seit der 12. Kalenderwoche, aufgehängt am Meldedatum des positiven Testergebnisses eines Todesfalls (die Kalenderwochen 46 und 47 sind nicht abgebildet, weil bei den in diesen Wochen gemeldeten Fällen der Krankheitsausgang noch nicht bei allen Fällen klar ist):

Während der Prozentanteil von "SARS-CoV-2 Todesfällen" mit bekanntem Erkrankungsbeginn im Zeitraum der ersten SARS-CoV-2-Welle zwischen 60 und 80 Prozent lag, sank der Prozentanteil von "SARS-CoV-2 Todesfällen" mit bekanntem Erkrankungsbeginn im Zeitraum der zweiten SARS-CoV-2-Welle kontinuierlich und lag in der 45. Kalenderwoche nur noch bei 41 Prozent. Geht man davon aus, dass bei vielen Todesfällen Informationen zum Erkrankungsbeginn deswegen fehlen, weil diese keine COVID-19-relevanten Symptome hatten, wäre das in der Tat ein Hinweis darauf, dass im Zuge der zweiten SARS-CoV-2-Welle zunehmend weniger der vom RKI als "COVID-19-Todesfälle" geführten Sterbefälle COVID-19-relevanten Symptome aufwiesen und in Wirklichkeit an anderen Ursachen verstorben sind. Definitiv belegt werden könnte diese Vermutung aber nur, wenn Daten dazu vorliegen würden, welche klinischen Symptome bei den als "COVID-19-Todesfällen" geführten Sterbefällen tatsächlich vorlagen, was leider nicht der Fall ist.

Ähnliche Zahlen gibt es aus anderen Ländern. So gehen laut einer Studie in den USA von der bis Anfang Oktober beobachteten Übersterblichkeit 34 Prozent nicht auf mit oder am SARS-CoV-2-Virus verstorbene Personen zurück, sondern auf andere Todesursachen. Hier ist noch anzufügen, dass auch in den USA ein positives SARS-CoV-2 Testergebnis für die Diagnose "COVID-19-Todesfall" ausreichend ist und damit die berichtete Anzahl an "COVID-19-Todesfällen" in den USA ebenfalls die Anzahl der tatsächlich an einer SARS-CoV-2-Infektion verstorbenen Personen überschätzt.

Bedenkenswert ist vor allem eine weitere Studie aus den USA, in welcher der Anteil der nicht COVID-19-bedingten Übersterblichkeit für verschiedene Altersgruppen bestimmt wurde. Die Ergebnisse zeigen, dass auch in der Altersgruppe 15-44 Jahre 17,8 Prozent mehr Menschen als im Vorjahr verstorben sind, wovon 66,3 Prozent nicht mit oder am SARS-CoV-2-Virus verstorben sind, sondern an anderen Todesursachen.

Auch in Großbritannien gehen laut einer umfassenden Analyse von Public Health England 48,5 Prozent der Mitte März bis Mitte November beobachteten Übersterblichkeit nicht auf mit oder am SARS-CoV-2-Virus verstorbene Personen zurück, sondern auf andere Todesursachen. Dort gibt es eine interessante Aufteilung hinsichtlich der Sterbeorte, welche in der folgenden Abbildung gezeigt wird:

Während die Übersterblichkeit in Krankenhäusern ausschließlich auf mit oder am SARS-CoV-2-Virus verstorbene Personen zurückgeht, gibt es in Einrichtungen zur Betreuung alter Menschen und insbesondere in privaten Haushalten eine zum Teil äußerst hohe Übersterblichkeit, welche auf andere Todesursachen zurückgeht. Dies steht im Einklang mit der erwähnten Studie zur Übersterblichkeit in Deutschland, wonach offenbar durch die problematische Krisenkommunikation und die angstschürende Berichterstattung in den Medien viele Menschen mit akuten Gesundheitsproblemen davon abgehalten wurden, ihr Zuhause zu verlassen und medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Zudem macht dieser Befund auch die vermutete Erklärung der nicht COVID-19-bedingten Übersterblichkeit durch die verordneten Kontaktbeschränkungen plausibel, welche dazu führen, dass Menschen eher isoliert zu Hause bleiben. Diesbezügliche Wirkungen auf die Sterblichkeit belegen zahlreiche Studien. So ergab eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2015, dass sich die Sterbewahrscheinlichkeit bei sozialer Isolation um 29% und bei Einsamkeit um 26% erhöht, unabhängig davon, ob eine soziale Isolation von einer Person auch so empfunden wird - ein Effekt, welcher in der Größenordnung der Erhöhung des Sterberisikos durch mittelstarkes Rauchen liegt. Interessant ist auch die Untersterblichkeit im Bereich der Hospize. Offenbar wurden viele Personen, welche bisher im Hospiz verstorben sind, stattdessen in Krankenhäuser gebracht, wo sie dann verstorben sind.

Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass die beschriebenen Befunde aus den USA und Großbritannien nicht für Deutschland repräsentativ sein müssen. Zusammengenommen zeigen diese Befunde aber sehr eindrücklich, dass ein relativ großer Teil der Übersterblichkeit in verschiedenen Ländern nicht direkt auf SARS-CoV-2-Infektionen zurückgeht, sondern auf die im Zuge der Corona-Krise ergriffenen Maßnahmen und die durch die Art der Berichterstattung hervorgerufenen Ängste.

Über die Kollateralschäden der ergriffenen Maßnahmen innerhalb der betroffenen Länder hinaus, ist zu befürchten, dass durch die Maßnahmen insbesondere in ärmeren Ländern zahlreiche Todesfälle verursacht werden. Beispielsweise werden laut einer Hochrechnung der Weltbank allein in diesem Jahr als Folge der Corona-Maßnahmen bis zu 115 Millionen Menschen weltweit in solch extreme Armut gestürzt, dass ihr Überleben gefährdet ist.

Zusammenfassend zeigen die inzwischen existierenden Studien, dass die zur Eindämmung des Coronavirus SARS-CoV-2 ergriffenen Maßnahmen als Nebenwirkung zahlreiche nicht COVID-19-bedingte Todesfälle verursachen. Angesichts dessen erscheint es fragwürdig, in Regierungserklärungen zur Rechtfertigung der Verordnung von Maßnahmen nur einseitig die durch COVID-19 verursachten Todesfälle in den Vordergrund zu rücken. Vielmehr ist es bei der Entscheidung darüber, welche Maßnahmen getroffen werden, auch aus moralischer Perspektive wichtig, die durch die Maßnahmen verursachten Kollateralschäden in vergleichbarer Weise in den Vordergrund zu rücken.

4. Abschließende Bemerkungen

Abschließend ist ein wichtiger Aspekt zu betonen: Mit diesem Artikel soll keine Bewertung der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen vorgenommen oder ein Einführen oder Aufheben von Maßnahmen empfohlen werden. Ob zur Eindämmung eines Virus Maßnahmen ergriffen werden sollen, welche mit weitreichenden Kollateralschäden einhergehen, ist eine Frage, welche in einem gesamtgesellschaftlichen Verständigungsprozess entschieden werden muss. Im Rahmen dieses Verständigungsprozesses muss die Bevölkerung über folgende drei Punkte informiert werden:

(1) Wie hoch ist die mit einer SARS-CoV-2-Infektion verbundene Gefahr?
(2) Wie wirksam sind verschiedene Maßnahnahmen?
(3) Wie hoch sind die mit den Maßnahmen verbundenen Kollateralschäden?

Für einen gesamtgesellschaftlichen Verständigungsprozess ist insbesondere ein Aspekt fundamental wichtig: Um die Bevölkerung zu informieren, darf nicht mit emotionalisierenden Bildern und Berichten oder alltagsintuitiven Überzeugungen gearbeitet werden. Damit gehen Ängste einher, welche rationale Abwägungen erschweren und irrationale Entscheidungsprozesse wahrscheinlich machen. Stattdessen muss die Bevölkerung objektiv, evidenzbasiert und sachlich korrekt über die verschiedenen Sachverhalte aufgeklärt werden. Genau dazu soll dieser Artikel einen Beitrag leisten.

Abschließend möchte ich noch einen Punkt klarstellen: Als Autor von Beiträgen, welche Regierungsmeinungen kritisch hinterfragen, wird man aktuell leider oft in den Kontext von in meinen Augen sehr problematischen Gruppierungen (Verschwörungstheoretiker, Rechtsextreme, etc.) gerückt, ohne dass es dafür auch nur annähernd einen Grund geben würde. Von solchen Gruppierungen möchte ich mich so klar wie nur möglich distanzieren.

Zum einen bin ich ein Wissenschaftler, der die verfügbaren Daten zur Corona-Krise empirisch-statistisch analysiert und diese Ergebnisse in den wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs einbringt - mein Ziel ist also nicht das Einbringen von bloßen Meinungen, sondern das Einbringen von wissenschaftlich abgesicherten Fakten. Zum anderen ist mein ganzes Wirken als Wissenschaftler und Mensch darauf ausgerichtet, Menschen eine möglichst hohe Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten und eine möglichst hohe Achtung sowohl vor eigenen kulturellen Werten als auch vor anderen Kulturen zu vermitteln, und Menschen zu einem selbstbestimmten und zugleich verantwortungsbewussten Leben in einer freien Gesellschaft im Geist der Bildung, der Verständigung, des Friedens, der Toleranz, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Freundschaft zwischen allen Völkern und ethnischen, nationalen und religiösen Gruppen zu befähigen.

Es ist ein trauriges Zeichen des Zustandes unserer Gesellschaft, dass man sich als Autor von kritischen Beiträgen von problematischen Gruppierungen abgrenzen muss, in deren Kontext man grundlos und unwillentlich gerückt wird. Sowohl aus der Perspektive der Wissenschaft als auch aus der Perspektive einer funktionierenden Demokratie ist das als hoch problematisch zu werten, denn sowohl unser Wissen als Menschheit als auch unser Zusammenleben in einer Gemeinschaft entwickelt sich nur dann weiter, wenn verschiedene Theorien und Hypothesen offen, rational und vorurteilsfrei ausgetauscht und in einem gemeinsamen Verständigungsprozess weiterentwickelt werden.

Eine letzte Anmerkung: Alle für die Analysen verwendeten Datensätze können beim Autor per Email angefordert werden.