Covid in Amerika: Außer Kontrolle?
Dr. Anthony Fauci erklärte am 30.06.: "Wir haben offensichtlich momentan nicht die Kontrolle"
"Wer weiß?", so Hunter S. Thompson, der Erfinder des Gonzo-Journalismus, vor etlichen Jahren. "Wenn es wirklich einen Himmel und eine Hölle gibt, wissen wir mit Sicherheit nur, dass die Hölle eine brutal überfüllte Version von Phoenix sein wird." Ob Thompson, der auch in Erinnerung bleibt, weil seine Asche während seiner Beerdigung mittels einer Kanone, die von Johnny Depp finanziert wurde, in den Himmel geschossen wurde, recht behalten wird, ist unklar. Klar jedoch ist, dass es in Phoenix derzeit zumindest höllisch heiß ist.
Die Temperaturen sind mit bis zu 44 Grad so hoch, dass ihnen selbst langjährige Angehörige der Polizeibehörde erliegen: Wie "Fox 10" aus Maricopa, einer Kleinstadt 50 Kilometer südlich von Phoenix berichtet, ist "Ike", ein Polizeihund der örtlichen Dienststelle, wegen der aktuellen Hitze gestorben. Weiter nördlich, im Grand Canyon, starb eine Frau während einer Wanderung. Auch in diesem Fall wird die Hitze als Todesursache vermutet.
Hohe Temperaturen, so ein Bericht des "Guardian", verursachen mehr Tote als Hurrikans, Tornados oder Hochwasser. Forscher der Duke University schätzen, dass in den USA bis zu 12.000 Tote pro Jahr auf hohe Temperaturen zurückzuführen sind. Allein in Arizona sollen im Jahr 2019 fast 200 Tode durch Hitze verursacht worden sein. Covid-19 könnte diese Situation nun verschlimmern: Die Menschen sollen aufgrund der Infektionswelle zu Hause bleiben. Doch gerade für Senioren besteht ein erhöhtes Risiko bei hohen Temperaturen, wenn sie allein zuhause sind.
"Brutale" Zahlen in Arizona
Trotz der großen Hitze breitet sich COVID-19 gerade im Südwesten der USA unaufhaltsam aus. "Brutal" seien die Ansteckungszahlen, so der republikanische Gouverneur von Arizona, Doug Ducey, der sich deswegen gezwungen sah, Bars, Fitness-Studios, Kinos und Freizeitbäder wieder zu schließen. An Swimmingpools sind noch bis zu 10 Personen erlaubt, auf öffentlichen Versammlungen bis zu 50 Teilnehmer. Der Beginn des neuen Schuljahres wurde bis Mitte August verschoben.
Gouverneur Ducey hatte im Mai die Wiedereröffnung der Wirtschaft nach den Corona-Maßnahmen entschieden. Dies war in Übereinstimmung mit Richtlinien des Weißen Hauses und der Centers For Disease Control and Prevention (CDC) erfolgt. Doch die Infektionszahlen steigen seitdem unaufhaltsam an. Mitte Mai lag Arizona bei etwa 13.000 bestätigten Fällen, Ende Juni gab es etwa 75.000 positive Fälle. Die Zahl der Toten lag Ende Juni bei etwa 1600.
"Wir müssen die Ausbreitung verlangsamen", erklärt nun der Gouverneur, Wochen nach der Beschleunigung der Ausbreitung, "bitte tragen Sie eine Maske." Normalität, wie man sie kenne, werde so schnell nicht wieder einkehren. Doch wie wirkungsvoll die neuen Maßnahmen sind, die zunächst einen Monat gelten sollen, wird man sehen müssen. Restaurants und Kirchen, Einzelhandelsgeschäfte und Friseurläden, selbst Spielkasinos dürfen weiter geöffnet bleiben.
In Lokalmedien wird der Gouverneur dafür kritisiert, dass er zwar Unternehmen erneut schließen lässt, aber keine Maskenpflicht durchsetzt. Sich auf freiwillige Einschränkungen der Bevölkerung zu verlassen, habe sich nicht bewährt. Die Menschen seien weiterhin durch die Bars und Nachtclubs gezogen, ohne auf ihn zu hören. Mit der erneuten teilweisen Schließung der Wirtschaft gebe er praktisch zu, dass er die Wiedereröffnung zu früh veranlasst habe.
Noch geöffnet, aber wegen Überfüllung vielleicht bald geschlossen, sind einige der Intensivstationen von Arizona. Die Normalkapazität einiger Krankenhäuser ist so gut wie ausgeschöpft, man befindet sich bereits im Bereich der "surge capacity", der Überkapazität. Die Direktorin der Gesundheitsbehörde von Arizona hat deswegen die Krankenhäuser in den Krisenstand versetzt. Ab sofort kann entschieden werden, ob man Patienten noch eine Chance gibt und sie intensivmedizinisch versorgt oder nicht.
Keine Chance hatte Vizepräsident Mike Pence, einen Bezirk mit mehrheitlich demokratischen Wählern von den Vorzügen der republikanischen Partei zu überzeugen: Seine Teilnahme an einer Wahlkampfveranstaltung mit dem doppeldeutigen Titel "Faith in America" (Glaube in Amerika, An Amerika glauben) wurde vorsorglich abgesagt. Noch in der Vorwoche hatte Pence die Abhaltung von Wahlkampfveranstaltungen trotz steigender Infektionszahlen verteidigt.
"Wand der Schande" in Texas
Voller Stolz verweisen einige Einwohner Houstons im Bundesstaat Texas darauf, dass sich Hunter S. Thompson auch über ihre Stadt geäußert hat. "Houston ist eine grausame, verrückte Stadt an einem schmutzigen Fluss im Osten von Texas, die keine Bebauungspläne und eine Kultur voll von Sex, Geld und Gewalt hat", schrieb Thompson. "Es ist eine schäbige, weitläufige Metropole, die von dreisten Frauen, krummen Cops und superreichen pansexuellen Cowboys regiert wird, die nach dem Code des Westens leben - was zur Not fast alles bedeuten kann, was es soll."
Hunter Thompson konnte vermutlich nicht ahnen, dass seine nicht ganz ironisch gemeinte Diagnose über diese Stadt 15 Jahre nachdem seine Asche unter Aufsicht von Johnny Depp mittels einer Kanone abgeschossen worden war, ausgerechnet im Zuge einer Pandemie neue Nahrung erhalten würde. Denn, wenn man den Berichten der Lokalmedien glauben darf, ist der anarchische und zügellose Charakter, den Thompson der Stadt attestiert, ein Grund dafür, dass sie das Coronavirus nicht unter Kontrolle bringt.
Zwei Sport-Bars und ein Nachtclub, darunter ein "Mega Entertainment"-Lokal mit 2000 Quadratmetern Fläche, befinden sich auf der am 30.06. von Bürgermeister Sylvester Turner eingerichteten "Wand der Schande". Die drei Bars hatten gegen die von Gouverneur Greg Abbott in der vergangenen Woche erneut verhängte Schließung von Nachtclubs verstoßen. Deswegen wurden sie nun vom Bürgermeister abgemahnt und von der Alkoholbehörde von Texas mit einem einmonatigen Entzug ihrer Alkohollizenz bedacht.
Sylvester Turner, der Bürgermeister, hat die Nase voll. "Wenn Sie an einen überfüllten Ort gehen und Social Distancing nicht möglich ist, sollten Sie umkehren und hinausgehen", sagte Turner während einer Pressekonferenz an die Bewohner der Stadt. "Das ist echt. Menschen sterben, Menschen werden krank, Menschen liegen auf Intensivbetten und Menschen, die keine Symptome aufweisen, infizieren ihre Lieben. Ehrlich gesagt habe ich in dieser Hinsicht mit Ihnen meine Geduld verloren."
In Houston wurden bisher über 20.000 Infektionen und mehr als 220 Todesfälle bestätigt. 15 Prozent der Intensivfälle seien zwischen 20 und 40 Jahre alt. Für Texas insgesamt wurden 157.000 Corona-Fälle bestätigt. Etwa 6000 Patienten befinden sich wegen Covid-19 in Krankenhäusern. Fast 2500 Menschen sind an oder mit Covid-19 gestorben.
Wie in Arizona gehen auch in Texas die Intensivbetten aus. "Wir wissen nicht, wann und wie hoch die Spitze sein wird", erklärte eine leitende Mitarbeiterin des Houston Methodist Hospital gegenüber "Fox News". "Deswegen konzentrieren wir uns jetzt darauf, die Zahl der Betten, die für unsere COVID-Populationen zur Verfügung stehen, auszuweiten und andere Dienste zu reduzieren, was uns erlaubt mehr Betten hinzuzufügen." Viele, gerade auch jüngere Menschen, seien nach der Zurücknahme der Corona-Maßnahmen unvorsichtig geworden.
"Es wird sehr beunruhigend werden"
Etwa eineinhalb Dutzend US-Bundesstaaten haben ihre Lockerungsmaßnahmen angehalten oder sogar zurückgefahren. In vielen Bundesstaaten wie auch für die USA insgesamt wurden neue Höchststände der Infektionen bestätigt. Doch wie überall während dieser Pandemie vermitteln die bestätigten Fälle wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. Gemäß Analysen der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) ist die tatsächliche Fallzahl in vielen Teilen der USA mehr als zehnmal so hoch.
Der ehemalige Direktor der CDC, Dr. Tom Frieden, sagte gegenüber "Fox News", dass die frühzeitige Öffnung für den Anstieg der Infektionen im Süden der USA verantwortlich sei. Seiner Meinung nach werde sich die Situation noch wochenlang verschlimmern. Mehr Tote würden mit einer Verzögerung von etwa einem Monat auftreten.
Das Zeitfenster, in welchem die USA das Virus unter Kontrolle bringen könnten, schließe sich, warnte Gesundheitsminister Alex Azar auf dem Sender "CNN". Azar vertritt die Meinung, dass nicht die vorzeitige Öffnung der Grund für den Fallanstieg sei, sondern individuelles Fehlverhalten. "Wenn wir nicht Social Distancing praktizieren, wenn wir keine Gesichtsbedeckungen in Umgebungen verwenden, in denen Social Distancing nicht möglich ist, wenn wir keine angemessene Hygiene praktizieren, werden wir eine Ausbreitung der Krankheit sehen", so Azar.
Dass die USA mit ihrer Corona-Politik bereits gescheitert sein könnten, darauf deuteten Bemerkungen von Dr. Anthony Fauci, des Direktors des National Institute of Allergy and Infectious Diseases hin. "Wir haben offensichtlich momentan nicht die Kontrolle", warnte Fauci am 30.06. vor einem Senatsausschuss. Er wäre nicht überrascht, wenn die Fallzahlen in den USA bald bei 100.000 pro Tag lägen.
Wie genau es weitergehen werde, könne er nicht vorhersagen. "Aber es wird sehr beunruhigend werden", so Fauci, "das kann ich Ihnen garantieren."
Dr. habil. Thomas Schuster, ehem. Berater bei Roland Berger und ehem. Autor der Frankfurter Allgemeine ist Hochschullehrer für Kommunikations- und Medienwissenschaft. Seine Bücher "Staat und Medien. Über die elektronische Konditionierung der Wirklichkeit" und "Die Geldfalle. Wie Medien und Banken die Anleger zu Verlierern machen" sind bei S. Fischer und im Rowohlt Verlag erschienen.