"Dann leben wir auf einem anderen Planeten!"

Seite 2: Falsche Klimavorreiter: "Es klafft eine riesige Lücke."

Der Guardian berichtete, dass wir, wenn alle beim Klimagipfel in Glasgow gemachten Zusagen eingehalten werden, die Temperatur unter zwei Grad halten könnten. Es gibt noch eine andere Zahl, 2,7 Grad, die eine Studie, ich glaube von den Vereinten Nationen, ergab, wenn alle Staaten ihre Versprechen einhalten würden. Was halten Sie von all diesen Zahlen?

Kevin Anderson: Wir sollten zunächst einmal bedenken, dass wir heute nicht mehr in der gleichen Lage sind wie 2015 in Paris. In den letzten sechs Jahren haben wir jährlich etwa 40 Milliarden Tonnen Kohlendioxid ausgestoßen. Wir sprechen also von einer riesigen Menge an Kohlendioxid seit Paris.

Die Herausforderung ist also viel größer, und der Fokus liegt heute zudem auf der 1,5-Grad-Verpflichtung. Was der Guardian über die 1,8 oder 1,9 Grad, je nachdem, welche Studie man liest, berichtet, ist daher extrem irreführend.

Erstens wird davon ausgegangen, dass eine Regierung, wenn sie Netto-Null sagt, null meint. Das tut sie aber nicht. Wenn Regierungen Netto-Null sagen, meinen sie, dass sie in der Zukunft irgendeine Art von Technologie einsetzen werden, die es heute noch nicht gibt, um Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu entfernen. Sie wollen damit ihre Emissionen kompensieren.

Der Bestand von Autos soll mehr oder weniger gleich bleiben, nicht reduziert werden, es soll weiter geflogen werden, der Wohnungsbestand in Städten soll beibehalten werden. Wir sehen überall, dass die Staaten nicht bereit sind, ihre Emissionen auch nur annähernd so weit zu reduzieren, wie es nötig wäre.

Unsere Kinder und Kindeskinder sollen das Zuviel an Treibhausgasen kompensieren, indem sie Technologien entwickeln müssen, um unser Kohlendioxid im Jahr 2050 aus der Atmosphäre zu entfernen. Nur wenn man glaubt, dass das eine akzeptable Annahme ist, kommt man bei ungefähr 1,8 oder 1,9 Grad an. Wenn nicht, dann landet man bei drei Grad Erwärmung, wenn nicht höher.

Sie haben eine Studie veröffentlicht, in der Sie zeigen, dass selbst so genannte ehrgeizige Länder wie Schweden und Großbritannien weit hinter dem zurückbleiben, was nötig ist, um die Temperatur sogar unter zwei Grad zu halten. Erläutern Sie das.

Kevin Anderson: In der Studie haben wir das Pariser Abkommen genommen und unter Verwendung der wissenschaftlichen Daten des IPCC die Höhe des Kohlenstoffbudgets berechnet, also die globale Gesamtmenge an Kohlendioxid, die wir noch ausstoßen können. Wir haben das Kohlenstoffbudget auf die Industrie- und die Entwicklungsländer dann verteilt und errechnet, was das für Großbritannien und Schweden bedeutet. Zwei Industriestaaten also, die ziemlich klare Klimaschutzziele haben.

Dann haben wir die Emissionen, zu denen sich die Regierungen verpflichten, verglichen mit unserer Berechnung der für Paris erforderlichen Emissionsmenge. Dazwischen klafft nun eine riesige Lücke. Mit den Maßnahmen der britischen und schwedischen Regierungen kommt man letztlich auf eine Erwärmung, die bei 2,5 bis drei Grad Celsius liegt, nicht bei 1,5 bis zwei Grad.

Ein Grund dafür ist, dass der Gerechtigkeitsaspekt völlig außer Acht gelassen wurde. Die reichen Länder gehen davon aus, dass sich ihre Reduktionsraten nicht von denen der ärmeren Länder unterscheiden. Das widerspricht aber unserer Verpflichtung zu Fairness. Das geht also nicht.

Zweitens sind Pläne in hohem Maße auf die Zukunftstechnologien angewiesen, die noch nicht oder nur in sehr kleinen Pilotprojekten existieren, um in den kommenden Jahren große Mengen an Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu entfernen.

Die Kombination dieser beiden Faktoren, die Verteilungsgerechtigkeit und die Abhängigkeit von Zukunftstechnologien, haben dazu geführt, dass die nationalen Verpflichtungen das Ausmaß der tatsächlichen Reduktionsanstrengungen verschleiern. Und das bedeutet, dass wir mit diesen Angeboten eher eine Erwärmung von 2,5 bis 3 Grad erhalten.

Sie haben in Ihrer Studie die Zementproduktion und Abholzung als globale Größe angesetzt. Das ist etwas Besonderes. Ich kenne das aus keiner anderen Studie. Warum haben Sie das getan?

Kevin Anderson: Dafür gab es zwei wichtige Gründe. Unser Schwerpunkt lag auf dem Energiesektor. Es gibt da kohlenstofffreie Energieformen. Sie stehen den Industriestaaten zur Verfügung. Sie sind gut erforscht, einige davon nutzen wir bereits.

Was nun Zement angeht: Ihre Herstellung macht etwa acht Prozent der weltweiten Emissionen aus. Etwa die Hälfte stammt aus der Energie, die bei der Produktion von Zement verwendet wird. Das könnten wir jetzt kohlenstoffarm machen. Aber die anderen vier Prozent – ein sehr großer Anteil – entstehen beim chemischen Prozess der Zementherstellung. Diese Emissionen sind schwieriger zu reduzieren, es geht, aber nicht sofort.

In wohlhabenden Teilen der Welt wird nur noch wenig Zement verwendet. Denn bei uns sind die Gebäude, Infrastruktur, Kraftwerke, Straßen und Bahntrassen längst gebaut. Die ärmeren Länder müssen ihre Wasserversorgung und Abwassersysteme, ihre Bus- und Bahnstrecken sowie Gebäude noch ausbauen. Dafür brauchen sie sehr viel mehr Zement als wir. Es wäre also sehr unfair, diese Länder dafür zu bestrafen und ihre Entwicklung zu beeinträchtigen, indem sie die Emissionen für Zement allein tragen müssen.

Sinnvoll ist daher, hier von globalen Emissionen zu sprechen. Wir dürfen die Zement-Emissionen natürlich nicht ignorieren. Sie sollten überall, auch in den Entwicklungsländern schnell reduziert werden. Die reichen Länder sollten den ärmeren helfen, auf kohlenstoffarmen Zement umzusteigen. Dafür können auch Technologien wie die sogenannte CO2-Abscheidung und -Speicherung angewendet werden. Das halte ich zwar im Energiesektor für nicht ratsam, aber ich denke, dass es für Zement und Stahl sinnvoll ist.

Zement ist also eine globale Angelegenheit, die aus Gerechtigkeitsgründen gemeinsam angegangen werden muss. Das gleiche gilt beim Thema Entwaldung. In den Industriestaaten wie Großbritannien sind nur 13 Prozent der Landfläche bewaldet. Wir haben also unsere Wälder bereits gerodet, und das gibt uns genügend Land für die Landwirtschaft und so weiter. Die Emissionen bei der Entwaldung den armen Ländern allein aufzubürden, würde sie für etwas bestrafen, was wir bereits getan haben. Natürlich wollen wir nicht, dass Wälder weiter abgeholzt werden. Aber es liegt nicht nur in der Verantwortung der Entwicklungsländer, sondern auch in unserer. Es ist also eine gemeinsame Aufgabe, bei der wir helfen müssen.