"Dann leben wir auf einem anderen Planeten!"

Seite 3: "Was einige Wissenschaftler getan haben, halte ich für sehr gefährlich."

Berichte des Global Carbon Project und der Washington Post weisen auf eine riesige Lücke hin, zwischen den Emissionsangaben der Staaten bei der Uno und dem, was tatsächlich ausgestoßen wird. Was heißt das und was bedeutet es für uns?

Kevin Anderson: Wenn sie Recht haben und es diese riesige Lücke gibt, ist das ein großes Problem. Denn wir müssen immer daran denken, dass sich die Physik und der Klimawandel nicht um unsere Schönrechnereien scheren. Sie reagieren nur auf die absolute Menge der Emissionen. Wenn also Länder absichtlich falsche Zahlen nennen oder ihre Daten versehentlich unterschätzen, wird sich das Klima gemäß den tatsächlichen Emissionen weiter erwärmen. Und die politischen Maßnahmen werden nicht auf der Basis des realen Anstiegs ergriffen.

Wir müssen also sicherstellen, dass die Daten zuverlässig sind. Besonders besorgniserregend ist es, wenn es absichtliche Falschangaben sind. Ich hoffe also, dass wir die Fehler schnell erkennen und beheben. Wir brauchen exakte Zahlen, um angemessen handeln zu können.

Sie haben Ihre Kollegen dafür kritisiert, dass sie in der Öffentlichkeit nicht die volle Wahrheit sagen. Warum?

Kevin Anderson: Ich kritisiere vor allem Einzelne, nicht alle – hauptsächlich die leitenden Forscher, aber auch andere.

Sie wollen keine Namen nennen?

Kevin Anderson: Noch nicht. Nein, ich möchte sie nicht beim Namen nennen. Sie tun es oft mit guten Absichten – aber es ist nicht richtig. Privat erzählen sie mir von ihrer Arbeit, wie schlimm die Situation ist, und dann zeichnen sie in der Öffentlichkeit ein hoffnungsvolleres Bild, was ihrer Forschung aber nicht entspricht. Und manchmal ist der Unterschied zwischen diesen beiden Aussagen sehr groß.

Sie unterstützen auch Technologien in Modellen, von denen sie nicht überzeugt sind, dass sie funktionieren. Aber sie verwenden sie, um die Aufgabe leichter erscheinen zu lassen. Sie müssen dann die politischen und wirtschaftlichen Vorgaben nicht infrage stellen. Einige begründen das damit, dass das Wirtschaftsmodell nicht geändert werden kann. Deshalb müssten wir unsere Annahmen aufweichen und so darüber sprechen, dass es attraktiv wirkt.

Das mag für eine NGO, einen Imageberater oder eine politische Partei angemessen sein. Für Wissenschaftler halte ich das aber für völlig unangebracht. Unsere Aufgabe besteht darin, sorgfältig zu forschen und wenn wir uns irren – was gelegentlich vorkommt – die die Ergebnisse dem entsprechend zu ändern. Die Daten sollten klar und deutlich kommuniziert werden. Die Forschung ist nicht dafür da, NGOs oder politischen Entscheidungsträgern etwas attraktiv zu machen. Es zählen allein die wissenschaftlichen Inhalte.

Was einige Wissenschaftler getan haben, halte ich für sehr gefährlich. Es wurden Modelle entwickelt, die sich der Politik anpassten. Und je mehr Zeit verging, je schwieriger die Herausforderungen wurden, umso illusionärer wurden sie, die wissenschaftlichen Erkenntnisse kamen unter die Räder. Das erlebe ich immer wieder.

Ein Beispiel. Als ich kürzlich an einer Veranstaltung teilnahm, sagte die Vortragende: "Wissen Sie, die Lage ist schwierig, aber wir können etwas tun". Später, im Zug, schlug sie dann die Hände über den Kopf zusammen und sagte mir – entschuldigen Sie die Ausdrucksweise: "Wir sind am Arsch, wir sind total am Arsch." Ich denke nicht, dass sie diese Sprache im Seminar hätte benutzen sollen. Aber sie hätte dort die Lage adäquat schildern sollen, nicht nur mir persönlich. Wenn wir die politischen Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit falsch informieren, wie können sie dann eine Politik entwickeln, die zu den Tatsachen passt?

Prof. Kevin Anderson hat einen Lehrstuhl an der School of Engineering der Universität Manchester und am Centre for Environment and Development Studies (CEMUS) der Universität Uppsala inne. Er war zuvor Direktor des Tyndall Centre for Climate Change Research. Anderson veröffentlicht seine Forschungsberichte u.a. in Science, Nature und Nature Geosciences. Anderson berät diverse Regierungen und Behörden (EU, Großbritannien und Schweden) zu Themen wie Schiefergas, Luftfahrt und Schifffahrt bis hin zur Rolle der Klimamodellierung (IAMs), Kohlenstoffbudgets und "negativen Emissionstechnologien". Er hat Paris-konforme Kohlenstoffbudgets errechnet und Empfehlungen für das britische Klimaschutzgesetz erarbeitet. Zudem berät Anderson Greta Thunberg in wissenschaftlichen Fragen.