Dante Reloaded

Seite 2: Dante, Politik und Journalismus

Es ist aber nicht zuerst das Universale und Erhabene, das wir an Dante bemerken, vermutete der argentinische Homme des lettres Jorge Luis Borges, sondern die einfallsreiche und glückliche Erfindung genauer Einzelheiten: "Es genügt ihm nicht, dass im Dunkel des siebten Höllenkreises die Verdammten blinzeln, um ihn sehen zu können; er vergleicht sie mit einem alten Schneider, der ein Nadelöhr fixiert." Diese Bildsprache macht die Commedia noch heute so frisch und lebendig.

Überhaupt war das Mittelalter so düster nicht. Die Demokratie in Florenz, mit 100.000 Einwohnern schon damals eine Metropole, war ein komplexes Geflecht von Räten. Dort berieten sich ständig bis zu fünfhundert Bürger über städtische Angelegenheiten; zur Sicherstellung ihrer Unbestechlichkeit mussten sie alle zwei Monate neu gewählt werden.

Den Reichen, den magnati, die Geld, Waffen und Macht besaßen, den alten Familien, die manchmal bis auf die römische Aristokratie zurückgingen, war die Teilnahme an diesen Räten strengstens untersagt, und das Recht war nicht zuletzt dazu da, sie in Schach zu halten.

Dante war ja auch, was man heute einen Politiker nennt. Er war in einigen Räten von Florenz vertreten und legte Anträge zur Abstimmung vor. Er glaubte an den Kaiser, der kommen und Italien einen sollte, was aber stets misslang. Später, im Exil, war er auf die Gastfreundschaft reicher Familien angewiesen und verdiente seinen Unterhalt als Gesandter oder als Schreiber juristischer Depeschen.

Dabei blieb er dem Adel gegenüber kritisch, "nobilitas" könne nicht ererbt werden, schrieb er einmal, und edel sei, wer sich durch Ehre bewährt.

Der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch nannte Dante den ersten Journalisten, weil seine Neugierde stärker war "als sein Grauen darüber, daß er vorbeiziehen mußte an allem, was je gelebt und gesündigt hat."

Wie Kisch selbst versuchte er bei jeder Gelegenheit, Interviews zu machen und "nicht einmal davor schreckt er zurück, eine im See eingefrorene Gestalt an den Haaren zu packen, ihr ganze Büschel auszureißen und sie mit weiteren Gewalttaten zu bedrohen, falls sie ihm ihren Namen nicht nenne."

Besonders auf Lokalnachrichten aus Florenz sei er scharf gewesen. "Allenorts erkundigt er sich, ob Landsleute da seien und fragt sie nach ihrem Kriminalfall aus."

Instrumente der Sprache

Ein wenig tiefer sah der russische Dichter Osip Mandelstam, er nannte Dante einen "Intrumentenmacher der Poesie", weil er der Sprache neue Ausdruckskraft gab, Wissen aus allen Lebensbereichen einflocht, der Seefahrt, der Geografie, der Biologie, um Situationen von großer Schönheit und Einfühlsamkeit zu zeichnen.

Mandelstam wurde unter Stalin zweimal ins Gulag deportiert, die Texte Dantes, die er bei sich hatte, wurden ihm beide Male abgenommen.

Mit der verfemten Dichterin Anna Achmatova teilte er die tiefe Verbundenheit zu Dante, der auch als Ausgestoßener leben musste. Gemeinsam lasen sie ihn und wussten ganze Passagen auf Italienisch auswendig.

Wie kam Dante zu mir? Sicher ist, dass ich einmal in Rom oder Neapel auf einem Büchermarkt die große preisgünstige Ausgabe mit den Kupferstichen Gustave Dorés entdeckte und gleich zwei davon kaufte, eine für mich und eine für meinen Freund, den Dichter Ernesto Castillo.

Ein anderes Mal geschah es auf dem Flohmarkt am Mauerpark, dass ich in einem Regal seine Büste gewahrte, gipsern mit bronzenem Lack. Schon von Weitem wusste ich: Ja. Das ist es. Seitdem schaut er von meinem Bücherregal zu mir herüber.

Geliebter Dante, wie schärfte er das Denken aller Zeiten! Sei es bei Marx, der ihn als Schutzschild gegen die Vorurteile der bürgerlichen Presse vor sich hielt, bei Ezra Pound und seinem Freund T. S. Eliot, denen die Geistlosigkeit der Moderne eine Verdammnis erschien. Für Majakowski war es die Hölle, Lilia Brik fern zu sein, für Sartre die Eifersucht der anderen, für B. Traven der Heizraum seines Todesschiffes.

Die Deutschen Dante-Gesellschaft führt über 50 Übersetzerinnen und Übersetzer an, die sich die Mühe gemacht haben, die Göttliche Komödie von Dante Alighieri vollständig auf Deutsch zu übersetzen. Daneben gibt es seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auch viele Teilübersetzungen, so auch diejenigen von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling.

Der Philosoph Schelling, erst ein Studienfreund Hegels in Tübingen, dann sein Widersacher, schreibt, die Göttliche Komödie ist nicht Epos, nicht Lehrgedicht, nicht Roman, noch Komödie oder Drama, wie es Dante selbst nannte, es ist "die vollkommenste Durchdringung von allem (…) ein absolutes Individuum, nicht anderem und nur sich selbst vergleichbar".

Deshalb beginnt mit Dante die Renaissance, es tritt das Individuum auf die Bühne der Kunst, es sind reale Personen mit ihren Biografien und Eigenschaften, die zugleich Allegorie sein und sie selbst bleiben können; Vergil und Beatrice etwa stehen für die Vernunft und den Glauben, und doch stehen sie als Persönlichkeiten vor uns.

"Eben durch das schlechthin Individuelle," so Schelling, "ist Dante der Schöpfer der modernen Kunst, die ohne diese willkürliche Nothwendigkeit und nothwendige Willkür nicht gedacht werden kann."

Noch heute berührt uns Cavalcantes Schmerz im 10. Gesang des Inferno, der glaubt, sein Sohn sei tot - "Was, er sieht das süße Licht nicht mehr?!" - oder Pia de’ Tolomeis feinfühlige Bitte an Dante, er möge ihrer gedenken - "wenn du dich von der langen Reise ausgeruht hast".

Hier tritt der Mensch vor das göttliche Gebäude, in dem alle den ihnen unwiderruflich zugewiesenen Platz einnehmen. "Und in dieser unmittelbaren und bewundernden Teilnahme am Menschen," schreibt der verfolgte jüdische Dantist Erich Auerbach, "wendet sich die in der göttlichen Ordnung gegründete Unzerstörbarkeit des ganzen, geschichtlichen Menschen gegen die göttliche Ordnung, (...) der gewaltige Rahmen zerbrach durch die Übermacht der Bilder, die er umspannte."

Dante ist das Kreuzchen im Wandkalender der Menschheit an dem Tag, als sie ihren abergläubischen Minderwertigkeitskomplex überwunden hat.